Reportagen von Navid Kermani

Dem Schrecken begegnen - eine Reise durch Ostafrika

Buchcover von Navid Kermani: "In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika". C.H. Beck München 2024
© Verlag C.H. Beck

Navid Kermani

In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch OstafrikaC.H. Beck, München 2024

272 Seiten

26,00 Euro

Von Günther Wessel |
Von 2022 bis 2024 reiste Navid Kermani durch Ostafrika, vom Süden Madagaskars bis in die Nuba-Berge im Sudan. Seine Reportagen von dort erzählen vor allem von der schmerzvollen Geschichte der Region, zeigen aber auch, dass sie mehr ist als nur Krieg.
Navid Kermani, Romancier, Journalist und Islamwissenschaftler, reist gern. Und zwar in Länder, die andere Menschen eher meiden, in Krisengebiete. 2022 bis 2024 war er in Ostafrika unterwegs. Seine bewegenden Reportagen von dort sind nun erweitert in Buchform erschienen. „In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika“, heißt der Band.
Darin erzählt er unter anderem von seinen Eindrücken, Erlebnissen und Begegnungen in Madagaskar, Mosambik, Tansania, Kenia, Äthiopien, auf den Komoren und im Sudan.

Dürre in Madagaskar

Der Süden Madagaskars erlebt eine der schlimmsten Dürren – ausgelöst, so das UN-Welternährungsprogramm, vom Klimawandel. Die Menschen schleppen von weither Wasser herbei, sie hungern und suchen nach Alternativen. Ein Fischer berichtet, dass immer mehr Menschen fischen würden. Allerdings ohne das notwendige Wissen, sie zerstörten dadurch die Korallenriffe, in denen die Jungfische aufwachsen.
Kermani zitiert den Fischer ausführlich. Das ist das Grundprinzip seiner Reportagen. Er spricht - das mag ein Manko sein - wenig mit Experten, sondern sucht die Menschen, nimmt sie ernst, beobachtet genau, nie voyeuristisch, immer mitfühlend, und erzählt so von ihrem Alltag. Der Schriftsteller spürt dem fremden Leben nach und vergisst dabei nie seine eigenen Privilegien.

Kriege in Äthiopien

Mitunter ist Kermani so hautnah dran, dass seine Berichte schmerzen, etwa wenn er beschreibt, wie ein Kind qualvoll an Hunger stirbt. Kaum auszuhalten. Genauso wenn den Opfern des Krieges im Norden Äthiopien begegnet: Frauen, die mit Säure attackiert und missbraucht wurden, Kinder, die Massaker miterlebten oder ein Mädchen, dessen Bein von oben bis unten mit einem Messer aufgeschlitzt wurde.
Woher kommt diese rohe Gewalt, wie entsteht sie, wie geht man in einem brüchigen Frieden damit um, mit der halben Million Toten, die meisten davon Zivilisten? Es gibt keine Antwort, nur ein Weiterleben, konstatiert der Autor – auch die orthodoxe Kirche, die ihn mit ihren Ritualen verzaubert, weiß keine.

Multiple Ursachen

Wer klare, eindeutige Antworten für die Misere der ostafrikanischen Länder sucht, wird in Kermanis Buch nicht fündig – was unbefriedigend sein kann. Aber er spricht einige Gründe an: Natürlich trägt der europäische Kolonialismus einen Großteil Schuld mit seiner brutalen Zerschlagung der lokalen Strukturen und dem schieren Ausmaß an Gewalt.
Natürlich ist die lokale Korruption beteiligt, natürlich destabilisieren der von Saudi-Arabien gefördert Wahhabismus und der "Islamische Staat" die Region, und natürlich haben bestimmte Länder geopolitische und weltweit agierende Unternehmen wirtschaftliche Interessen: Bodenschätze wie Erdgas werden daher schnell zum Fluch. 

Musik macht Hoffnung

Hoffnung vermittelt dem Autor die Kultur. Auf Madagaskar spricht, so erzählen es die Menschen, Musik ihnen Mut zu, sie erzählt von der Not, aber auch von der Schönheit und dem Reichtum der Kultur, und der äthiopische Jazzmusiker Mulato Astatke glaubt fest daran, dass Musik die Völker Äthiopiens vereinigen kann. Sein Jazz habe keine Ethnie, sein Jazz sei ganz Äthiopien.
Kermani zeigt mit seinem eindrucksvollen wie erschütternden Bericht, dass Ostafrika mehr als Krieg, Klimakrise oder Kolonialismus ist. Ihn begeistern die Menschen, ihre innere Schönheit, ihre Gelassenheit, ihre Duldsamkeit und ihre Gastfreundschaft. Auch die wundervolle Landschaft. Doch all das sei, so Kermani, Stoff für ein anderes Buch.
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