Das Leben einsetzen, um andere zu retten
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Ein starker Gerechtigkeitssinn habe die Hauptfigur ihres Buches angetrieben, sagt Anne Weber, die Buchpreis-Gewinnerin 2020. Die Résistance-Kämpferin Anne Beaumanoir ist in dem "Heldinnenepos" zu Literatur geworden – ein Vorbild für die Gegenwart.
Vladimir Balzer: Der vielleicht prominenteste Preis im deutschen Literaturbetrieb, der Deutsche Buchpreis geht 2020 an die Geschichte einer Résistance-Kämpferin, erzählt in dem Buch "Annette. Ein Heldinnenepos" von Anne Weber – in Versform! Und die Jury sagt dazu: "Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen." Haben Sie es schon geschafft, die Heldin Ihres Buches anzurufen, Annette Beaumanoir?
Anne Weber: Nein, das habe ich nicht getan. Es geht ihr im Moment nicht gut und sie liegt im Krankenhaus. Ich weiß gar nicht, ob ich ihr überhaupt davon erzählen kann. Vor ungefähr drei Wochen habe ich sie zuletzt gesprochen, da ging es ihr gut. Ende des Monats wird sie 97.
Vladimir Balzer: Wie hat sie sich in Ihrem Buch wiedergefunden?
Anne Weber: Wichtig war mir vor allen Dingen, dass ihr das Buch gefällt, dass sie damit leben kann und womöglich auch glücklich ist. Tatsächlich hat sie mir aber gesagt, als sie das Manuskript gelesen hat, dass sie sich nicht wiedererkennt, also dass das nicht sie ist, sondern "meine Annette", so hat sie es genau formuliert: "Das ist deine Annette!" Das hat mich doch sehr verunsichert, weil ich gedacht habe, dass dieses Porträt mir misslungen sei, aber letztlich ist mir schnell aufgegangen, dass es nicht anders sein kann.
Das ist ja mein Blick auf ihre Person und auf ihre Geschichte. Es ist eine literarische Figur aus ihr geworden. Sie hat "deine Annette" auch gesagt, weil sie sich nicht selbst als Heldin sieht. Für sie ist das alles ganz normal, was sie in ihrem Leben gemacht hat.
Kontinuität der Unterdrückung
Vladimir Balzer: Was hat diese Frau eigentlich all die Jahre angetrieben?
Anne Weber: Ich glaube, dass sie einen ganz stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hat. Die Unterdrückung der französischen Bevölkerung durch die deutschen Besatzer und dann aber auch die Unterdrückung der algerischen Bevölkerung durch die französischen Besatzer – das hat sie als eine Kontinuität gesehen. Es war wahrcheinlich für sie noch schwerer zu ertragen, dass im zweiten Fall die Franzosen die Unterdrücker waren. Das heißt also, sie selbst gehörte auch zu den Unterdrückern in Algerien.
Auch im hohen Alter geht sie noch in Schulen und erzählt den Kindern etwas über zivilen Ungehorsam, engagiert sich auch politisch weiter, allerdings sind die Zustände Gott sei Dank andere als vor ein paar Jahrzehnten noch. Sie ist eine wirkliche Heldin, nicht nur die Heldin meines Buches.
Außergewöhnlicher Mut
Vladimir Balzer: Wie wichtig ist es Ihnen gewesen, über eine Frau zu schreiben?
Anne Weber: Ich habe beschlossen, ein "Heldinnenepos" zu schreiben, also mich zu stützen auf die alte Form des Heldenepos. Der Held, das ist ja etwas sehr Männliches und Kriegerisches. Das hat mir tatsächlich sehr gefallen, dass sie eine Frau ist und dass ich das Wort "Held" mit dieser schlimmen Konnotation im letzten Jahrhundert in der weiblichen Form verwenden und ihm dadurch den Wind aus den Segeln nehmen konnte.
Vladimir Balzer: Kann sie auch Vorbild sein für Frauen heute?
Anne Weber: Ich denke schon. Sie hat einen außergewöhnlichen Mut gezeigt in verschiedenen Situationen ihres Lebens – nicht nur einmal, sondern in ganz vielen Situationen über lange Zeit hinweg. Sie hat ihr Leben eingesetzt, um andere Leben zu retten. Natürlich kann man nur hoffen, dass man Ähnliches täte in ähnlichen Situationen.
(cre)