Martin Gross: "Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land"
Spector Books, Leipzig 2020
368 Seiten, 22 Euro
Marcel Beyer empfiehlt "Das letzte Jahr"
02:11 Minuten
Das neu aufgelegte Buch erzählt von Menschen in Dresden, die dem Autor aus dem Westen gleich nach der Wende ihre Geschichten anvertraut haben. Marcel Beyer verschenkt es an ein junges Ost-West-Paar, damit sie sich und ihre Eltern besser verstehen.
Das Buch wurde erstmals 1992 veröffentlicht. Damals stieß es auf wenig Resonanz. In diesem Herbst nun ist es bei Spector-Books in Leipzig erneut erschienen – und meine große Wiederentdeckung des Jahres.
Anfang 1990 verschlägt es einen jungen westdeutschen Schriftsteller nach Dresden. Er beschließt, das Jahr in der Stadt zu verbringen und akribisch Protokoll über seine Eindrücke und Begegnungen zu führen. Er kommt als jemand, der von niemandem etwas will – außer Erzählungen.
Einblicke in eine unbekannte Welt
Und die Menschen, denen er begegnet, erzählen ihm freimütig. Die Zeitungsredakteurin, der Supermarktleiter, der Lokalpolitiker, die Tante, die er vorher nie getroffen hat. Er entlockt ihnen etwas, ohne ihnen je zu nahe zu treten. Womöglich schafft seine Unvertrautheit mit dem Osten eine geheime Komplizenschaft mit jenen, denen der Westen unvertraut ist.
Gegen die immer gleichen Erzählungen
Ich empfehle »Das letzte Jahr« allen, denen die immer gleichen Erzählungen über die ostdeutsche Gesellschaft langsam zum Hals heraushängen. So wie mir, der ich wenige Jahre, nachdem Martin Gross die Stadt wieder verlassen hatte, nach Dresden gezogen bin und bis heute manches wiedererkenne, was er in seinem Buch im Jahr 1990 meisterhaft erspürte.
Verschenken möchte ich »Das letzte Jahr« von Martin Gross an eines der jungen Ost-West-Paare in meinem Bekanntenkreis. An Nachwendekinder, die sich die Verhaltensweisen ihrer Eltern manchmal so schwer erklären können wie ihre eigenen.