"Wir werten nach ästhetischen Maßstäben"
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389 Werke wurden für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 eingereicht. Die Jury-Mitglieder Katrin Schumacher und Jens Bisky erläutern, welche Kriterien bei der Shortlist und der finalen Entscheidung ihnen wichtig waren – und welche nicht.
Dass die Entscheidungen einer Preisjury nicht überall Beifall finden, ist ja eher normal. Juryschelte ist im Literaturbetrieb eine fast zu erwartende Reaktion, aber es bleibt meistens sozusagen in der Familie – der Kritiker von heute ist oft der Juror vom nächsten Jahr (und umgekehrt). Aber dass die Zusammensetzung einer Jury Kritik auf sich zieht und nach der Veröffentlichung der Nominierungen ein "Offener Brief" für Unruhe sorgt, ist zumindest in Deutschland ungewohnt.
Im Vorfeld des Preises der Leipziger Buchmesse 2021 gab es Kritik von Literaturwissenschaftlerinnen und Intellektuellen vor allem aus der angelsächsischen Welt. Sie monierten, die Shortlist sei nicht divers genug und es fehlten People of Colour unter den 15 Nominierten in den drei Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzungen.
Indirekt wurde den Jury-Mitgliedern in dem Offenen Brief angekreidet, ihre Auswahl spiegele "ein eindimensionales Konzept von Literatur und Kultur", das auf dem Ausschluss von Schwarzen Menschen fuße. Eine Jury müsse "die gelebte Realität der deutschen Gesellschaft repräsentieren".
Als Hintergrund dieser Kritik muss bedacht werden, dass in diesem Frühjahr zahlreiche Bücher von Autorinnen und Autoren zu lesen waren, für die Migration, Heimat und Identität große Themen sind – zum Beispiel von Sharon Dodua Otoo, Mitu Sanyal und Shida Bazyar.
Jens Bisky, der Sprecher der Jury, verteidigt die Auswahl zum Preis der Leipziger Buchmesse: "Ich habe mit dem Offenen Brief ein Problem, dass ich nicht weiß, was er von mir will. (...) Die sagen: 'Da stehen fünf gute, preiswürdige Titel drauf, aber wir sind trotzdem unzufrieden, uns fehlen diese und diese.' – Das finde ich eine seltsame Art zu argumentieren."
Der Berliner Autor und Journalist verlangt hingegen: "Da muss man doch sagen: 'Dieser Titel ist literarisch nichts wert, der steht da nur, weil die Autorin oder der Autor weiß ist. Stattdessen schlagen wir vor, diesen darauf zu setzen!' – Auf so eine Diskussion könnte ich irgendwie literaturkritisch reagieren. Aber das haben sie nicht getan."
Affekte statt Argumente
Sind politische Aspekte inzwischen wirklich wichtiger als ästhetische? Zumindest würde Literatur nach "tagesaktuellen Kriterien" gewertet, hat Katrin Schumacher beobachtet. "Die Hysteriewellen oder die Diskussionen, die teils mit nicht besonders guten Argumenten, sondern aus so einem Affekt heraus geführt werden, greifen auch auf den Literaturmarkt über, klar.
Aber wir sind eine Literaturkritiker-Jury, wir werten nach ästhetischen Maßstäben und nicht nach Feuilleton-Debatten, das geht nicht." Natürlich sei die komplette Auswahl durchaus angreifbar: "Wir sind sieben Juroren, wir prämieren die Titel, und dann kommt immer etwas zurück, es gibt da eine Rückenergie von den Kollegen und Kolleginnen."
Das geschieht mit Sicherheit. Der Literaturkritiker Helmut Böttiger eröffnete die Juryschelte wenige Minuten nach der Preisverleihung in Deutschlandfunk Kultur mit der sarkastischen Vermutung, mit dem Preis für "Echos Kammern" von Iris Hanika habe die Jury "kreativ und originell" sein wollen.
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Böttiger kritisierte einen "Kolumnenstil" und selbstverliebte Sprachspiele des Romans, der "von allem ein bisschen was" sein wolle, und machte deutlich, dass er die neuen Bücher von Norbert Gstrein und Ulrich Peltzer, die nicht auf die Shortlist gekommen waren, demgegenüber weitaus bevorzugt hätte.
Für 2022 steht ein Umbruch in der Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse an: Vier von sieben Personen scheiden nach drei Jahren in dieser Funktion aus, darunter Jens Bisky und Katrin Schumacher.
(cre)