Buch "Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990"

Man blieb unter sich

05:53 Minuten
Das Buchcover "Wir sind von hier" von Peter Stepan (Herausgeber) ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
Buchcover "Wir sind von hier" von Peter Stepan (Herausgeber) © Deutschlandradio / Edition Braus
Von Eva Hepper |
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1990 porträtierte der türkische Fotograf Ergun Çağatay Einwandererfamilien der ersten und zweiten Migrantengeneration. Seine beeindruckenden Einblicke in deutsch-türkische Lebenswelten erscheinen nun in Buchform, zusammen mit Essays namhafter Autoren.
Die Fotografie zeigt einen starken Kontrast: eine herzerwärmend lächelnde Familie vor der verschmutzten, grau-schwarzen Fassade ihres Mietshauses. Doch der Vater, seine drei Töchter und der Sohn verströmen eine derartige Zufriedenheit, dass sie den Dreck im Hintergrund vollkommen überstrahlen.
Das liegt gewiss nicht nur, aber sicher auch an ihrem mitabgebildeten – und offensichtlich sehr geliebten – Mercedes Benz. Die Mädchen im Kinder- und Jugendalter haben sich lässig auf der Motorhaube niedergelassen, das Familienoberhaupt steht mit dem älteren Sohn hinter der geöffneten Fahrertür.

Spannendes Reportageprojekt

Das wunderbare Familienporträt mit Statussymbol aus dem Jahr 1990 stammt von Ergun Çağatay und ist Teil eines seiner spannendsten Reportageprojekte. Kurz vor der deutschen Wiedervereinigung dokumentierte der 1937 in Izmir geborene Fotograf das türkisch-deutsche Leben in der BRD. Innerhalb von drei Monaten besuchte er Hamburg, Köln, Werl, Berlin und Duisburg und hielt in über 3500 Fotografien die Welt der ersten und zweiten Generation türkischer Migrantinnen und Migranten fest.
Nachdem das Projekt aus finanziellen Gründen stockte, sind die Bilder erst heute, zwei Jahre nach dem Tod Çağatays und 30 Jahre nach ihrem Entstehen zu sehen; in einer Wanderausstellung und deren hervorragender Begleitpublikation.

Essays ordnen die 170 Fotografien ein

Der Bildband zeigt eine Auswahl von etwa 170 Fotografien und bettet diese ein in Essays und Beiträge zahlreicher Autorinnen. So steuert die Journalistin Ferda Ataman ihre Erfahrungen als "Gastarbeiterkind" bei, und die Publizistin Necla Kelek beschreibt eine türkische Hochzeit.
Insbesondere jedoch die lange Einführung des Herausgebers und Ausstellungsinitiators Peter Stepan und eine ausführliche Chronologie zu Schlüsselereignissen liefern den Kontext zu den bestechenden Bildern.

Vielfalt türkisch-deutscher Lebenswelten

Tatsächlich fächerte Ergun Çağatay eine enorme Vielfalt türkisch-deutscher Lebenswelten auf. Er fotografierte den Arbeitsalltag in Fabriken und Geschäften, unter Tage und im Hafen, er war zu Gast bei Hochzeiten und Beschneidungsfeiern, er schlenderte durch Männercafés und Friseurläden und besuchte Moscheen und Ausländerbehörden.
Selbst die Mitglieder der Kreuzberger Gang "36 Boys" bekam er vor die Linse, und auch in einige Zuhause wurde der einfühlsame Beobachter eingeladen. Auffallend ist, dass kaum ein Motiv Deutsche und Türken gemeinsam zeigt; man blieb unter sich.
Auch fehlen auf den Bildern die Härten, mit denen Çağatays Protagonisten in einem nicht immer wohlgesonnenen Umfeld zu kämpfen hatten. Alltagsrassismus und menschenverachtende Arbeitsbedingungen, wie sie etwa Günter Wallraff als "Türke Ali" in seinem Bestseller "Ganz unten" 1985 beschrieb, kommen hier nicht vor.

Wertefreie Momentaufnahmen

Tatsächlich bietet Çağatay keine Sozialreportage im Stile einer Dorothea Lange oder eines Walker Evans. Er zeigt vielmehr eine wertfreie Momentaufnahme 30 Jahre nach dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen (30. Oktober 1961). Großartig, dass diese exzellente Publikation endlich einem großen Publikum zugänglich ist!

Peter Stepan (Hg.): "Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay"
Übersetzt von Menekşe Toprak
Edition Braus, Berlin 2021
304 Seiten, 29,95 Euro

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