Buchkritik

Paulus-Brief in größeren Brocken

Von Stefanie Oswalt |
Der Apostel Paulus gilt gemeinhin als der erste christliche Theologe. Seine Briefe an die ersten christlichen Gemeinden, wie sie im Neuen Testament erhalten sind, sind Grunddokumente einer eigenständigen christlichen Religion. Christian Lehnert, Theologe und vielfach preisgekrönter Lyriker, hat einen Essay veröffentlicht, in dem er Paulus' ersten Brief an die Korinther neu liest.
Christian Lehnert: "Meine Vorstellung war schon immer, einen Kommentar zu schreiben, der sowohl eigene existenzielle Glaubenserfahrungen, Blicke aufs Leben verbindet mit der Lektüre von Bibel, dann aber in einem wissenschaftlich genauen Sinn auch."
Nun hat Lehnert, wie der Titel seines neuen Buches nahe legt, den ersten Korinther Brief des Apostels Paulus in größere "Brocken" zerschlagen. Die arbeitet er kapitelweise durch und gewinnt so einen neuen Blick auf Paulus:
Christian Lehnert: "Dieses Offenbarungserlebnis von Damaskus, was ihn verändert hat, und wie er sein ganzes Leben und seine ganze Existenz neu buchstabiert aus so einer Erfahrung, die nicht sinnlich untermauert ist, das ist etwas, das mich schon immer interessiert hat, weil sich das, glaube ich, ganz tief mit unserer heutigen religiösen Situation verbindet und damit korrespondiert. - Diese Form zu Glauben im Zustand erfahrener Gottesabwesenheit."
"Christus, das war für ihn vermutlich - er erzählte ja nichts davon - ein grelles Licht, dem tagelange Blindheit folgte. Dieses Licht war abstrakt: die völlige Abwesenheit von Eindrücken bei gleichzeitiger, explosiver Bedeutungsdichte."

Paulus als Suchender
Lehnert zeigt Paulus als Suchenden, der in seinem Korinther-Brief darum ringt, das ungeheuerliche Gotteserlebnis in Worte zu kleiden - und damit immer wieder scheitert. Großartig, wie Lehnert Worten aus dem Hebräischen und Griechischen nachspürt und dabei zeigt, wie Paulus sich um neue Begriffe und Bedeutungen bemüht -"apostolos" zum Beispiel:
"Das Wort Apostel ist in der Weise, wie es Paulus versteht, genuin christlich. Das heißt: neu, fremdartig...Apostel - das heißt zunächst: Ich bin nichts, was ihr kennt. Kein Prophet, kein Philosoph, kein Weiser, kein Lehrer, kein Jünger, keine Amtsperson und kein Funktionär, kein Repräsentant, kein Delegierter, kein Würdenträger...Apostel - das heißt, so mein erster Übersetzungsversuch: der Entlassene. Jemand ist aus einer Gottesbegegnung entlassen."
Lehnert gelingt es, dem Leser die Augen zu öffnen für das erschütternd Neue, das Paulus seinen Zeitgenossen mitteilt. Gleichzeitig öffnet er den Text für Bezüge zu Paul Celan, Primo Levi oder Friedrich Nietzsche.
Christian Lehnert: "Ich beginne ja dann zunehmend auch, eigene Lebensgeschichten hineinzuschreiben und diese Interferenz zwischen dem, was ich selbst erlebt habe, und der Lektüre von biblischen Texten, wo eins das andere wiederum erhellt, das wird ja im Buch immer stärker und wesentlicher."
Lehnert lauscht der Resonanz des Korintherbriefs in seinem Leben nach - etwa beim Besuch heiliger Stätten in Rom und Jerusalem, oder bei existenziellen Erlebnissen als Bausoldat in der DDR - und er ermutigt den Leser, es ebenso zu tun. Vieles erschließt sich nicht auf den ersten Blick - durchaus eine Absicht des Autors. In der Moderne, so Lehnert, gehe es auch darum, wieder zu lernen:
Christian Lehnert: "Dass nicht alle Dinge für jeden gleichermaßen zugänglich sind, sondern dass es zum Beispiel eine Wegstrecke braucht, bis man etwas versteht... Religion hat zu tun mit Dingen, die nicht sofort für jedermann offen liegen, sondern die einen inneren Weg bedürfen, innere Vorbereitung und eine innere Veränderung."
Nicht umsonst habe bei vielen Kulten in der Antike, aber eben auch beim Urchristentum die sogenannte "Arkandisziplin" bestanden - ein Schweigegebot über die tiefsten Glaubensinhalte.
Schere zwischen Hörerwartungen und der Komplexität des Glaubens
"Das Schweigegebot in den urchristlichen Gemeinden hatte nicht zum Ziel, etwas zu verstecken, sondern etwas zu schützen, vor der Sprache selbst zu schützen.(...) Wenn heute Kirchenleute aller Konfessionen geradezu zwanghaft die mediale Präsenz suchen, verletzen sie diese Regung der Scham, sie treten die formscheue Ahnung des nahenden, des bedrohlich-tröstenden Gottes in vereinfachenden und jedermann verständlichen Sätzen breit."
Bediene etwa eine Predigt nur Hörerwartungen der Gemeinde, entziehe sie sich letztlich der Komplexität des Glaubens, komme über Oberflächliches nicht hinaus, erklärt der Theologe.
Christian Lehnert: "Denn in dem Moment, wo ich verständlich bin, wiederhole ich ja nur das, was die Leute ohnehin schon wissen, dann gebe ich Muster wieder, dann bewege ich mich in ganz vorgefertigten sprachlichen Bahnen, dann ist eine Predigt zwar vertraut, aber langweilig, und Leute, die von außen hinkommen, denken: Oh, das ist ja eine geistige Ödnis."
Vor geistiger Ödnis braucht sich der Leser in Lehnerts korinthischem Geröllfeld hingegen nicht zu fürchten. Eher vor den Zumutungen des Christentums, dem Unbequemen:
"Das Kreuz führt zwangsläufig in Widersprüche, die sich nicht auflösen lassen. Paulus gerät, wie seine Leser, in einen Riß im Verstehen, und er sucht Halt bei der sophia.( - der Weisheit....) Das Wesen der sophia ist eine Bewegung ins Offene. Sie geht als ein Luftzug - wie der Wind einem fernen Unterdruck folgt und einströmt ins Land, Kühle im Gefolge, rauschendes Laub oder Lichtspiegelungen über warmen Steinen."
Christian Lehnert: "Das ist ja ein großes Missverständnis oder eine große innere Gefährdung, wenn man sagt, Christentum wäre etwas, was das Leben harmonisiert, was einem gut tut, was gesund ist, was einen glücklich macht. Das sind ja alles Dinge, die nur ganz bedingt stimmen. Das Christentum wirft ja, wenn man eine gläubige Existenz führt, mehr Fragen auf, als es Antworten bietet."

Christian Lehnert: Korinthische Brocken. Ein Essay über Paulus
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
282 Seiten, 22, 95 Euro