Kein Mensch spricht bei AA oder NA von Spielsucht und von Pornosucht oder von Internet Addiction. Also, du kannst wunderbar bei AA "nüchtern" sein, den ganzen Tag rauchen wie ein Schlot, World of Warcraft spielen und nur Netflix gucken – dann bist du aber nach AA-Standard trotzdem total in der Genesung.
Buddhistische Drogenhilfe
Geduld, Konzentration und Achtsamkeit: Die Meditation stärkt Fähigkeiten, die dabei helfen können, die Sucht zu überwinden. © Unsplash/ Rzao
Mit Achtsamkeit zur Abstinenz
07:25 Minuten
In einer Welt voller Konsum-Anreize steigt das Risiko für Suchterkrankungen. Hilfe für Betroffene bieten auch Religionsgemeinschaften. Die buddhistische Initiative "Recovery Dharma" setzt dabei auf Dialog und Meditation.
Sonntagfrüh in Berlin-Prenzlauer Berg. Acht Leute verschiedensten Alters sitzen auf bequemen Stühlen um einen ovalen Konferenztisch herum und meditieren. Es ist fast still, nur Atmen ist zu hören und ein Krankenwagen, der unten auf der Straße vorbeifährt. Die Tür zur Dachterrasse ist geöffnet, die Luft ist frisch. Ein Hund tapst im Raum umher, nach einer Weile legt er sich zur Ruhe.
Der helle Klang der Meditationszimbeln erklingt, jetzt beginnt eine Gesprächsrunde. Ein „Redekissen“ wird herumgereicht: Wer es in der Hand hält, ist dran mit Erzählen. Obwohl alle hier sind, weil sie eine Suchterkrankung haben, geht es um alle möglichen Themen: um Ärger und Wut, Umgang mit Geld, Gier und Geiz, um Akzeptanz, Stress, die Mutter, die gerade zu Besuch ist – zum ersten Mal seit drei Jahren.
Fokus auf innerem Wachstum
Die meisten in der Runde sind schon länger abstinent, doch die Schwierigkeit besteht darin, es auch zu bleiben. Dabei helfen sich die Mitglieder der Gruppe "Recovery Dharma" gegenseitig mit guter Laune, buddhistischer Lektüre und Meditation. "Was mir sehr gefällt an 'Recovery Dharma', ist, dass der Fokus sehr auf innerer Entwicklung, innerem Wachstum liegt", sagt Martha. Sie ist bildende Künstlerin und nimmt seit über zwei Jahren hin und wieder an den Sitzungen der Selbsthilfegruppe teil.
"Natürlich geht es darum, clean und sober zu werden", erklärt Martha, "aber die Kommunikation – in erster Linie geht es da um innere Konflikte, um innere Zerrissenheit, um den Umgang mit Emotionen."
Einer, der in dieser Sitzung bisher vor allem zugehört hat, ist Martin. Er ist 40 Jahre alt und hat die buddhistische Selbsthilfegruppe "Recovery Dharma" vor fünf Jahren mitgegründet. Heute ist er seit Langem mal wieder dabei. Er erzählt, dass es ihm sehr, sehr gut gehe. Seit ziemlich genau neun Jahren ist er trocken, er hat wieder einen Job – und seit elf Monaten auch einen Sohn. Einige Gruppenmitglieder wissen das schon und lächeln, andere hören es zum ersten Mal, es gibt spontanen Applaus.
Mentale Strukturen hinter der Sucht
Martin war 16 Jahre lang alkoholabhängig. 2017, als er schon mehrere Jahre trocken war, hat er "Recovery Dharma" ins Leben gerufen, um Menschen zu helfen, die sich von etablierten Suchthilfeprogrammen nicht angesprochen fühlen, so wie er damals.
Die weit verbreiteten, christlich geprägten Anonymen Alkoholiker beispielsweise greifen ihm zu kurz. Die verfolgten nämlich meistens genau ein Ziel, erklärt Martin, und zwar: weg von der Substanz. Aber Abstinenz allein breche nicht die mentalen Strukturen hinter der Sucht auf, sagt er. Dadurch könne es zu Suchtverlagerungen kommen, und das Problem werde nur scheinbar gelöst.
Martin kann sich noch gut erinnern, wie es ihm selbst in seinem ersten trockenen Monat ging: "Also, ich habe aufgehört zu trinken, und hab sofort drei Mal so viele Zigaretten geraucht." Einen Monat später hat er dann ganz aufgehört, mit allem. Es ging ihm ja schließlich darum, sein Leben auf die Reihe zu kriegen, erzählt er, ja, überhaupt wieder eines zu haben.
Verdrängung, Betäubung, Streben nach Neuem
"Recovery Dharma" ist der deutsche Ableger einer Bewegung aus den USA. Der Sohn des buddhistischen Lehrers Stephen Levine hatte sie unter einem ähnlichen Namen gegründet, nachdem er selbst positive Erfahrungen mit Buddhismus als Suchthilfe gemacht hatte. Martin fühlte sich von dem Konzept sehr angesprochen. Schon als Jugendlicher hat er Buddhismus praktiziert, suchtkrank ist er trotzdem geworden.
So wie wir alle ein bisschen, sagt er, zumindest aus buddhistischer Perspektive: "Man könnte es so hinstellen, dass der Buddhismus alle Leute so ein bisschen in die Suchtecke stellt: Es geht ganz viel um Begierden und um Nicht-Habenwollen, darum, etwas wegzuschieben."
Also Verdrängung, Betäubung, Streben nach immer neuen, intensiveren Erfahrungen – alles Phänomene, die wir alle irgendwie aus dem Alltag kennen. Die buddhistische Philosophie identifiziert sie als Ausdrücke des Leidens, das grundsätzlich mit dem Leben als Individuum verbunden ist.
Mit Meditation die Sucht überwinden
Eine besonders intensive und überflüssige Art des Leidens, die es sich besonders lohne zu überwinden, sei die Sucht, sagt Martin. Achtsamkeitsübungen und das Dharma, also die buddhistische Lehre, könnten dabei helfen zu verstehen, wie es zu pathologischem Konsum komme. Darum wird in jedem Meeting von "Recovery Dharma" etwa 20 Minuten lang meditiert.
Du lernst einfach das, was du durch Meditation lernst, also: Geduld, Impulsdistanz, wirklich hinschauen, aushalten, fokussieren, Konzentration, und so weiter, diese ganzen Sachen. Und die sind alle hochgradig nützlich, wenn man sich mit seiner Sucht anlegen will.
Das funktioniert nicht nur in Selbsthilfegruppen. Eduard Luszas, Psychotherapeut aus Göttingen, arbeitet auch mit Übungen aus dem Buddhismus, um seinen suchtkranken Patienten bei der Genesung zu helfen. Dabei stützt er sich auf Methoden der sogenannten Essentiellen Psychotherapie.
Erinnerung wird zur Stütze
Luszas selbst ist Buddhist, hat aber erst in den vergangenen Jahren aktiv die Verbindung zwischen seiner buddhistischen Praxis und seinem Beruf hergestellt. Das heißt nicht, dass er nun standardmäßig mit allen Patientinnen und Patienten meditiert. Doch was in der Meditation geübt werden könne, sei auch zentrales Element eines Lebens ohne Sucht, sagt Luszas.
"Wenn Sie eine Meditation machen, die die Geistesruhe fördern soll, dann nehmen Sie ein Objekt, beispielsweise beobachten Sie den Atem: Sie nehmen wahr, wie Sie einatmen, wie Sie ausatmen. Und dann denken Sie an die Einkaufsliste. Und dann erinnern Sie sich daran, was Sie hier eigentlich machen wollten."
Die Erinnerung wird zur Stütze – im Kleinen beim Meditieren, um zurück zum Atem zu finden, und im Großen, wenn es darum geht, sich immer wieder daran zu erinnern, warum man nochmal weg von der süchtig machenden Substanz wollte. Nicht etwa Willensstärke, sondern Achtsamkeit in Form von Erinnerung brauche ein Mensch, um abstinent zu bleiben, sagt Luszas.
Kraft geben mit der eigenen Geschichte
Ganz von der Sucht genesen könne man allerdings meistens nicht, meint Martin von "Recovery Dharma". So erlebe er es bei sich selbst und anderen. "Die Tendenzen bleiben da, und wenn man die bedient, dann kriegt man richtig Probleme, aber es ist irgendwann kein Full-Time-Job mehr, damit umzugehen", sagt Martin. "Also, jetzt zum Beispiel, die Leute hier im Park: Sie trinken und grillen, und ich habe jetzt überhaupt keinen Stress mehr damit, mir nicht an der Tanke ein Bier zu holen."
Früher sei er immer derjenige gewesen, der beim Feiern als Letzter nach Hause ging oder nach Hause geschickt wurde – und der sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern konnte. Irgendwann habe er die Filmrisse gar nicht mehr gezählt. Heute arbeitet der Familienvater nicht mehr in Vollzeit an seiner Sucht, sondern als Logistikmanager.Und am Sonn tagmorgen kann er bei "Recovery Dharma" anderen mit seiner Geschichte Kraft geben, wenn er von dem Leben erzählt, das er wieder hat.