Im Leben und im Werk der dänischen Autorin Tove Ditlevsen verschwimmen die Grenzen der Realität, die Wirklichkeit kippt in den Wahn und das erzählende Ich splittert zuweilen ab wie alter Nagellack. In ihrem furchtlosen Eheroman „Vilhelms Zimmer“ erzählt sie vom Leben der Kinderbuchautorin und Mutter Lise Mundus.
Lise Mundus ist das Alter Ego der Autorin Tove Ditlevsen, man kennt es aus ihrem Psychiatrieroman „Gesichter“. Diesmal wechselt die Erzählerin Haltung und Blickrichtung, schreibt mal allwissend, mal als betroffene Ich-Erzählerin. Daraus ergibt sich ein aufregendes Erzähldreieck aus Autorin, wechselnden Erzählerinnen und Hauptfigur.
Autofiktionaler Wesenskern
Wie alle Romane von Tove Ditlevsen wurzelt auch „Vilhelms Zimmer“ in ihrer Lebensgeschichte. Außer dem Scheitern ihrer Ehe mit Vilhelm treibt die Erzählerin die Frage nach der Vereinbarkeit von Schreiben und Hausarbeit um.
Vilhelm erlebt nie wieder, dass an seinen Hemden Knöpfe fehlen oder zwei verschiedenfarbige Strümpfe zu einem Paar zusammengezogen sind; Frau Andersen hatte zwar dafür gesorgt, dass die Kleidung gewaschen wurde, das Sortieren jedoch Lise überlassen, die stundenlang schreiben konnte, ohne zu ermüden, jede noch so kleine häusliche Anstrengung aber derart langweilig fand, dass ihr davon übel wurde und sie schweißnasse Hände bekam.
Aus „Vilhelms Zimmer“
Mit Hausarbeit kann man Lise Mundus jagen, was sich gut in die damalige Zeit fügt. Wir befinden uns in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die zweite Welle der Frauenbewegung schreitet voran. Das Erscheinungsjahr des Romans, 1975, erklärte die UNO zum Internationalen Jahr der Frau.
Entgegen gängiger Frauenrollen
Tove Ditlevsen begegnet Rollenerwartungen mit feinem Spott, der sich zuweilen zu ätzender Häme steigert. Dabei spielt sie ihre Kritik meist über Bande, nimmt ihre Nebenbuhlerinnen her, um gängige Frauenbilder zu demolieren. Lise Mundus ist nämlich nicht nur eine moderne, sondern auch eine verlassene Ehefrau.
Sie trinkt nicht, sie war nie tablettenabhängig wie ich, und sie ist zweifellos treu wie ein Gaszähler oder eine Wäschemangel. Wenn sie Gurken schneidet, reibt sie sich das Endstück über das Gesicht, weil es gut für die Haut sein soll, die bei ihr ohnehin zart und rein ist.
Aus „Vilhelms Zimmer“
Viele der Dinge, die in „Vilhelms Zimmer“ zur Sprache kommen, haben sich auch in Wirklichkeit zugetragen. Ditlevsen und ihr vierter Mann, Victor Andreasen, Chefredakteur einer großen Boulevardzeitung, waren ein bekanntes Paar. Die Öffentlichkeit nahm gern Anteil an dem Klatsch und Tratsch über die beiden. Den Roman nur als Schlüsselroman und als autofiktional aufgeladene Ehegeschichte zu lesen, würde seinen literarischen Reichtum aber schmälern. Der äußert sich in der lässig wechselnden Erzählhaltung, der Mischung verschiedener Textsorten, der Reflexion über das Schreiben eben dieses Romans im Roman selbst und in seinem mal erbarmungslosen, mal belustigten Ton.
Die Autorin Tove Ditlevsen mit ihrem Mann Victor Andreasen.© picture alliance / Ritzau Scanpix / Per Pejstrup
Ditlevsen ist nicht nur als Frau, sondern auch als Erzählerin ihrer Zeit voraus. Ihre geistigen Gefährtinnen nennt sie im Roman en passant: Virginia Woolf, Karen Blixen und Dorothy Parker.
Selbstbewusstes Klassenbewusstsein
Lise Mundus wiederum trägt auch ihr Klassenbewusstsein selbstbewusst vor, so bläut sie ihrem Ex-Mann ein:
Du bist der Sohn zweier Proletarier, die niemandem dafür dankbar sein müssen, wie weit sie gekommen sind. In unseren Herzen wohnt ein unantastbarer Stolz darauf, nichts mit der Geburt geschenkt bekommen zu haben. Und zugleich eine Bitterkeit gegenüber der Welt, die unsere Eltern zermürbte!
Aus „Vilhelms Zimmer“
Neben Klassen- und Geschlechterfragen bietet der Roman eine feine Satire auf den damaligen Medienbetrieb. Wie in der Wirklichkeit schreibt die verlassene Ehefrau auch im Roman Artikel über ihre gescheiterte Ehe, natürlich sehr zur Freude der neugierigen Leserschaft.
Irrsinn und Versagensangst
Lise Mundus hadert dabei mit ihrem Schreiben, heute würde man das Imposter-Syndrom attestieren. Auch in ihrem letzten Roman zeigt sich Tove Ditlevsen damit als unerbittliche Analytikerin ihres eigenen Zustands. Entwaffnend offenherzig schildert sie Irrsinn und Versagensangst, wobei sie schwere Themen oft mit schalkhaftem Vergnügen aufbereitet, etwa wenn sie Lises Nachfolgerin und ihren Ex-Mann in den Blick nimmt:
Mit leicht zitternder Hand schenkt sie ihm seinen Tee ein, und Vilhelm denkt, dass ihr großes, verlässliches Gesicht dem eines Pferdes gleicht, wenn sie beleidigt ist. Dann nimmt es einen Ausdruck melancholischer Nachsicht an, und man bekommt geradezu Lust, ihr das Maul zu tätscheln und ihr einen Eimer Hafer vorzusetzen. Dieser Vergleich hätte Lise amüsiert, aber jetzt muss er ihn für sich behalten.
Aus „Vilhelms Zimmer“
Auch dank der bewährten Übersetzerin Ursel Allenstein erweist sich „Vilhelms Zimmer“ als herausragender Roman im Werk von Tove Ditlevsen. Er ist böse, lustig und wahrhaftig, und er gibt dem Lächerlichen so viel Raum wie dem Dramatischen. Traurig ist er freilich auch, eine Frau nimmt darin ihre spätere Selbsttötung erzählend vorweg. Kurz: „Vilhelms Zimmer“ krönt Ditlevens Leben in Romanform.
Die dänische Autorin Tove Ditlevsen wurde 1917 in Kopenhagen geboren und starb 1976 ebendort an einer Überdosis Tabletten. Sie stammte aus der Arbeiterklasse und schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Seit einigen Jahren wird ihr Werk wiederentdeckt. Heute gilt sie als Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk. In Dänemark gehören ihre Bücher inzwischen zur Pflichtlektüre im Schulunterricht.