Weiter kämpfen, immer weiter
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"In Zeiten des Aufruhrs wollen mehr Menschen Bücher lesen", sagt der Hongkonger Buchhändler Daniel Lee. Sein Buchladen ist 80 Quadratmeter groß und gehört zu den "Gelben Läden": Sie bieten Demonstranten Schutz, wenn die Polizei sie verprügelt.
Daniel Lee ist wütend – wütend auf das, was in seiner Heimatstadt gerade passiert. "Sie sind dabei, das Konzept 'ein Land, zwei Systeme' auf den Müll zu werfen", sagt er. "Es geht nur noch darum, dass Peking das Sagen hat."
Der 38-Jährige gehört zu den wenigen noch unabhängigen Buchhändlern und Verlegern der ehemaligen britischen Kronkolonie Hongkong. Wir treffen ihn im quirligen Viertel Mong Kok, einem Meer aus Leuchtreklamen, hupenden Lastwagen, Kosmetik- und Handygeschäften. Ein schmaler Eingang führt hoch in den siebten Stock eines verkommenen Wohnblocks. Dort liegt Lees 80 Quadatmer großer Buchladen "Hong Kong Reader". Lee beschreibt die aktuelle Situation in der Kulturszene:
Plakatwände als Ausdruck des Protests
"Die Proteste wären ganz anders ohne das Engagement der Kulturszene. Viele stellen eigenes Unterstützungsmaterial für die Bewegung her. Am wichtigsten sind wohl die Lennon Walls: Sie enthalten Nachrichten, Chroniken und werden an öffentlichen Plätzen aufgestellt, in U-Bahn-Stationen, auf Fußgängerbrücken – überall dort, wo viele Leute vorbeigehen. Da kommen künstlerisch sehr schön gestaltete Plakatwände zusammen. Sie geben außerdem Informationen, die von den Mainstream-Medien verschwiegen werden, weil sie sehr einseitig zugunsten der Regierung berichten. Die Leute berichten davon auf den Lennon Walls."
Neben der direkten Konfrontation auf der Straße findet die Kulturszene andere Formen des Widerstands gegen die Repressionen der Staatsmacht: Künstlerisch verfremdete Screenshots der Proteste; gesichtslose Demonstranten; Comics, auf denen selbst die Hunde mit Tränen in den Augen vor ihren mit Gasmasken geschützten Hundeführern kauern. Außerdem organisierte sich eine Solidaritätsbewegung, an der auch Buchläden wie Hong Kong Reader beteiligt sind.
Die Nachfrage nach Büchern ist gestiegen
"Es gibt diese allgemeine Stimmung in der Gesellschaft, Läden wie uns zu unterstützen. Sie werden Yellow Shops genannt, Gelbe Läden: Gelb ist die Farbe unserer Bewegung. Dazu gehören Cafés, Restaurants, Buchläden, die während Demonstrationen geöffnet haben und Leuten Schutz gewähren, wenn die Polizei sie verprügelt. Außerdem ist die Nachfrage nach Büchern in diesen Zeiten des Aufruhrs gestiegen. Viele wollen Bücher lesen, die sich mit Gewalt befassen, mit Autoritarismus und Totalitarismus. Einer unserer Bestseller ist zurzeit das Buch 'On Tyranny'."
"Über Tyrannei" stammt aus der Feder des renommierten US-Historikers Timothy Snyder, der an der Yale Universität lehrt. In seiner Brandschrift bricht er eine Lanze für das gedruckte Wort, für den behutsamen Umgang damit, für den Wert der Sprache für die Freiheit: "Löse dich vom Internet, lese Bücher!"
"On Tyranny" liegt in Hongkong auf Englisch und in einer kantonesischen Übersetzung vor. Daniel Lee sagt, er bekomme zurzeit noch alle Bücher, die er in seiner Buchhandlung verkaufen wolle. Doch wird Hongkongs Buchmarkt von der Obersten Verwaltungsbehörde der Volksrepublik kontrolliert. Aber noch gebe es Alternativen, sagt Daniel Lee:
"Wir bestehen weiter darauf, Bücher ohne Zensur zu verkaufen. Die Leute kommen zu unabhängigen Händlern, weil es dort keine Zensur gibt. Und so die Freiheit des Wortes und der Rede verteidigen."
Durch die monatelangen Konfrontationen zwischen Staatsmacht und Demonstranten haben nicht nur Tourismus und Wirtschaft Hongkongs gelitten. Auch Daniel Lee wie alle unabhängigen Buchbehändler bekommen den Druck zu spüren:
Festlandchinesen halten Hongkong für unsicher
"Vor der Bewegung hatten wir zwischen 10 und 20 Prozent Kunden aus Festlandchina. Das hat sich geändert. Viele Festlandchinesen halten Hongkong für unsicher. Und ich weiß, dass Kontrollen und Zensur bei der Rückreise deutlich strikter sind. Daher kaufen viele Festlandchinesen keine Bücher mehr in Hongkong. Gleichzeitig haben wir steigende Verkaufszahlen. Unsere Leser in Hongkong gleichen dies also mehr als aus. Was man nicht erwarten würde: In Zeiten des Aufruhrs wollen mehr Menschen Bücher lesen. Die Leute wollen mehr lesen, dazulernen über Politik, die soziale Situation und dergleichen. Das ist kein Aufwachen. Wir Hongkonger sind seit Jahren hellwach. Aber jetzt finden wir endlich die Kraft und die Kontakte zu anderen Leuten, um für Demokratie und Freiheit aufzustehen und auf die Straße zu gehen."
Dass es dennoch ein fast aussichtloser Kampf zu sein scheint, befürchtet auch Buchhändler Lee. Zu groß sei die Übermacht Chinas, eine Bedrohung, die vielen Hongkongern im Jahr 30 nach dem Tiaˈnanmen Massaker in Peking wie ein Menetekel erscheint. Daniel Lee macht sich da keine Illusionen:
"Ich denke, die Unterdrückung wird sich nur verstärken. Wir werden wohl nicht die gleiche Freiheit genießen wie heute - Redefreiheit. Sie werden versuchen, Internet und Medien zu kontrollieren oder abzuschalten. In den Schulen wird darauf geachtet werden, dass Schulbücher und Unterricht den Vorgaben der Regierung entsprechen. Alles wird sich so ähnlich wie auf dem Festland abspielen. Gesellschaftlich wird der Widerstand fortdauern. Hong Kong Reader wird hoffentlich noch existieren, aber vielleicht anders. Wir werden wohl nicht mehr alle die Bücher haben können, die wir verkaufen wollen, weil wir sie nicht mehr beschaffen können."
Die Menschen in Hongkong werden nicht aufgeben
Die Menschen in Hongkong werden nicht aufgeben, da ist sich Daniel Lee sicher. Und unabhängige Bucherhändler wie er werden darauf bestehen, unzensiert Bücher zu verkaufen. Und dann schließt Daniel Lee mit einem verstörenden Statement:
"Solange wir keine Demokratie haben, wird die Bewegung weitermachen. Es wird in jedem Fall so lange weitergehen, bis wir erreichen, was wir wollen. Oder sie haben uns alle umgebracht."