Asli Erdoğan: "Requiem für eine verlorene Stadt"
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Lauter Schmerz, leiser Widerstand
05:37 Minuten
Aslı Erdoğan
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Requiem für eine verlorene StadtPenguin Verlag, München 2022128 Seiten
22,00 Euro
Ihr Fall beherrschte lange die Debatten um Pressefreiheit in der Türkei: Die Journalistin Aslı Erdoğan saß dort wegen ihrer Arbeit in einem Gefängnis. Ihr "Requiem für eine verlorene Stadt" versammelt poetische Nachtgedanken, in denen Widerstand anklingt.
Aslı Erdoğan gehört zu den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die Kurzgeschichten, Essays, Romane veröffentlichen, die zusammen ein großes Lebensbuch bilden. Weil sie autobiografisch oder autofiktional erzählen, aber vor allem, weil sie von immer wiederkehrenden Motiven, Themen und Bildern geführt oder getrieben werden.
Chronologisch steht “Requiem für eine verlorene Stadt” genau in der Mitte von Erdoğans Schreibkarriere: 2005 erschien das Buch in der Türkei, 2021 dann überarbeitet in einer französischen Übersetzung, die auch die Grundlage für die deutsche Fassung von Gerhard Meier ist und die wiederum von der Autorin noch einmal durchgesehen wurde.
Assoziativ und poetisch
Die assoziative Form des Textes erlaubt es Erdoğan, das Buch zu erweitern und zu kürzen, umzuformen und zu schleifen, ohne die innere Spannung zu verletzen. Wir folgen einer Frau – trotz des Titels nicht unbedingt bei ihrem Weg durch eine Stadt – durch Erinnerungen, Träume und Schmerz.
Es ist ein Nachtbuch, mit vielen Ausflügen in unterschiedliche Dunkel: “Der Regen verlässt die Dächer auf Zehenspitzen; Katzen, Engel und Diebe machen sich einer nach dem anderen davon.” Oder: "Manchmal passen zwei Herzen so gut zusammen, dass sogar Gott neidisch wird. Dann bringt er das eine oder das andere Herz zum Schweigen und hält beiden einen Spiegel vor."
Auch wegen solcher Zeilen lässt sich, so zitiert das knappe, aber informative Nachwort des Journalisten Gerrit Wustmann den Rat der Autorin, dieses Buch wie ein Lyrikband lesen, auch kreuz und quer. Ganz zufällig sind die Bruchstücke aber nicht angeordnet. Das Buch beginnt mit einer Schöpfungsszene, bei der Erdoğan an den Anfang das Licht, das Wort und das Herz setzt, und damit ihre drei Berufe als Teilchenphysikerin, Schriftstellerin und Aktivistin in Einklang bringt. Gegen Ende enthüllt sich das Buch dann auch als Trauergeschichte.
Trauer um eine Gesellschaft
Ursprünglich hieß das Buch: “Die Stille des Lebens”, jetzt: “Requiem für eine verlorene Stadt” – schon das zeigt, dass hier nicht nur um einen konkreten Menschen getrauert wird. Repression, Zensur und brutale Gewalt sind in der Türkei seit 2005 nur noch gravierender geworden, und das alles in einem zunehmend autoritär und antisäkular ausgerichteten Staat. Nicht zuletzt Erdoğans eigene Biografie zeigt das. Als Nichtkurdin unterstützt sie den kurdischen Befreiungskampf und schrieb für eine kurdische Tageszeitung, als sie nach dem gescheiterten Coup gegen die AKP 2016 verhaftet wurde.
Die vier Monate in Haft hat sie in “Das Haus am Stein” beschrieben, ein tagebuchartiges Schwesternwerk zum “Requiem”. Seit 2017 lebt sie im Frankfurter Exil, nominell ist sie freigesprochen, bei einer Rückkehr droht aber ein neuer Prozess.
Die verlorene Stadt ist trotzdem nicht nur Istanbul, das hier vor allem in neu hinzugefügten Passagen zum Stadtteil Galata auftaucht, sondern auch die griechische Unterwelt und die Höllenstadt bei Dante. Es ist gerade die mythologische Überhöhung, die dem Buch seine politische Stoßrichtung gibt: “Wir, die getöteten, bei filigranen Verbrechen zerfetzten Frauen der Stadt, sind im Keller des herrlichen Palastes versammelt, wie trunken tanzende Engel, denen es nicht gelingt, ihre Flügel zu entfalten.”
Eine Frau, die für die Freiheit lebt
Bekanntlich ist das aktuell im Iran gerufene “Jin, Jiyan, Azadî” ein kurdischer Kampfruf aus dem Umfeld der PKK, für deren vermeintliche Unterstützung Erdoğan im Gefängnis landete und die auch in Deutschland weiterhin verboten ist. Diese politischen Tiefendimensionen können leicht überlesen werden, weil Erdoğans Bilder so schmerzhaft betörend sind.
Aber 2005 hat Erdoğan schon gespürt, dass sie die Freiheit wohl verlieren und dann nie wieder ganz zurückgewinnen würde. So strahlt das Buch nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft – Botschaften nicht nur an eine verlorene Liebe, sondern auch an andere Ichs, von einer Frau, die für die Freiheit lebt.