"Selbst schuld"

Allein gelassen von der Gesellschaft

05:26 Minuten
Buchcover von Selbst Schuld!. Der Titel steht in großen blauen Lettern auf lachsfarbenem Hintergrund.
© Hanser Verlag
Selbst schuld!Hanser Verlag, Hamburg 2024

256 Seiten

22,00 Euro

Von Andrea Gerk |
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Man ist für alles selbst verantwortlich - das ist eine Grundideologien unserer Zeit. Aber stimmt das? Dieser Frage geht ein von Ann-Kristin Tlusty und Wolfgang M. Schmitt herausgegebener Sammelband nach und bietet überraschende wie kluge Antworten.
Ob es um Krankheiten oder den Klimawandel geht, um Armut oder auch um sexualisierte Gewalt – an den meisten Missständen, die uns treffen, scheinen wir selbst schuld zu sein: Wer krank wird, hat nicht genug für seine Gesundheit getan, wer arm und/oder arbeitslos ist, hat sich wahrscheinlich nicht genug angestrengt und wenn Frauen sexuell belästigt werden, haben sie sich wahrscheinlich zu einladend gekleidet oder verhalten. Solche Stereotypen nimmt sich der Sammelband „Selbst schuld!“ vor, den die Journalistin Ann-Kristin Tlusty und der Autor und Podcaster Wolfgang M. Schmitt herausgegeben haben.

Von gesellschaftlichen Missständen ablenken

In 13 persönlichen Essays zu unterschiedlichen Bereichen wie Bildung, Gesundheit oder auch innerhalb der Familie zeigen die Autorinnen und Autoren wie derart individualisierte Schuldzuweisungen dazu dienen, von größeren Zusammenhängen wegzuführen und damit von eigentlich gesellschaftlichen Missständen und politischen Verantwortlichkeiten abzulenken.
So argumentiert der Schriftsteller Christian Baron, der mit seinem autofiktionalen Roman „Ein Mann seiner Klasse“ bekannt wurde und sich der Herkunft jetzt auch hier annimmt, dass es keine Rolle spielen dürfe, „ob jemand schuld ist an seiner Armut oder nicht. Ein Rechtsstaat, der diesen Namen verdient, schert sich nicht um solche Moralismen. Er garantiert jedem Menschen ein würdiges Leben.“

Dreizehn sehr persönliche Essays

Der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani verweist in seinem Text über „Soziale Ungleichheit“ darauf, wie der Mechanismus der individuellen Schuldzuschreibung zur Entsolidarisierung führt. Özge Inan legt in ihrem Beitrag über „Sexualisierte Gewalt“ dar, dass der Reflex vieler Opfer, bei sich eine Mitschuld zu suchen, zwar psychologisch als Bewältigungsstrategie sinnvoll ist („Selbstvorwurf-Mechanismus“), aber fatale Folgen für die juristischen Aufarbeitung haben kann, da sie einer Bestrafung des Täters im Weg stehen kann.
Eher autofiktional als essayistisch nähert sich die Schriftstellerin Anke Stelling dem Thema „Schuld“, in dem sie sich zunächst daran erinnert, wie sie als argloses Kind aus dem Dorfbach Forellen heimbrachte, um sie als Haustiere zu halten. Nachdem die empörte Mutter die Fische in der Toilette entsorgt hatte, fühlte sich die Achtjährige bis in den Schlaf schuldig am Tod der Tiere: „Etwas auf dem Gewissen haben heißt, Schuld zu sein an dessen Tod. Es steckt Wissen in dem Wort 'Gewissen', denn das Wissen die Grenze ist zwischen aus Versehen und mit Absicht.“

Eine grundsätzlichere und historische Analyse fehlt

Etwas mehr von derart grundsätzlichen Überlegungen zum Thema Schuld hätten diesem ansonsten vielschichtigen und engagierten Sammelband zu mehr Tiefe und Komplexität verhelfen können. Denn so zutreffend es ist, dass die Schuldfrage – wie die Herausgeber in ihrem Vorwort anmerken – zu einer der vorherrschenden Ideologien unserer Zeit geworden ist und nahezu alle Lebensbereiche durchdringt, ist der Begriff „Schuld“ als religiöse und moralische Kategorie schon seit Jahrtausenden wirksam.
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