Bewährungsprobe für die Literaturstadt Lemberg
Im westukrainischen Lemberg ist die 24. internationale Buchmesse zu Ende gegangen – begleitet von einem großen Literaturfestival. Jetzt folgt eine internationale Tagung des PEN. Wie läuft das in einem Land ab, in dessen Osten die Waffenruhe weiter brüchig ist?
Frank Meyer: Die Ukraine ist nach wie vor kein normales Land, mit der brüchigen Waffenruhe im Osten des Landes, mit der von Russland besetzten Krim. Wie sieht unter diesen Umständen eine Buchmesse und ein internationales Treffen der Autorenvereinigung PEN in der Ukraine aus? Das schauen wir uns an mit meinem Kollegen Martin Sander, er ist in der Ukraine. Herr Sander, die Buchmesse hat in Lemberg stattgefunden und Lemberg wurde von der Unesco zur Unesco-Literaturstadt ernannt. Was macht denn Lemberg zu einer Literaturstadt?
Martin Sander: Diesen Titel trägt man schon seit 2015 und nun ist die erste große Bewährungsprobe. Ja, Unesco-Literaturstadt und Schutz der Literatur, das ist natürlich die Klassik dieser Region, noch aus österreich-ungarischer Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ich erwähne ja nur einen deutschsprachigen Autor, Leopold von Sacher-Masoch, er hat viele Romane und Geschichten aus dem österreichischen Galizien geschrieben, aber er ist uns eher bekannt als derjenige, der für den Begriff des Masochismus steht.
Aber Galizien, Lemberg/Lwiw gehörte ja zwischen den Weltkriegen auch zu Polen. Da gibt es den berühmten Science-Fiction-Schriftsteller Stanislaw Lem, der sich selber nicht gerne als Science-Fiction-Autor betrachtete, eher als Philosoph, "Solaris" und andere Romane. Und der wurde in Lemberg geboren und er hat dort auch den Krieg als Pole mit jüdischen Wurzeln überlebt. Und da hat man jetzt im Rahmen der Unesco-Literaturstadt beispielsweise ein altes Straßenbahndepot als Lem Station hergerichtet, das ist eines der Kulturzentren. Das heißt, man bemüht sich um die literarische Tradition.
Aber andererseits, zur literarischen Tradition der Westukraine und Lembergs/Lwiws gehören ja auch solche Autoren wie der in Deutschland recht bekannte Jurij Andruchowytsch, der auch so eine Art Patron der diesjährigen Buchmesse wie der vorigen in den vergangenen 24 Jahren war.
"Buchmesse in Lemberg ist die bedeutendste der Ukraine"
Meyer: Und die Buchmesse jetzt, was ist das für eine Messe? Was für eine Rolle spielt die in dem Land, wer kommt dort überhaupt hin?
Sander: Da kommen viele Literaturinteressierte und natürlich Verleger und Wissenschaftler. Es ist so, diese Buchmesse in Lemberg ist die bedeutendste der Ukraine. Es gibt noch eine andere in Kiew, da geht es aber hauptsächlich oder fast ausschließlich um Lizenzhandel. In Lemberg oder Lwiw, in der Westukraine, da geht es um den Lizenzhandel, da geht es aber auch um einen großen Buchbasar. Es gibt ja immer noch Schwierigkeiten im Buchhandel, an Bücher zu kommen. Das heißt, da nutzen viele, viele Menschen auch die Gelegenheit, einfach Bücher zu kaufen. Und es ist vor allen Dingen das große ukrainische Literaturfestival mit über 900 Autoren in den vergangenen Tagen gewesen.
Dazu muss man sagen: Der ganz große Teil ist ukrainische Literatur, das sind Autoren, die wir zum Teil abgesehen von den großen Namen, ich erwähnte Jurij Andruchowytsch oder Serhij Zhadan und einige andere, die wir in Deutschland kennen, aber auch viele unbekannte, viele neue Autoren werden hier entdeckt. Aber es gibt eben auch internationale Aspekte, zum Beispiel Meridian Czernowitz, das ist ein Festival, das immer kurz vor der Buchmesse in Czernowitz südlich von Lemberg stattfindet und das sich dann auf die Buchmesse verlagert.
Und da ist zum Beispiel auch ein bedeutender deutscher Lyriker und Autor überhaupt, Jan Wagner, der ja mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde in diesem Jahr, der ist auch aufgetreten und dessen Bücher sind auch jetzt ins Ukrainische übersetzt worden oder werden übersetzt. Also, es gibt diesen ukrainischen, den Buchhandelsaspekt, es gibt den Basar und es gibt vor allen Dingen das große Literaturfestival.
"Viele Hundert Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt"
Meyer: Das habe ich ja vorhin schon gesagt, Herr Sander, die Ukraine ist ja nach wie vor ein Land in einer besonderen Situation, ja jetzt schon mehrere Jahre mit dem stillgestellten Krieg im Osten des Landes, mit der besetzten Ukraine, mit den Spannungen mit dem großen Nachbarn Russland. Welche Rolle spielt so was auf der Messe? So, wie Sie es bisher geschildert haben, klingt das ja, als sei das mehr oder weniger eine ganz normale Buchmesse!
Sander: Ist ja auch eine sehr subjektive Wahrnehmung. Man muss ja sagen, man ist ja viele Hundert Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt. Würden wir das Gespräch aus Tel Aviv führen, dann wären wir viel näher am Krieg. Es gibt eine gewisse Distanz, habe ich den Eindruck, oder vielleicht negativ formuliert, auch sarkastisch: eine gewisse Gewöhnung. Der Alltag strahlt nichts von Krieg und Konfliktsituation aus.
In den Büchern, in den Diskussionen merkt man schon einiges, vor allen Dingen dort, wo Historisches verhandelt wird, wo Bücher über ukrainische Geschichte präsentiert werden. Da ist mir schon aufgefallen, wie da manchmal auch in den Sälen geschrien wird gegeneinander, Podiumszuhörer. Und das ist natürlich etwas, woran man merkt: Das ist etwas Besonderes, diese ganze Politik und Geschichte der Ukraine ist sehr umstritten, obwohl die Bücher, die da vorgestellt werden, natürlich in eine ganz unterschiedliche Richtung gehen.
Und dann ist, was den Krieg in der Ukraine, was die Besetzung der Ukraine durch prorussische Separatisten angeht, natürlich auch das Thema Meinungsfreiheit auf der Buchmesse präsent gewesen. Und da hat man sich in einer Extraveranstaltung damit beschäftigt, dass ukrainische Journalisten von russischen Gerichten auf der Krim zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden oder werden, dass also insgesamt ukrainische Journalisten in Russland und durch Russland verfolgt werden.
"Schreiben Russisch, verstehen sich aber als Ukrainer"
Meyer: Zu dem ganzen Thema Meinungsfreiheit gehört ja auch die Frage, inwiefern russische Autoren, russische Verlage, auch die russische Sprache, die ja auch in der Ukraine selbst eine wichtige Rolle spielt, es wird ja viel Russisch gesprochen in der Ukraine, viel auch Russisch geschrieben … Wie ist das denn auf der Messe präsent?
Sander: Das sind im Grunde zwei Fragen. Also, Autoren aus Russland und Verlage aus Russland … Verlage sind überhaupt nicht gekommen. Das heißt, da sind die Beziehungen im Verlags-, Buchwesen unterbrochen. Das ist schon seit Jahren so, das konnte ich auch auf den vergangenen Buchmessen feststellen, zumindest den letzten beiden.
Die andere Frage ist: Es sind drei weniger bekannte russische Autoren, die zum Teil auch Verbindung zur Ukraine haben, im Literaturprogramm aufgetreten. Aber Sie haben richtig erwähnt, es ist ja so, dass auch die Ukraine ein mehrsprachiges Land ist und dass viele Autoren, auch zum Beispiel der berühmte Andrej Kurkow, der hier auch aufgetreten ist, den man auch in Deutschland kennt.
Die schreiben ja Russisch und verstehen sich aber als ukrainische Autoren. Und das hat nichts mit politischen Konflikten zwischen Russland und der Ukraine zu tun, das sind einfach Vertreter der russischsprachigen Ukraine, wenn man so will. Das muss man immer mitdenken, diese Zweisprachigkeit, Ukrainisch und Russisch. Das betrifft sogar die Westukraine, obwohl hier die ukrainische Sprache traditionell stärker verankert ist als im Osten oder im Zentrum des Landes.
Meyer: Jetzt haben Sie schon über die historische Literatur gesprochen in der Ukraine, über die viel gestritten wurde auch auf der Buchmesse. Wie ist das denn sonst? Sind Ihnen Themen aufgefallen, die die ukrainischen Autoren besonders umtreiben zurzeit, die diese Gesellschaft beschäftigen?
Sander: Ja, also, es hat einen Skandal gegeben auf der Buchmesse um die Autorin Larissa Lesenko. Sie ist auch nicht ganz unbekannt, aber eher ins Englische übersetzt, noch nicht ins Deutsche. Und zwar hat sie ein Kinderbuch präsentieren wollen, in dem Buch ging es unter anderem um eine Geschichte, wie ein Kind bei zwei lesbischen Müttern aufwächst.
Und diese Veranstaltung ist gesprengt worden von national-katholischen Gruppen, jungen Leuten, und das zeigt eben, dass in der Ukraine wie übrigens auch im westlichen Nachbarland Polen es eine sehr aktive rechte politische Gruppe oder Gruppen gibt, die versuchen, solche Themen in der Ukraine zu unterbinden. Das hat nichts direkt mit Pressezensur zu tun, im Gegenteil, es ist so, dass das Buch sogar populär wurde dadurch, viele sind darauf aufmerksam geworden und haben es gekauft. Aber es zeigt die politische Zerrissenheit des Landes auch in Lemberg, in der Unesco-Literaturstadt Lemberg und eben auf der Buchmesse.
"Nicht dieses Ausmaß wie in Russland"
Meyer: Gestern ging die Buchmesse zu Ende und gestern hat also direkt im Anschluss die internationale PEN-Tagung in Lemberg begonnen unter der Überschrift: "Die Wahrheit in Zeiten der Propaganda". Wer trifft sich denn da in Lemberg für solch ein Treffen in der Ukraine, wer kommt denn da international zusammen?
Sander: International tatsächlich, und das heißt auch aus mehreren Erdteilen, auch aus Afrika und Asien, und das große Thema der Freiheit des Wortes in Zeiten der Propaganda und von Fake News wurde oder soll in diesen Diskussionen in diesen Tagen umfassend und international behandelt werden. Aber die Einladung des internationalen PEN und dass sie hier tagen, in Lemberg, hat dann wieder auch viel mit der Ukraine zu tun und ist auch zu verstehen als eine Solidarität für die Ukraine in dem Umstand, dass sie von Russland und von prorussischen Separatisten angegriffen wird und dass Krieg geführt wird und dass auch Krieg mit russischen Medien und durch das Internet gegen die Ukraine geführt wird. Das ist so ein Anlass.
Und besonders beeindruckend fand ich gestern Abend den Eröffnungsvortrag von dem Briten Philippe Sands. Das ist ein Jurist, der sich mit Menschenrechten, mit Fragen auch des Genozids und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit befasst hat und der aber einen Roman geschrieben hat über seine jüdischstämmige, aus Lemberg und Umgebung stammende Familie. Und er verquickt diese beiden Themen, wie nämlich die Idee, den Genozid zu ächten, bereits zwischen den Kriegen Vorstufen hatte und diskutiert wurde an der Universität Lemberg. Also Lemberg als Ort, in dem diese Diskussionen über Menschenrechtsverletzung, über Genozid sehr früh geführt wurden, noch vor dem Zweiten Weltkrieg, verwoben mit der Familiengeschichte.
Er hat in einem großartigen Vortrag noch mal sein Buch zusammengefasst. Das Buch ist leider noch nicht ins Deutsche übersetzt worden, es ist in Großbritannien ein Bestseller. Und dieser Eingangsvortrag von Philippe Sand zeigt wohl auch die Richtung an, in der die Diskussionen sich jetzt in den nächsten Tagen noch bewegen werden.
"Eine große Unübersichtlichkeit"
Meyer: Und wenn es um die Wahrheit in Zeiten von Propaganda und Fake News geht und um Meinungsfreiheit, eben auch im Gastgeberland, in der Ukraine – Sie haben ja schon mit diesem Beispiel von der Buchmesse selbst geschildert, als diese Veranstaltung zu dem Kinderbuch verhindert wurde –, da gibt es auch in der Ukraine große Probleme, was die Meinungsfreiheit angeht?
Sander: Es gibt zweifellos Probleme. Es gibt vor allen Dingen eine große Unübersichtlichkeit in der Ukraine. Aber ich würde vielleicht so gerecht sein und sagen: Es hat auf jeden Fall nicht dieses Ausmaß und auch nicht die Bewegungsrichtung wie in Russland, dass es zunehmend stärker wird, diese Disziplinierung und diese Beschränkung der Meinungsfreiheit, sondern es ist noch offen, in welche Richtung es gehen wird.
Und es ist auf jeden Fall auch nicht schwieriger, die Lage, als im westlichen Nachbarland Polen, wo man ja kürzlich – das wurde hier auch erwähnt – einen Autor, nur weil er ein Regierungsmitglied kritisiert hat wegen dessen Russland-Kontakten, mit drei Jahren Gefängnis bedroht. Das wurde hier auch erwähnt. Also, ich würde sagen, die Lage der Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit in der Ukraine ist sicher nicht ganz übersichtlich und einfach, aber im Gesamtrahmen stellt sie glaube ich nicht das größte Problem dar im Moment.
Meyer: Die internationale PEN-Tagung und die Buchmesse in Lemberg und in der Ukraine, mit Martin Sander haben wir darüber gesprochen. Ganz herzlichen Dank, Herr Sander!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.