Buchmesse Leipzig

Wirklich, das stimmt!

Moderation: Claus-Stephan Rehfeld |
Ungewöhnliche Lesezeichen in Leipzig, die Auslegung der Leihfristen in Berlin und warum Tucholsky ein Bild von Fontane in seinem Arbeitszimmer hängen hatte: Diese und andere Besonderheiten rund um die Literatur bietet der Länderreport.
Ölsardine, inzwischen entfettet
Von Mattias Biskupek
Leipzig hält wieder seine Buchmesse ab, also lesen auch wir dem Buch eine Messe. Und kommen aus dem Staunen nicht heraus! Was die Leipziger alles so als Lesezeichen benutzen, besser: hinterlassen. Matthias Biskupek hat einige eingesammelt.
Lesezeichen werden in allen der EU-Norm verpflichteten Weltgegenden genutzt, doch jeder weiß, dass Sachsen nicht nur überall schon da sind, sondern auch mehrere Lesezeichen in mehreren Büchern gleichzeitig hinterlassen können. In zeitgemäßer Sprache heißt dies Multitasking. Helle Köpfe - heller Kopf und sächsischer Kopf sind bekanntlich Synonyme – also helle Köpfe lassen nämlich immer mehrere Bücher ungeordnet herumliegen. Am Sachsen ist dies mühelos nachzuweisen. Schließlich hat er 1912 die Deutsche Bibliothek erfunden. In Leipzig.
Nach amtlich bestätigter EU-Statistik ist in Leipziger Bibliotheken das größte durchschnittliche Lesezeichen-Aufkommen (GröDuLA) pro Lebendsachse ermittelt worden.
Allein in einer einzigen Bibliothek Leipzigs – Name ist der Redaktion bekannt – wurden folgende Gegenstände in Büchern aufgefunden:
- Zeitungsschnipsel mit Kontaktanzeige,
- Postkarte von Tante Simone,
- Kamm mit Haaren,
- Kamm ohne Haare,
- Nagel, angerostet,
- Broschüre "Ordnung halten aber wie!",
- Eintrittskarte für Kino, Theater, Konzert, Kondomausstellung;
- Briefmarke gestempelt,
- Briefmarke, festklebend,
- Lederpeitsche, Verwendungszweck ungeklärt,
- Sicherheitsnadel,
- Abholschein für Primagel forte,
- Konferenznamensschild "Helene Hegemann",
- Wahlbenachrichtigung für Kommunalwahl,
- Grünlilienblatt, bekannt als Sachsengras, vertrocknet,
- Ticket für FC Sachsen Leipzig,
- Ölsardine, inzwischen entfettet,
- Schnürsenkel, schwarz,
- Doppelbillet für Doppeletablissement,
- Rasierklinge, unblutig,
- Kugelschreiber mit Aufdruck: Schneider permanent,
- Briefchen mit weißem Pulver,
- Kundenkarten verschiedener Großbanken,
- Freiumschlag,
- gepresstes Kleintier, ohne Lebenszeichen.
Weil in Leipzig das "Deutsche Literaturinstitut" existiert, übergab diese Leipziger Bibliothek (Name bekannt) ihre Lesezeichensammlung an dasselbe. Maßgabe an die Studenten: Verfertigen sie unter Zuhilfenahme der beigegebenen Lesezeichen literarische Werke. Diese sollten unverzüglich gedruckt und allen Leipziger Bibliotheken als künftige Fundorte für Lesezeichen zur Verfügung gestellt werden.
Warum er es nie geschafft hat
Von Jens Rosbach
Leseratten haben klebrige Hände. In Buchhandlungen, im Freundeskreis, auf Buchmessen und in Bibliotheken bleibt so manches Leseexemplar an des Begierigen Finger kleben. Jens Rosbach erkundigte sich nach den den Berliner Leihfristen.
Berliner Leseratten sind eine vergessliche Horde. Sie leihen sich jeden Tag fünftausend bis siebentausend Bücher oder Filme in der Zentral- und Landesbibliothek aus – und verschlafen dann gern die Rückgabefrist.
Hennig: "Und ich sag manchmal auch schon immer: Nehmen Sie doch die Quittung! Machen Sie die mit einem Magneten an die Kühlschranktür! Und dann fällt Ihnen doch das Rückgabedatum auf. Die verpeilen es einfach. Ne, das ist einfach schusselig."
Das sind die harmlosen. Die bösartigen Leseratten hingegen sind überzeugt, dass sie als Steuerzahler das Recht dazu hätten, das Geliehene stapelweise bei sich zu horten.
"Oh ja!"
Martina Hennig ist die Chef-Mahnerin der Bibliothek. Ein Job direkt an der Bücherfront. Denn schreibt sie säumige Nutzer an, erntet sie häufig Zähnefletschen. Oder, so ein Anrufer, verursacht gar "Herzprobleme":
"Und dann kam noch: Wenn er das nächste Mal die Bibliothek betritt, dann wird er sich nach mir erkundigen. Und das hat sich so fast angehört: Mit Kalaschnikow und Sie überleben den Besuch nicht. Also Sie können hier in alle Abgründe schauen."
Vor dem Abgrund wartet gemeinhin eine Mahngebühr in Höhe von 25 Cent pro Tag und Medium sowie ein 15-Euro-Bearbeitungs-Obolus. So versendete die Berliner Zentral- und Landesbibliothek im vergangen Jahr (2012 – d. Red.) rund 2300 Briefe und fast 900 Mahnbescheide. Außerdem mussten 401 Vollstreckungsbescheide erwirkt, 256 Klagen eingereicht und sogar Polizisten in die Spur geschickt werden.
"Im letzten Jahr hatten wir 28 Haftbefehle beantragt."
Bis zu 60.000 Euro spült das Mahnwesen jedes Jahr in die Kasse:
"Die Mahnstelle einer Bibliothek ist die einzige Stelle einer Bibliothek, die Geld einnimmt – und nicht ausgibt.“
Auf der anderen Seite entschwindet jedes Jahr– aus verschiedenen Gründen – eine vierstellige Zahl von Medien aus der Bücherei.
Hennig kann endlos Mahn-Geschichten erzählen: Von Leihware, die dann bei Ebay auftaucht, und von Ausleihern, die mitteilen, sie säßen angeblich und natürlich völlig unerwartet im Knast.
"War mal ein Student, der hat mir einen fünf Seiten langen Brief geschrieben, warum er es nie geschafft hat, seine Medien abzugeben. Einmal hat’s geregnet. Das andere Mal war er krank. Und heute kann er ja die Medien wieder nicht abgeben, weil er mir ja den Brief schreiben muss.“
Irgendwann, sagt Martina Hennig, würde sie ein Buch über die säumigen Berliner Leseratten schreiben. Mal sehen, wie es diesem Werk in der Bibliothek ergehen wird.
Die Bremer Stadtmusikanten des Bildhauers Gerhard Marcks
Die Bremer Stadtmusikanten des Bildhauers Gerhard Marcks© AP
Tiere als "Landesflüchtlinge"
Von Knut Benzner
Wer Bücher liest, der wird zum Mitwisser, kann später nicht mehr behaupten, er habe nichts gewusst. Und manchmal steckt hinter der Geschichte noch eine Geschichte. Knut Benzner traf sich mit den Bremer Stadtmusikanten.
Frau: "Ich bin der Hahn."
Ein weiblicher Hahn. Soll’s geben.
"Er ist einfach Hahn."
Mann: "Ich bin der Esel."
Frau: "Ich spiele die Katze."
Mann: "Ich spiele den Hund."
Und nun in der richtigen Reihenfolge.
"Ich bin der Hahn.“ / Frau: "Ich spiele die Katze." / "Ich spiele den Hund.“ / "Ich bin der Esel."
Der Hahn also auf der Katze, die Katze auf dem Hund ...
"Ja, und hier steht sie auch auf den Hund, ein bisschen ... wir verlieben uns."
Ist die Katze gesund, freut sich der Hund. Und der Esel steht ...
"Ja."
… fest auf dem Boden der Tatsachen.
"Hähähähähä."
Bremen.
"Das Kikeriki, das Wauwau, das Miau, das Ia.“
Schon damals. Und irgendwann dann machten sich die vier, Hahn, Katze, Hund und Esel auf den Weg.
"Was Besseres als den Tod findet man überall."
"Der Hintergrund dieses Märchens ist die Stadt-Land-Problematik natürlich. Die Umwandlung einer ländlichen in eine städtische, städtisch dominierte Gesellschaft, die Phantasie der bäuerischen, an der Scholle klebenden Bevölkerung von der Freiheit und dem paradiesischen der Stadt.“
Professor Reiner Stollmann, 57, Kulturgeschichtler des Fachbereichs Kulturwissenschaften der Universität in Bremen. Der Ausgangspunkt: die Not des Feudalismus. Die inzwischen einige Male erwähnten Tiere, "Landesflüchtlinge" nennen sie die Gebrüder Grimm tatsächlich, gebrechlich, ausgelaugt, der Arbeit in der Mühle, bei der Jagd, auf dem Hof und im Stall nicht mehr fähig, sollen deshalb aus dem Futter genommen, totgeschlagen, ersäuft bzw. in den Bratentopf gebracht werden.
"Im Grunde sind’s Leute, die es da, wo sie sind, nicht mehr aushalten, sondern wandern."
Man könnte auch sagen: Flüchten.
"Wenn Sie heute mit einer Bremer Touristikführerin durch die Stadt gehen, die erzählt Ihnen wahrscheinlich was von Migration."
Eben. Oder Emigration. Auf der Suche nach einem Zufluchtsort. Das heißt nichts anderes als dass dieses Märchen unterschiedlich gelesen werden kann:
"Das ist ein sehr aktuelles Märchen, könnte man sagen, ja."
Die Stadtmusikanten kommen übrigens nie in Bremen an. Das Märchen spielt im niedersächsischen Umland.
"Manchen Bogen Papier bedeckte ich mit Leichen"
Von Claus-Stephan Rehfeld
Gute Bücher sind Vitamine gegen Dummheit. Drum wenden wir uns nun der "Schlacht auf dem Metaphernberg" zu, erinnern also an Julius Stettenheim. Er nahm den Krieg auf die Feder, denn die Welt sucht den Frieden auf dem Schlachtfeld.
Bahnhofswirtschaft anno dunnemals
"Ich gedenke, Ihnen täglich eine größere Schlacht zuliefern."
3. Mai 1877. Die Bedingungen in Bernau sind günstig. Bier und Tabak gibt es so reichlich wie Kriege. Und Wippchen ist Spezialist für Scharmützel, denn er hat bereits "mehrere Eröffnungen von Bockbierausschanks" mitgemacht. Die Leser warten "schon schmerzlich" auf seine Berichte.
"Das war ein blutiger Tag. Mit dem ersten Hahnenschrei des Sonnengottes verfügte ich mich auf das zu erwartende Feld der Ehre."
Als "Kriegsschauplatzer" kennt Wippchen seine "Oblügenheiten", eilt von Scharmützel zu Gemenge, wo
"der Tod seine Hippe (schwingt), von deren Ufern kein Wanderer wiederkehrt."
Ermattet schließt Wippchen manches Kabel nach Berlin, die Redaktion weicht keine Zeile zurück, fordert
"umgehend einen der blutigsten Zusammenstöße aus Ihrer geschätzte Feder",
ansonsten - so mancher werte Kollege habe sich schon empfohlen. Nun, Wippchen wird die Stellung in Bernau tapfer halten und 30 Jahre lang die Lunte an die Kriegspfeife legen - immer im Kampf mit der Heimatredaktion um einen Vor-Schuss.
"Sie wissen, wie viele Kriege ich unter der Feder hatte, wie manchen Feind ich aufs Papier warf. Manchen Bogen Papier bedeckte ich mit Leichen, und oft genug habe ich die eisernen Würfel kein Auge schließen lassen."
Eine Mutter hatte Wippchen nie, ein Vater sandte ihn auf den Metaphernberg: Julius Stettenheim. Redakteur der "Berliner Wespen". Und wie das Wochenblatt ein Satiriker von Format. Berlin amüsierte sich wie Bolle ob der herbeigefaselten Kriegsgründe und wahrhaft erlogenen Frontberichte. Amtlichen Heroismus und gespreizte Sprache führte Stettenheim-Wippchen am Nasenring vor.
"Keiner entkam; ich befinde mich unter denselben."
Wippchen ließ Flotten "ins Seegras beißen" und Generäle ohne Beine "nicht schwanken". Stettenheim griff die Kriegslüsternheit bei der Locke und drehte der Dummheit ein Haar.
"Solange es Haare gibt, werden sich die Völker in denselben liegen."
Das Publikum hat die Berichte verschlungen, aber nicht verdaut. Es war schon schwerhörig.
Nur zwei Freisprüche
Von Claus-Stephan Rehfeld
Wir sagen nur BMW – Bayreuth, Mordio, Wagner. Politiker lassen sich gerne in Galauniform ablichten, so sie dem Ring ihre Aufwartung machen. Es ist an der Zeit, den juristische Un-Tatbestand zur allgemeinen Kenntnis zu geben.
(Blitz)
Götter. Riesen. Zwerge. Übermenschen.
(Donner)
Mord. Totschlag. Entführung. Diebstahl. Brandstiftung. Tierquälerei. Blutschande! Und Beihilfe zu all dem!
(Applaus)
Also dort, in Bayreuth, auf der Bühne.
(Hammer klopft auf Holz)
Rein rechtlich gesehen, strafrechtlich.
(Fotoapparat)
Mindestens fünfmal Lebenslänglich. Mindestens 90 Jahre Knast. Laut Gesetzbuch.
(Arie - Frau schreit)
Alberich. Diebstahl des Ringes. Anstiftung zur Ermordung Siegfrieds. Knast, lebenslänglich.
Fafner. Verschleppung Freias. Ermordung Fasolts. Lebenslänglich.
Wotan. Erschleichung des Ringes. Beihilfe zum Tod Siegmunds. Totschlag Hundings. Einschläferung Brünnhildes. Brandstiftung. Freiheitsstrafe. Nicht unter 5 Jahren.
Siegmund. Blutschande. Mordversuch. Knast. Nicht unter 3 Jahre.
Siegfried. Unser Held. Tierquälerei. Totschlag Mimes. Entführung Brünnhildes. Gefängnis zwischen 5 und 10 Jahren. Kann Strafe nicht antreten, da tot.
Brünnhilde. Anstiftung zum "Feuerzauber". Anstiftung zur Ermordung. Besonders schwere Brandstiftung. Lebenslänglich.
(Knasttür zu)
Motiv: "Der Welt Erbe / gewänne zu eigen, / wer … den Ring, / der maßlose Macht ihm verlieh’."
(Gelächter)
"Nur zwei Rheintöchter gehen straffrei aus."
(Schlägt Buch zu)
Ernst von Pidde. "Richard Wagners 'Ring des Nibelungen' im Lichte des deutschen Strafrechts."
Ja, ja, unsere Helden da oben. Charakterlosigkeit allenthalben. Da fahren wir nicht hin!
Sinnbild des Hochstaplers: Baron von Münchhausen, im Film gespielt von Hans Albers, 1943
Sinnbild des Hochstaplers: Baron von Münchhausen, im Film gespielt von Hans Albers, 1943© picture alliance / dpa / akg-images
Er überragte alle Aufschneider um Zopfeslänge
Von Claus-Stephan Rehfeld
Da wir gerade bei der Politik waren. Die Kunst der politischen Lüge ist ziemlich verkommen – das ärgert uns, dass Kunst so verkommen kann. Baron von Münchhausen war noch einer, der sie erbaulich servierte. Die wahre Geschichte.
(Jagd-Signal)
"Was ein richtiger Jägersmann ist, der erlebt die merkwürdigsten Dinge."
(Schritte im Wald)
Im Gartenhaus, da oben am Waldhang, da lief der Geschichtenerzähler zu besonderer Form auf. In der Jagdgesellschaft machte er das Jägerlatein literaturfähig. So mit der Geschichte vom Kirschbaum-Hirsch. Haarsträubend die Geschichten, er überragte alle Aufschneider um Zopfeslänge.
(Klopfen an metallisches Sprachrohr)
Das ist ein Sprachrohr.
Ach, Hieronymus Carolus Fridericus, was war er doch für ein geistreicher und humorvoller Rittmeister. Kinder hat er nicht hinterlassen, aber Geschichten in die Welt gesetzt. Und das alles in einem kleinen Ort mit dem schlichten Namen Bodenwerder.
(Ritt auf der Kanonenkugel - Wind heult)
"Und so stellte ich mich neben eine der größten Kanonen, die soeben nach der Festung abgefeuert ward, und sprang im Hui auf die Kugel, in der Absicht, mich in die Festung hineintragen zu lassen.“
Erst 1985 fanden die Hiesigen eine Kugel, auf der Münchhausen geritten war. Natürlich wurde sie für echt befunden und nahe der Weserpromenade aufgestellt.
(Pferd im Galopp)
"Dass das Hinterteil fehlte, merkte ich erst, als ich mein Pferd an die Tränke brachte."
Ja, während die der wissenschaftlichen Wahrheit verschriebene Lügenbaron-Forschung diese Absonderlichkeit noch disputiert, stellten die Bodenwerderer das geteilte Pferd gleich zweimal auf. Waren ja auch zwei Hälften.
(Pferd wiehert - Ritt auf Kanonenkugel)
"Als ich aber halbwegs durch die Luft geritten war, stiegen mir allerlei nicht unerhebliche Bedenklichkeiten zu Kopfe. Hum, dachte ich, hinein kommst du nun woh."
Er kam, wie wir alle, auch zu Tode, also ins Grab. 1797 war das. Seine Geschichten lebten weiter, er auch. Um 1860 soll das gewesen sein. Als das Grab des Lügenbarons geöffnet wurde.
„Im Sarg lag nicht ein Skelett, sondern ein schlafender Mensch mit Haar, Haut und Gesicht: Hieronymus Münchhausen. Ein plötzlicher Zugwind fuhr durch die Kirche. Der Tote zerfiel im Augenblick zu Staub."
(Jagd vorbei)
Er schaffte es bis ins Rathaus. Das Geburtshaus des "Lügenbarons", den Titel mochte er übrigens nicht, zu Recht, dient heutzutage als Rathaus. Das finden wir schön, wollen es aber lieber doch nicht kommentieren.
Und wupp!, ist der Eindruck da
Von Claus-Stephan Rehfeld
Kurt Tucholsky und Theodor Fontane. Wer mit beiden Verfassern nichts anzufangen weiß, kann abschalten. Wer am Lautsprecher bleiben kann, kann nun hören: "Warum sein Bild in meinem Zimmer hängt" - Kurt Tucholsky über Fontane.
(Dampflok – Signal)
"Daß Du die Wanderungen Fontanes liest, finde ich beinahe rührend. Übrigens geht es mit ihm – cim grano salis – wie mit Joethen: in seinen Werken ist er nie ganz zu finden."
(Dieter Mann zitiert Tucholsky)
1911 reist der Jurastudent Kurt Tucholsky mit seiner Freundin Else Weil nach Rheinsberg. Die Erinnerung an das Wochenende schreibt er sich 1912 in seinem "Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte" vom Herzen. Die erste Szene im Bahn-Coupé – Anspielung auf das Rheinsberg-Kapitel in Fontanes "Wanderungen durch die Grafschaft Ruppin".
Und Tucholsky spielt verschiedentlich auf Fontanes Roman "Irrungen, Wirrungen" an. Wie dort eine Landpartie, wie dort eine kleine Streitigkeit über Blumen – aber wie anders ausgetragen! Fontanes Lene wird traurig, heiter-verliebt bei Tucholsky. Der Streit "erstickt in Küssen".
(Zitat Tucholsky)
"Damals, so in den Achtziger Jahren,
ist man noch nicht mit dem Auto gefahren;
alles ging seinen ruhigen Schritt,
und der alte Fontane ging ihn mit."
Beide verfügen über die Fertigkeit, die sie Fontane zufolge bewahrt
"vor jenem ebenso ridicülen wie anstößigen Lokalpatriotismus, der den Sieg der Müggelseeberge über das Finsteraarhorn proklamiert".
Lässt Fontane 1890 sein Gedicht "Veränderungen in der Mark" ironisch enden, so setzt Tucholsky 1918 in seinem Gedicht "Der alte Fontane" ein Ausrufezeichen hinter das Fontane-Zitat "Gott, ist die Gegend runtergekommen!". 30 Jahre seitdem haben die Mark stark verändert.
(Zitat Tucholsky)
"Er ist unerschöpflich im Vergleichen. Er holt, um einen Eindruck den Sinnen des Lesers nahezubringen, der ihn doch nicht mit wahrgenommen hatte, die unmöglichsten Dinge heran, die scheinbar ganz fern liegen – und wupp! Ist der Eindruck da.“
Fontane hat Tucholsky Zeit seines Lebens berührt. Fontane beschreibt die Welt der Vorkriegszeit, Tucholsky formuliert ihren Abgesang. Beide drückt die neue Zeit "viel schwerer als leibliche Not". Im schwedischen Exil wendet sich Tucholsky wieder stärker dem alten Fontane zu. Doch der Ton ist ein anderer – die Schwärmerei weicht der Melancholie.
Wenige Tage vor seinem Tod zitiert er in einem Brief an seinen Bruder Fritz nochmals den alten Fontane, lobt das wissende Schweigen.
(Zitat Tucholsky)
"Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen … In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist.“
Das waren wunderliche, seltsame und erbauliche Geschichten rund um das Buch. Dem Buch eine Messe lasen Matthias Biskupek, Jens Rosbach, Knut Benzner sowie Claus-Stephan Rehfeld, der sich auch durch die Sendung moderierte. Auf Wiederhören.
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