Buchvorstellung "Die Gesellschaft der Anderen"

Ein Land, in dem nicht alle Menschen gleich sind

04:52 Minuten
Terroranschlag in Hanau 2020: Trauerfeier auf dem Marktplatz. Im Bild l-r: Kerzen, Blumen werden niedergelegt.
Trauer in Hanau: Am Tag nach dem rassistischen Terroranschlag meldet sich Jana Hensel bei Naika Foroutan - beide kommen ins Gespräch. © imago images / rheinmainfoto
Von Étienne Roeder |
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"Die Gesellschaft der Anderen": So heißt der Dialog zwischen Migrationsforscherin Naika Foroutan und Journalistin Jana Hensel. "Ein Buch, das der Mehrheitsgesellschaft was zumutet", sagt Grünen-Chef Robert Habeck bei der Buchvorstellung in Berlin.
"Wir sind jetzt in der Schaubühne am Lehniner Platz in Westberlin und draußen sind die Bäume schon sehr weihnachtlich geschmückt. Und es sieht sehr schön aus, da draußen auf dem Ku‘damm", sagt Autorin Jana Hensel.
Der Kurfürstendamm bei Nacht, beleuchtete Platanen auf den Flanierwegen und teure Autos auf der Straße. Relikte des ehemaligen Westberlin. Manche Dinge ändern sich eben nie, auch in diesem Herbst nicht.

Kritisch-analytische Diskussionsrunde

Andere Anblicke bleiben ungewohnt: So die hell erleuchtete, aber leere Schaubühne, die eher Edward Hoppers "Nighthawks" gleicht als einem Theater. Mit dem Unterschied, dass auf Hoppers Gemälde noch mehr Menschen zu sehen sind als hier.
Dennoch, die drei, die sich heute auf der Bühne treffen, füllen auch ohne Publikum den Abend. Vor dem Bühnenbild von Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" diskutieren die Migrationsforscherin Naika Foroutan und die Autorin Jana Hensel mit dem Grünen-Chef Robert Habeck über ihr gemeinsames Buch. Kritisch, analytisch und selbstbewusst.
"Ich möchte etwas anderes sagen und gar nicht auf ihre Frage antworten", sagt Robert Habeck. "Darf ich? Da müsste ich sie noch einmal wiederholen, weil sie ja den Kreis erst schließt. Wir kommen aber schon zum Schluss. Na, wir haben Zeit, ich habe heute nichts mehr vor."
Wer die Diskussion von zu Hause aus verfolgte, sollte ebenfalls nichts mehr vorhaben, denn leichte Unterhaltung war das mitunter kontrovers anmutende Gespräch nicht.
"Das heißt, weswegen wir uns eigentlich zusammensetzen", sagt Jana Hensel, "weil wir konstatieren müssen: Ein ganz entscheidendes Versprechen, nämlich, dass alle Menschen in diesem Land gleich sind, entspricht nicht länger der Wirklichkeit."

"Gesellschaft der Anständigen"

Die Wirklichkeit – das war im Jahr 2020 der rassistisch motivierte Anschlag in Hanau. Einen Tag danach meldet sich Jana Hensel bei Naika Foroutan und beide kommen in Hensels Küche ins Gespräch.
Ein Dialog, der gleich zu Beginn des Buches den intellektuellen Austausch einleitet. Sie habe immer gehofft, dass Deutschland irgendwann aufhören würde, ein Land zu sein, in dem Menschen, die aussehen wie die Ermordeten, Angst haben müssen, beschreibt Naika Foroutan diese, wie sie es ausdrückt, subkutane Grundahnung:
"Wir hätten das Buch auch 'Die Gesellschaft der Anständigen' nennen können. Denn da ist letztendlich die Bruchlinie. Die verläuft am Ende des Tages nicht zwischen Ost-West-migrantisch, sondern entlang einer Haltung zu der pluralen Konstruktion dieser Gesellschaft."

Über biografische Gemeinsamkeiten

Die Konstruktion des Buches folgt der dialogischen Form der beiden Autorinnen. Lange Passagen mit analytischen Beobachtungen werden verwoben mit biografischen Anekdoten über die Erfahrung des Andersseins als Ostdeutsche oder Migrantin. Und beim Versuch die Stimmen derjenigen in den Diskurs einzubringen, die 30 Jahre unerhört geblieben sind, stießen beide auf unerwartete Überraschungen.
"Wir haben auch biografische Gemeinsamkeiten, von denen wir vorher nichts wussten. Wir haben in dem Buch festgestellt, dass wir beide Revolutionserfahrungen haben. Und sogar im selben Alter. Naika hat die Revolution im Iran erlebt und ich habe mit 13 die Revolution in der ehemaligen DDR erlebt", sagt Jana Hensel.
Und Naika Foroutan erzählt: "Ich bin ja mit 12 Jahren aus dem Iran nach Westdeutschland gezogen, nach Rheinland-Pfalz. Dementsprechend ist meine Perspektive eine sehr westdeutsche und Jana Hensels Perspektive eine sehr ostdeutsche. Trotzdem haben wir festgestellt, dass im Laufe unserer Biografien es immer wieder Punkte gibt, die sich ähneln. Wir haben beide Väter, die uns sehr viel Kraft und Fantasie und Deutungshoheiten über bestimmte Formen des Lebens mitgegeben haben."

Der Mehrheitsgesellschaft etwas zumuten

Der Dreierbund Foroutan-Hensel-Habeck folgt im Übrigen einem Austausch der drei, der über verschiedene Etappen schon länger schwingt. Man kennt sich.
"Im Vorgespräch haben die beiden mir gesagt: 'Das Buch ist eigentlich für jemanden wie dich geschrieben.' Und das ist, glaube ich, auch deutlich geworden. Ein Buch, das vor allem der Mehrheitsgesellschaft was zumutet", so Robert Habeck.
Der Perspektivwechsel, den die Autorinnen mit ihrem Buch anregen, ist sicherlich für alle hier Lebenden bereichernd.

Naika Foroutan und Jana Hensel: "Die Gesellschaft der Anderen"
Aufbau Verlag, Berlin 2020
356 Seiten, 22 Euro

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