Im Land der Wenig-Leser
Macondo ist Gastland der Buchmesse in der kolumbianischen Hauptstadt Bogota. Der fantasievolle Pavillon für den fiktiven Ort aus Marquez' Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" soll fürs Lesen werben - in einem Land, in dem die Hälfte aller Haushalte keine Bücher hat.
John Banville: "Ich hätte meinen Hut mitnehmen sollen."
John Banville hat die Sonne über Bogotá unterschätzt. Aber auch ohne Hut genießt der irische Schriftsteller, der für seinen Roman "Die See" den Booker-Preis erhielt und nun Stargast der Internationalen Buchmesse von Bogotá gewesen ist, den Spaziergang durch die Stadt in den Anden.
"Ich habe mein ganzes Leben am Meer gelebt. Aber die Berge hier sind sehr schön und dramatisch."
Es ist, als dächte John Banville darüber nach, einen Roman über Bogotá zu schreiben. Würde er dafür erst einmal recherchieren?
"Wir erfinden alles. Wir recherchieren nicht. Als ich einmal mit Cormac McCarthy zum Mittagessen verabredet war, habe ich etwas sehr Dummes hinsichtlich der schönen Pferde gesagt, die in seinem berühmten Buch vorkommen: 'Du bist doch sicher mit Pferden aufgewachsen.' Da hat Cormac gesagt: 'Ich habe überhaupt keine Ahnung von Pferden.' Und ich dachte: 'Wie dumm von mir! Natürlich!' Ich würde also einen Blick auf Bogotá werfen, nach Hause fliegen und die Stadt dann erfinden."
Hörglocken und Schattenspiel-Karussell
Gabriel García Márquez hätte das gefallen. Schließlich hat der im letzten Jahr gestorbene kolumbianische Nobelpreisträger für seinen Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" den fiktiven Ort Macondo erfunden. Statt wie sonst ein reales Land mit seiner Literatur einzuladen, haben die Macher der Buchmesse von Bogotá in diesem Jahr Macondo zum Ehrengast gemacht und ihm einen beeindruckenden eigenen Pavillon gewidmet: mit fantasievollen Installationen, mit Hörglocken und einem grandiosen Schattenspiel-Karussell der Künstlerin Laura Villegas, das Gegenstände aus Macondo inszenierte.
In einer Holzarena deutete der kanadische Autor Alberto Manguel die Macondo-Welt:
"Es gibt da ein sehr seltsames Phänomen: Als rationale Wesen sind wir davon überzeugt, dass ein Ort wie Bogotá existiert und dass es hier ein Meer an der Küste gibt. Aber solche Orte sind viel unwirklicher als fiktive Orte. Macondo weist eine viel tiefer gehende Wirklichkeit auf als Bogotá. Innerhalb der universellen Vorstellungskraft besitzt Macondo nämlich Wurzeln, die andere Orte nicht haben. Melville hat in 'Moby Dick' gesagt: Einige Orte sucht man vergeblich auf einer Landkarte. Denn wahrhaftige Orte sind dort nie verzeichnet."
Sehnsucht nach dem Lese-Virus
Über 500 Aussteller haben sich auf dieser Buchmesse in Bogotá präsentiert. Mehr als eine halbe Million Interessierte hat die Messe angelockt. Es wurden Tausende von Büchern verkauft. Enrique González, der Präsident der kolumbianischen Buchkammer, ist einerseits hochzufrieden. Andererseits weiß er um die großen Probleme des Landes: Die Hälfte der kolumbianischen Jugendlichen im Alter von fünfzehn Jahren verstehen nicht, was sie da lesen. Auch, weil ihre Eltern oft keinen Bezug zu Büchern haben:
"In 51 Prozent der kolumbianischen Haushalte findet man kein einziges Buch. Wir müssen also zuerst einmal den Kolumbianern Bücher in die Hand geben. Und dann muss das Lese-Virus von einem Kolumbianer auf den anderen überspringen. Die guten Bücher dazu haben wir hier."
Raubkopien und Galgenhumor
Die Bücher des zurückgezogen lebenden Tomás González zum Beispiel. Oder auch "La Oculta", der neue Roman von Héctor Abad, eine Familiengeschichte, die sich um eine Finca rankt.
Héctor Abad: "Manchmal rufen sie den Titel des Buchs: Ich habe 'La Oculta'! Ich habe 'La Oculta'! Als würden sie Avocados verkaufen!"
Héctor Abad spaziert im Zentrum Bogotás, dort, wo zahlreiche Straßenhändler raubkopierte Bücher anbieten. Seit sein neues Buch "La Oculta" der bestverkaufte Roman Kolumbiens ist, ist auch er illegal, für einen Bruchteil des Originalpreises, zu bekommen. Abad nähert sich einer Straßenhändlerin. Sie erkennt den Autor nicht:
Abad: "Ja, da ist 'La Oculta'."
Verkäuferin: "'La Oculta' kostet 15.000 pesos."
Abad: "In Medellín bekomme ich das Buch günstiger. Manchmal sogar für nur 10.000."
Verkäuferin: "In Medellín sind die Verkäufer ja auch schon Großhändler."
Abad (wiederholt lachend): "Die sind schon Großhändler!" (wieder ernst:) Und das andere Buch dieses Mannes ..."
Verkäuferin: "Bringe ich sofort: 'Brief an einen Schatten'."
Abad: "Das haben Sie auch?!"
Verkäuferin: "Ja."
Verkäuferin: "'La Oculta' kostet 15.000 pesos."
Abad: "In Medellín bekomme ich das Buch günstiger. Manchmal sogar für nur 10.000."
Verkäuferin: "In Medellín sind die Verkäufer ja auch schon Großhändler."
Abad (wiederholt lachend): "Die sind schon Großhändler!" (wieder ernst:) Und das andere Buch dieses Mannes ..."
Verkäuferin: "Bringe ich sofort: 'Brief an einen Schatten'."
Abad: "Das haben Sie auch?!"
Verkäuferin: "Ja."
Héctor Abad nimmt es mit Galgenhumor. Immerhin kostet sein raubkopierter Roman mehr als das daneben liegende Sachbuch "Erfahrungen mit dem Himmel" von einer gewissen Dra. Elsa Lucía Arango. Autoren, die einen richtig guten Draht zum Himmel haben, gaben sich auf der diesjährigen Buchmesse in Bogotá die Klinke in die Hand.
Vor 200 Zuhörern sprach Elsa Lucía Arango über ihren Bestseller. Die Alternativmedizinerin behauptet, sie könne vor ihrem geistigen Auge die Toten im Himmel sehen und mit ihnen kommunizieren. Für sie der Beweis dafür, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Übrigens nicht nur für uns Menschen. Auch für Hunde. Die hat sie auch schon im Himmelreich herumtollen sehen.
Ob auch meine beiden verstorbenen Meerschweinchen im Himmel seien, fragte ich Elsa Lucía Arango nach ihrer Buchpräsentation. Das bejahte sie. Überhaupt wirkte sie allwissend. Und Ex-Präsident Álvaro Uribe, den sie mit homöopathischen Kügelchen versorgt hat und der zumindest indirekt für die Ermordung tausender unschuldiger Kolumbianer verantwortlich ist, komme auch er in den Himmel? Arangos äußerst überraschende Antwort:
"Keine Ahnung."
Wer nicht ins Himmelreich, sondern in den Macondo-Pavillon, die Hauptattraktion der Messe, wollte, musste dagegen nur viel Geduld mitbringen und im schlimmsten Fall zwei Stunden Schlange stehen.