Steven Vertovec: „Superdiversität“

Ein komplexer Blick auf eine komplexe Welt

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Buchcover mit der Aufschrift: Superdiversität. Migration und soziale Komplexität.
© Suhrkamp

Steven Vertovec

Superdiversität. Migration und soziale KomplexitätSuhrkamp, Berlin 2024

364 Seiten

32,00 Euro

Von Jens Balzer · 19.07.2024
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Im Buch "Superdiversität" beschreibt Steven Vertovec, wie die globale Migration die Gesellschaften verändert, und plädiert für ein neues Verständnis von Diversität.
Die Gesellschaften werden immer vielfältiger, sie werden immer diverser. Die Globalisierung der vergangenen 30 Jahre hat nicht zuletzt zu globalen Migrationsströmen geführt. Immer mehr Menschen leben in Ländern, in denen sie nicht geboren wurden, oder sind durch ihre Familiengeschichten mit anderen Ländern verbunden, und sie verlassen ihre Heimat aus den unterschiedlichsten Gründen, um an den unterschiedlichsten Orten ein neues Leben zu führen.
Migration hat es natürlich schon immer gegeben. Sie zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Doch im 21. Jahrhundert hat sie eine neue Qualität angenommen: Das ist die These, die der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Steven Vertovec in seinem Buch „Superdiversität“ vertritt.

Gegen den Multikulturalismus

Wenn man das Wesen moderner, von Migration geprägter Gesellschaften verstehen will, so seine These, braucht man ein Verständnis ihrer enorm gewachsenen Komplexität. Dazu müsse man sich vor allem vom Begriff des Multikulturalismus verabschieden, der sich in den 1980ern etablierte, um das Neben- und Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft in einem Staatswesen zu beschreiben.
Wer „multikulti“ sagt, so Vertovec, geht dabei von in sich geschlossenen Gruppen aus, die ethnisch definiert sind. Also um ein Beispiel aus Deutschland zu nehmen: Es gibt eine Gruppe von türkeistämmigen Menschen, die als „Gastarbeiter“ nach Deutschland eingewandert sind und hier auch in der dritten und vierten Generation immer noch als „Deutschtürken“ wahrgenommen werden.
Dieser „Gruppismus“, so Vertovec, geht aber am Wesen der gegenwärtigen Migration vorbei: Menschen wandern nicht nur – wie die ersten „Gastarbeiter“ – als billige Arbeitsmigranten ein oder als Geflüchtete, sondern auch als Studierende, als hoch qualifizierte Fachkräfte.
Sie haben die unterschiedlichsten politischen und religiösen Überzeugungen und sexuellen Orientierungen. Es kann sich um alleinstehende männliche Geflüchtete handeln, um Familien, um alleinerziehende Frauen: Migranten sind divers, und sie wandern in hoch diversifizierte Gesellschaften ein, in denen die Menschen sich ihrerseits nicht mehr nur ethnisch definieren, sondern wiederum unterschiedliche Vorstellungen von ihrer Identität und ihren Lebensentwürfen haben. Und was daraus folgt, das sind Gesellschaften, die man als „superdivers“ bezeichnen kann.

Gegen Essenzialismus und Identitätspolitik

Das ist zunächst alles einleuchtend, und Vertovec belegt seinen Befund mit Unmengen von statistischem Material - was allerdings nicht unbedingt zur Lesbarkeit seines Buches beiträgt.
Auch ist sein Plädoyer für einen komplexen Blick auf Migrationsprozesse und die Verfasstheit moderner Gesellschaften unbedingt wohltuend in einer Debattenlage, die vielfach eher vom Wunsch nach Komplexitätsreduktion bestimmt ist und von dem Bedürfnis, Menschen wieder einfachen Vorstellungen von Identität zuzuordnen: sei es auf der Seite der Rechtspopulisten, die von einem homogenen Volkskörper träumen, sei es auf der Seite der linken Identitätspolitik, die Menschen gerne in Schwarz und Weiß unterteilt oder generell in Gruppen von Menschen, die durch ihre Herkunft definiert werden - oder durch ihren Opferstatus. Steven Vertovec argumentiert leidenschaftlich gegen alle Arten des „Essenzialismus“, der Identitäten als fest und nicht wandelbar begreift.

Verwechslung von wissenschaftlicher Analyse und politischer Utopie

Die Schwäche seines Buches liegt nun allerdings darin, dass er nicht zu erklären vermag, warum gerade in superdiversen Gesellschaften offenkundig wieder der Wunsch danach wächst, sich festen Identitäten und klar umrissenen Gruppen von Menschen zuzuordnen; warum etwa religiös fundierte Identitätsbildung – Stichwort: politischer Islam – heute auch in westlichen, eigentlich säkularisierten Gesellschaften wieder einen weit höheren Stellenwert genießt als noch in den Achtzigerjahren.
Offenkundig fühlen sich viele Menschen in superdiversen Gesellschaften mit dieser Superdiversität nicht wohl, und nicht jeder begreift sich mit Wohlbehagen als fluides Subjekt, das sich ständig in neue Richtungen entwirft. Das ist Vertovecs Utopie, hier aber verwechselt er die eigene Euphorie für sein begriffliches Instrumentarium mit der Realität. In dieser wird die wachsende Komplexität und Diversität der Verhältnisse begleitet von wachsenden Wünschen nach Rückvergewisserung in Herkunft und Identität.
Ein komplexes Bild der gesellschaftlichen Komplexität kann nur ein dialektisches sein. Es müsste zu erläutern verstehen, warum Menschen die Auflösung fester Identitäten gleichermaßen als Befreiung und als Bedrohung empfinden können. In dieser Hinsicht bleibt Steven Vertovecs grundsätzlich lesenswerte Analyse leider unterkomplex.
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