Bücherboom statt Bankenkrise
Im Jahr 2008 stand Island kurz vor der Pleite, weil sich die Banken verzockt haben. Inzwischen geht es den Inselbewohnern wieder besser. Es wird weniger konsumiert - und mehr gelesen: Über 200 Neuerscheinungen präsentierte das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse.
In Island kann es schon mal heiß werden, 40 Grad und wärmer. Vorausgesetzt natürlich, man findet die richtigen Plätze. Der "Heiti Potturrin" zum Beispiel ist so einer. Ungefähr 20 Leute finden in diesen kreisförmigen Becken Platz, und in solchen heißen Pötten lässt sich das raue Klima auf der Nordatlantikinsel gut aushalten. Vor allem jetzt im Herbst, wenn bei lausig-kaltem Nordostwind die Außentemperaturen nur knapp über null Grad liegen.
Nach und nach füllen sich die dampfenden Becken, eine Gruppe Isländer hat es sich in dem 42 bis 44 Grad warmen Wasser bequem gemacht. Die Leute kommen jeden Morgen hierher, ein Freibad am Stadtrand von Reykjavik. 16 Männer und fünf Frauen holen sich zwischen sieben und acht Uhr den nötigen Schwung für den Arbeitsalltag. Zunächst sitzen sie ein paar Minuten im "Heiti Potturrin", um die Muskulatur aufzulockern, dann bittet Halldor Bergman Thorvaldsson zum anspruchsvolleren Teil der Veranstaltung: Liegestütze, Kniebeugen, Schattenboxen, Hampelmann - was der Kreislauf eben so braucht, um in Wallung zu kommen. Und Halldor Bergmann Thorvaldsson, ein beeindruckend gut gebauter Mann Anfang 60, zählt bei jeder Übung genau mit:
Irgendwann tritt einer aus der Gruppe heraus und stimmt ein Lied an. Auch das gehört zum Ritual, und spätestens jetzt wird den wenigen Touristen, die sich schon früh am Morgen ein Bad in den heißen Quellen gönnen, klar, was es heißt, in der nördlichsten Hauptstadt der Welt zu sein. So oder so ähnlich muss es im Bauch eines Wikingerschiffs geklungen haben, wenn die Nordmänner von ihren Raubzügen nach Hause kehrten.
Zusammenkünfte im "Heiti Potturrin" sind so etwas wie die gemäßigte Form des Stammtisches, schon wegen der Wassertemperaturen verbieten sich allzu hitzige Debatten. Der Ton bleibt auch heiter bis unaufgeregt, als an diesem Morgen über die immer noch allgegenwärtige "Krepa" gesprochen wird, die Wirtschaftskrise.
Die Krise habe Island nicht sehr geschadet, sagt einer und streicht sich dabei über seinen stattlichen Bauch. Es gebe Länder, die es schlimmer erwischt habe. Aber er habe doch seit der Krise zehn Kilogramm abgenommen, kommt es zurück. Ja, aber nur, weil das Lammfleisch so teuer geworden sei.
Die Isländer hätten sich nicht unterkriegen lassen, sagt Halldor Bergmann Thorvaldsson, der Vorturner der Gruppe. Inzwischen könne man auch Witze über die "Krepa" machen, auch wenn die letzten beiden Jahre Spuren hinterlassen hätten:
"Die Krise ist natürlich noch nicht vergessen. Aber wir hier sind eigentlich ganz gut davon gekommen. Klar, von uns haben viele ihre Ersparnisse verloren, aber die meisten haben einen sicheren Arbeitsplatz. Und das ist ja auch eine Menge wert! Keiner ist in einen Abgrund gefallen. Wir leben hier unser normales Leben. Aber wir wissen eben auch, dass die Krise noch nicht vorbei ist, dass es jeden erwischen kann. Und deswegen wird viel darüber diskutiert."
Es war im Oktober 2008, als Island fast im Nordatlantik versunken wäre. Der damalige Ministerpräsident Geir Haarde, der sich demnächst als erster und bisher einziger der damals Handelnden vor Gericht verantworten muss, hatte sich in einer mittlerweile legendären Fernsehansprache an das Volk gerichtet:
"Es besteht die reale Gefahr, liebe Landsleute, dass unsere Wirtschaft im Sog der Finanzkrise runtergezogen wird. Die Folge wäre ein Staatsbankrott. Ich will aber jeden Zweifel ausräumen, dass etwa die privaten Sparguthaben nicht sicher wären. Diese Einlagen werden voll ausgezahlt. Auch soll die Wirtschaft wissen, dass sie weiter Zugang zu Krediten hat."
Mit einem für isländische Verhältnisse ungewöhnlichen "Gott segne unser Land" endete die Rede. Da wussten die meisten: Jetzt wird es ernst! Die drei führenden Banken des Landes - Glitnir, Kaupthing und Landsbanki - waren nach jahrelangem Expansionskurs am Ende. In guten Zeiten hätten sie einem das Geld hinterher geschmissen, sagt der 38 Jahre alte Fischer Jon Gauti Dagbjartson. Wer sich eine halbe Million isländische Kronen leihen wollte, bekam eine ganze:
"Ich habe mein Geld verloren, und zwar sehr viel. Ich habe getan, was die meisten gemacht haben, nämlich den Kredit für mein Haus in fremder Währung aufgenommen. Durch den Wertverfall der Krone haben sich meine Schulden mehr als verdoppelt. Aber mir geht es immer noch besser als vielen anderen. Nehmen sie nur die Alten - viele haben ihre ganzen Pensionen verloren. Die Banken haben sie betrogen. Niemals hätten sich die Leute auf sie einlassen dürfen."
Die Banken waren damals ohne jede Kontrolle. Sie hatten überwiegend in Nordeuropa gekauft, was der Markt so hergab: andere Banken, Versicherungen, Fluggesellschaften, Handelsketten. "Die Wikinger auf Beutezug", hieß es in der internationalen Presse anerkennend, kritische Stimmen gab es kaum.
Doch es war ein Beutezug auf Pump. Die Schulden der Banken hatten 2008 aberwitzige Höhen erreicht, die das isländische Bruttoinlandsprodukt um ein Vielfaches überstiegen. Als wegen der Weltwirtschaftskrise auf dem internationalen Markt kein Geld mehr zu bekommen war, platzte die Blase. Der Staat musste per Notgesetz eingreifen, die Banken unter seine Kontrolle nehmen und viele Menschen, die sich bis dahin der schönen Illusion hingaben, die Zeiten des ungebremsten Konsums würden niemals enden, waren plötzlich arm.
Der Ärger entlud sich in zum Teil gewaltsamen Demonstrationen, etwas Vergleichbares hatte es auf der Insel noch nie gegeben. Bis zu 5.000 Leute zogen jeden Samstag vors Parlament zum "Austurvöllur", dem Ostplatz, bis die Regierung den Weg für Wahlen freimachte. Die änderten an der misslichen Situation vieler Isländer allerdings auch nichts. Die Party war vorbei - oder wie es der Schriftsteller Hallgrimur Helgason keineswegs trauernd formulierte: "Nie wieder Sushi!"
"Ich glaube, die Krise war gut für uns, weil die Leute in einer falschen Realität gelebt und Luftschlösser gebaut haben. Dann brach alles zusammen, die Menschen sind zu ihren Wurzeln zurückgekehrt, wurden sozusagen wieder isländisch. Das fühlt sich viel besser an. Die Leute lesen wieder mehr, was auch gut für uns Schriftsteller ist. Insgesamt waren es schon harte Zeiten, unsere Krone verlor mehr als die Hälfte ihres Wertes. Die Einzigen, die einigermaßen über die Runden kamen, waren die, die Fisch verkauften oder Bücher."
Hallgrimur Helgason gehört zu den erfolgreichsten isländischen Schriftstellern, auf der gerade abgelaufenen Frankfurter Buchmesse war er einer der am meisten gefragten Autoren des diesjährigen Gastlands. Den Roman über die Krise werde er noch schreiben, da ist sich Helgasson ganz sicher. Zurzeit allerdings ermüde ihn dieses Thema ein wenig:
"Vor der Krise habe ich viele Artikel für Zeitungen geschrieben, in denen ich die Regierung kritisiert habe. Ich habe auch 'Rokland' veröffentlicht, einen Roman über einen Mann, der gegen diesen Materialismus kämpft, der in Island im Jahr 2005 herrschte. In dieser Zeit dachten die Menschen nur ans Geld. Vor der Krise sagte keiner etwas über den Konsumrausch hier, alle machten mit. Aber jetzt schreibt jeder, jeder hat einen Blog, jeder regt sich auf. Und da plötzlich alle eine Meinung haben, kann ich es etwas ruhiger angehen lassen. Wenn so viele darüber schreiben, muss ich es nicht mehr tun."
Mit über 200 Neuerscheinungen trat Island auf der Buchmesse auf, die Palette reichte vom Roman bis zum Kochbuch. Auf der Insel mit seinen 320.000 Menschen, was in etwa der Einwohnerzahl einer mittelgroßen deutschen Stadt wie Wuppertal entspricht, gibt es über 30 Buchverlage. Dass die vom Buchverkauf leben können, liege daran, dass hier die Lust am Lesen und Erzählen seit jeher stark ausgeprägt ist, sagt Halldor Gudmundsson, der mit dem Buch "Wir sind alle Isländer" so etwas wie das Handbuch zur Wirtschaftskrise geschrieben hat. Über die Literatur, so Gudmundsson, habe sich erst eine isländische Identität entwickelt. Sie sei der einzige kulturelle Schatz, den dieses Volk bis ins 20. Jahrhundert vorweisen konnte. Dies sei vielen in der Krise wieder bewusst geworden:
"Der Buchmarkt 2009 schrumpft nicht, er wird eigentlich größer. Das zeigt auf jeden Fall, wie sehr sich die Leute auch in so einer mentalen Krise wie dieser auf die Literatur rückbesinnen. Das gibt es noch immer hier."
Doch mit der Rückbesinnung auf die Literatur allein war es natürlich nicht getan. Dass Island drei Jahre nach dem Fast-Bankrott das Schlimmste überstanden zu haben scheint, hat natürlich in erster Linie ökonomische Gründe. Als segensreich erwies es sich, dass die Regierung erst gar nicht den Versuch unternommen hatte, die Banken zu retten - was angesichts der Schulden auch illusorisch gewesen wäre - sondern sie Pleite gehen ließ. Vor allem auf Kosten ausländischer Gläubiger, wie sich auch in der Volksabstimmung über das sogenannte Icesave-Gesetz zeigte. Das wurde zweimal abgelehnt, es ging um immerhin vier Milliarden Euro nicht gezahlter Entschädigung an Sparer aus den Niederlanden und Großbritannien.
Und dass die Krone ins fast Bodenlose stürzte, hatte auch Vorteile: der Export - zum Beispiel in der traditionell starken Fischindustrie - profitierte, und auch der Tourismus meldete neue Bestmarken. Ein Urlaub auf der Insel war plötzlich ein bezahlbares Vergnügen. Andere Industriezweige wie die Aluminiumproduktion waren wegen der nahezu unerschöpflichen natürlichen Energiequellen ohnehin kaum von der Krise betroffen. Heute stehe das Land besser da als erwartet, sagt der Ökonom Gylfi Magnusson, der bis September letzten Jahres auch Wirtschaftsminister war:
"Alle Zeichen sprechen dafür, dass der Tiefpunkt im letzten Jahr erreicht wurde. Wir kriechen so langsam aus der Krise, die Staatsfinanzen sehen relativ gut aus, verglichen mit dem Rest Europas sogar sehr gut. Es ist noch kein starker Aufschwung, aber es geht in die richtige Richtung. Die Arbeitslosigkeit ist noch hoch, geht aber doch beträchtlich zurück. Unser Export ist stabil im Plus, und wir haben auch wieder ein wenig Wachstum, so zwischen 2,5 und drei Prozent, natürlich auf niedrigem Niveau."
Und je mehr sich ihre Wirtschaft erholt, desto geringer wird die Neigung der Isländer, der Europäischen Union beizutreten. Zwar laufen die Verhandlungen mit Brüssel längst und große Hindernisse scheint es nicht zu geben, sieht man mal von dem heiklen Thema Fischfang ab. Aber die EU und dazu den Euro als Schutz vor einem erneuten Absturz - das ginge vielen dann doch zu weit. Der Weg in die EU führt nicht übers Parlament, sondern über eine Volksabstimmung. 2008 war noch eine deutliche Mehrheit für einen Beitritt, heute sieht das schon wieder ganz anders aus. In Island, sagt Audur Jönsdottir, die Nichte des Literatur-Nobelpreisträgers Halldor Laxness, sei eben nicht nur die Natur unberechenbar:
"Ich glaube, die Menschen hier sind ein bisschen exotisch, ein bisschen eigen. Und wenn ich das sage, dann meine ich das nicht nur als Lob. Es ist die alte Geschichte: Wir leben nun mal in dieser Umgebung, in dieser Natur, und die macht die Gesellschaft auch in gewissem Maße roh. Manchmal sind wir auf eine ulkige Weise extrem, was auch Spaß machen kann. Ich habe ja selbst einige Jahre in Europa gelebt, und immer wenn ich zurückgekehrt bin, war mein erster Eindruck: Island gehört nicht zu Europa."
Auch wenn die Auswirkungen der Krise drei Jahre nach ihrem Ausbruch noch nicht überwunden sind, ist Island weit davon entfernt, das Armenhaus Europas zu sein. Die Straßencafés der Hauptstadt sind in den Sommermonaten gut gefüllt, und es sind nicht nur Touristen, die hier Lebensfreude versprühen. Das kleine Land befindet sich in einer Art Schwebezustand. Die Aufarbeitung der Krise hat erst begonnen, mit Spannung wird jetzt der Prozess gegen den früheren Ministerpräsidenten Geir Haarde erwartet.
Zu behaupten, die Gesellschaft habe sich verändert, wäre noch ein wenig früh, sagt Halldor Gudmundson. Die Menschen seien misstrauischer geworden, besonders gegenüber der Politik. Dadurch aber seien die Isländer auch mündiger geworden:
"Im Frühjahr 2010 war der Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission zum Zusammenbruch der isländischen Banken fünf Wochen auf Platz eins der Bestsellerliste. Ein ökonomischer Bericht in neun Bänden von 2.400 Seiten und nicht gerade humorvoll geschrieben."
Wenn man so will ein Beleg dafür, dass im Land der großen Erzählungen auch Sachprosa ihren Platz hat. Ein gegenüber Fremden gern erzählter Witz handelt von den kümmerlichen Wald- und Baumbeständen auf der Insel: Was macht ein Isländer, wenn er sich im Wald verirrt? Antwort: Er steht einfach auf. So ähnlich haben sich die Isländer auch in der Krise verhalten. Sie sind einfach wieder aufgestanden.
Nach und nach füllen sich die dampfenden Becken, eine Gruppe Isländer hat es sich in dem 42 bis 44 Grad warmen Wasser bequem gemacht. Die Leute kommen jeden Morgen hierher, ein Freibad am Stadtrand von Reykjavik. 16 Männer und fünf Frauen holen sich zwischen sieben und acht Uhr den nötigen Schwung für den Arbeitsalltag. Zunächst sitzen sie ein paar Minuten im "Heiti Potturrin", um die Muskulatur aufzulockern, dann bittet Halldor Bergman Thorvaldsson zum anspruchsvolleren Teil der Veranstaltung: Liegestütze, Kniebeugen, Schattenboxen, Hampelmann - was der Kreislauf eben so braucht, um in Wallung zu kommen. Und Halldor Bergmann Thorvaldsson, ein beeindruckend gut gebauter Mann Anfang 60, zählt bei jeder Übung genau mit:
Irgendwann tritt einer aus der Gruppe heraus und stimmt ein Lied an. Auch das gehört zum Ritual, und spätestens jetzt wird den wenigen Touristen, die sich schon früh am Morgen ein Bad in den heißen Quellen gönnen, klar, was es heißt, in der nördlichsten Hauptstadt der Welt zu sein. So oder so ähnlich muss es im Bauch eines Wikingerschiffs geklungen haben, wenn die Nordmänner von ihren Raubzügen nach Hause kehrten.
Zusammenkünfte im "Heiti Potturrin" sind so etwas wie die gemäßigte Form des Stammtisches, schon wegen der Wassertemperaturen verbieten sich allzu hitzige Debatten. Der Ton bleibt auch heiter bis unaufgeregt, als an diesem Morgen über die immer noch allgegenwärtige "Krepa" gesprochen wird, die Wirtschaftskrise.
Die Krise habe Island nicht sehr geschadet, sagt einer und streicht sich dabei über seinen stattlichen Bauch. Es gebe Länder, die es schlimmer erwischt habe. Aber er habe doch seit der Krise zehn Kilogramm abgenommen, kommt es zurück. Ja, aber nur, weil das Lammfleisch so teuer geworden sei.
Die Isländer hätten sich nicht unterkriegen lassen, sagt Halldor Bergmann Thorvaldsson, der Vorturner der Gruppe. Inzwischen könne man auch Witze über die "Krepa" machen, auch wenn die letzten beiden Jahre Spuren hinterlassen hätten:
"Die Krise ist natürlich noch nicht vergessen. Aber wir hier sind eigentlich ganz gut davon gekommen. Klar, von uns haben viele ihre Ersparnisse verloren, aber die meisten haben einen sicheren Arbeitsplatz. Und das ist ja auch eine Menge wert! Keiner ist in einen Abgrund gefallen. Wir leben hier unser normales Leben. Aber wir wissen eben auch, dass die Krise noch nicht vorbei ist, dass es jeden erwischen kann. Und deswegen wird viel darüber diskutiert."
Es war im Oktober 2008, als Island fast im Nordatlantik versunken wäre. Der damalige Ministerpräsident Geir Haarde, der sich demnächst als erster und bisher einziger der damals Handelnden vor Gericht verantworten muss, hatte sich in einer mittlerweile legendären Fernsehansprache an das Volk gerichtet:
"Es besteht die reale Gefahr, liebe Landsleute, dass unsere Wirtschaft im Sog der Finanzkrise runtergezogen wird. Die Folge wäre ein Staatsbankrott. Ich will aber jeden Zweifel ausräumen, dass etwa die privaten Sparguthaben nicht sicher wären. Diese Einlagen werden voll ausgezahlt. Auch soll die Wirtschaft wissen, dass sie weiter Zugang zu Krediten hat."
Mit einem für isländische Verhältnisse ungewöhnlichen "Gott segne unser Land" endete die Rede. Da wussten die meisten: Jetzt wird es ernst! Die drei führenden Banken des Landes - Glitnir, Kaupthing und Landsbanki - waren nach jahrelangem Expansionskurs am Ende. In guten Zeiten hätten sie einem das Geld hinterher geschmissen, sagt der 38 Jahre alte Fischer Jon Gauti Dagbjartson. Wer sich eine halbe Million isländische Kronen leihen wollte, bekam eine ganze:
"Ich habe mein Geld verloren, und zwar sehr viel. Ich habe getan, was die meisten gemacht haben, nämlich den Kredit für mein Haus in fremder Währung aufgenommen. Durch den Wertverfall der Krone haben sich meine Schulden mehr als verdoppelt. Aber mir geht es immer noch besser als vielen anderen. Nehmen sie nur die Alten - viele haben ihre ganzen Pensionen verloren. Die Banken haben sie betrogen. Niemals hätten sich die Leute auf sie einlassen dürfen."
Die Banken waren damals ohne jede Kontrolle. Sie hatten überwiegend in Nordeuropa gekauft, was der Markt so hergab: andere Banken, Versicherungen, Fluggesellschaften, Handelsketten. "Die Wikinger auf Beutezug", hieß es in der internationalen Presse anerkennend, kritische Stimmen gab es kaum.
Doch es war ein Beutezug auf Pump. Die Schulden der Banken hatten 2008 aberwitzige Höhen erreicht, die das isländische Bruttoinlandsprodukt um ein Vielfaches überstiegen. Als wegen der Weltwirtschaftskrise auf dem internationalen Markt kein Geld mehr zu bekommen war, platzte die Blase. Der Staat musste per Notgesetz eingreifen, die Banken unter seine Kontrolle nehmen und viele Menschen, die sich bis dahin der schönen Illusion hingaben, die Zeiten des ungebremsten Konsums würden niemals enden, waren plötzlich arm.
Der Ärger entlud sich in zum Teil gewaltsamen Demonstrationen, etwas Vergleichbares hatte es auf der Insel noch nie gegeben. Bis zu 5.000 Leute zogen jeden Samstag vors Parlament zum "Austurvöllur", dem Ostplatz, bis die Regierung den Weg für Wahlen freimachte. Die änderten an der misslichen Situation vieler Isländer allerdings auch nichts. Die Party war vorbei - oder wie es der Schriftsteller Hallgrimur Helgason keineswegs trauernd formulierte: "Nie wieder Sushi!"
"Ich glaube, die Krise war gut für uns, weil die Leute in einer falschen Realität gelebt und Luftschlösser gebaut haben. Dann brach alles zusammen, die Menschen sind zu ihren Wurzeln zurückgekehrt, wurden sozusagen wieder isländisch. Das fühlt sich viel besser an. Die Leute lesen wieder mehr, was auch gut für uns Schriftsteller ist. Insgesamt waren es schon harte Zeiten, unsere Krone verlor mehr als die Hälfte ihres Wertes. Die Einzigen, die einigermaßen über die Runden kamen, waren die, die Fisch verkauften oder Bücher."
Hallgrimur Helgason gehört zu den erfolgreichsten isländischen Schriftstellern, auf der gerade abgelaufenen Frankfurter Buchmesse war er einer der am meisten gefragten Autoren des diesjährigen Gastlands. Den Roman über die Krise werde er noch schreiben, da ist sich Helgasson ganz sicher. Zurzeit allerdings ermüde ihn dieses Thema ein wenig:
"Vor der Krise habe ich viele Artikel für Zeitungen geschrieben, in denen ich die Regierung kritisiert habe. Ich habe auch 'Rokland' veröffentlicht, einen Roman über einen Mann, der gegen diesen Materialismus kämpft, der in Island im Jahr 2005 herrschte. In dieser Zeit dachten die Menschen nur ans Geld. Vor der Krise sagte keiner etwas über den Konsumrausch hier, alle machten mit. Aber jetzt schreibt jeder, jeder hat einen Blog, jeder regt sich auf. Und da plötzlich alle eine Meinung haben, kann ich es etwas ruhiger angehen lassen. Wenn so viele darüber schreiben, muss ich es nicht mehr tun."
Mit über 200 Neuerscheinungen trat Island auf der Buchmesse auf, die Palette reichte vom Roman bis zum Kochbuch. Auf der Insel mit seinen 320.000 Menschen, was in etwa der Einwohnerzahl einer mittelgroßen deutschen Stadt wie Wuppertal entspricht, gibt es über 30 Buchverlage. Dass die vom Buchverkauf leben können, liege daran, dass hier die Lust am Lesen und Erzählen seit jeher stark ausgeprägt ist, sagt Halldor Gudmundsson, der mit dem Buch "Wir sind alle Isländer" so etwas wie das Handbuch zur Wirtschaftskrise geschrieben hat. Über die Literatur, so Gudmundsson, habe sich erst eine isländische Identität entwickelt. Sie sei der einzige kulturelle Schatz, den dieses Volk bis ins 20. Jahrhundert vorweisen konnte. Dies sei vielen in der Krise wieder bewusst geworden:
"Der Buchmarkt 2009 schrumpft nicht, er wird eigentlich größer. Das zeigt auf jeden Fall, wie sehr sich die Leute auch in so einer mentalen Krise wie dieser auf die Literatur rückbesinnen. Das gibt es noch immer hier."
Doch mit der Rückbesinnung auf die Literatur allein war es natürlich nicht getan. Dass Island drei Jahre nach dem Fast-Bankrott das Schlimmste überstanden zu haben scheint, hat natürlich in erster Linie ökonomische Gründe. Als segensreich erwies es sich, dass die Regierung erst gar nicht den Versuch unternommen hatte, die Banken zu retten - was angesichts der Schulden auch illusorisch gewesen wäre - sondern sie Pleite gehen ließ. Vor allem auf Kosten ausländischer Gläubiger, wie sich auch in der Volksabstimmung über das sogenannte Icesave-Gesetz zeigte. Das wurde zweimal abgelehnt, es ging um immerhin vier Milliarden Euro nicht gezahlter Entschädigung an Sparer aus den Niederlanden und Großbritannien.
Und dass die Krone ins fast Bodenlose stürzte, hatte auch Vorteile: der Export - zum Beispiel in der traditionell starken Fischindustrie - profitierte, und auch der Tourismus meldete neue Bestmarken. Ein Urlaub auf der Insel war plötzlich ein bezahlbares Vergnügen. Andere Industriezweige wie die Aluminiumproduktion waren wegen der nahezu unerschöpflichen natürlichen Energiequellen ohnehin kaum von der Krise betroffen. Heute stehe das Land besser da als erwartet, sagt der Ökonom Gylfi Magnusson, der bis September letzten Jahres auch Wirtschaftsminister war:
"Alle Zeichen sprechen dafür, dass der Tiefpunkt im letzten Jahr erreicht wurde. Wir kriechen so langsam aus der Krise, die Staatsfinanzen sehen relativ gut aus, verglichen mit dem Rest Europas sogar sehr gut. Es ist noch kein starker Aufschwung, aber es geht in die richtige Richtung. Die Arbeitslosigkeit ist noch hoch, geht aber doch beträchtlich zurück. Unser Export ist stabil im Plus, und wir haben auch wieder ein wenig Wachstum, so zwischen 2,5 und drei Prozent, natürlich auf niedrigem Niveau."
Und je mehr sich ihre Wirtschaft erholt, desto geringer wird die Neigung der Isländer, der Europäischen Union beizutreten. Zwar laufen die Verhandlungen mit Brüssel längst und große Hindernisse scheint es nicht zu geben, sieht man mal von dem heiklen Thema Fischfang ab. Aber die EU und dazu den Euro als Schutz vor einem erneuten Absturz - das ginge vielen dann doch zu weit. Der Weg in die EU führt nicht übers Parlament, sondern über eine Volksabstimmung. 2008 war noch eine deutliche Mehrheit für einen Beitritt, heute sieht das schon wieder ganz anders aus. In Island, sagt Audur Jönsdottir, die Nichte des Literatur-Nobelpreisträgers Halldor Laxness, sei eben nicht nur die Natur unberechenbar:
"Ich glaube, die Menschen hier sind ein bisschen exotisch, ein bisschen eigen. Und wenn ich das sage, dann meine ich das nicht nur als Lob. Es ist die alte Geschichte: Wir leben nun mal in dieser Umgebung, in dieser Natur, und die macht die Gesellschaft auch in gewissem Maße roh. Manchmal sind wir auf eine ulkige Weise extrem, was auch Spaß machen kann. Ich habe ja selbst einige Jahre in Europa gelebt, und immer wenn ich zurückgekehrt bin, war mein erster Eindruck: Island gehört nicht zu Europa."
Auch wenn die Auswirkungen der Krise drei Jahre nach ihrem Ausbruch noch nicht überwunden sind, ist Island weit davon entfernt, das Armenhaus Europas zu sein. Die Straßencafés der Hauptstadt sind in den Sommermonaten gut gefüllt, und es sind nicht nur Touristen, die hier Lebensfreude versprühen. Das kleine Land befindet sich in einer Art Schwebezustand. Die Aufarbeitung der Krise hat erst begonnen, mit Spannung wird jetzt der Prozess gegen den früheren Ministerpräsidenten Geir Haarde erwartet.
Zu behaupten, die Gesellschaft habe sich verändert, wäre noch ein wenig früh, sagt Halldor Gudmundson. Die Menschen seien misstrauischer geworden, besonders gegenüber der Politik. Dadurch aber seien die Isländer auch mündiger geworden:
"Im Frühjahr 2010 war der Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission zum Zusammenbruch der isländischen Banken fünf Wochen auf Platz eins der Bestsellerliste. Ein ökonomischer Bericht in neun Bänden von 2.400 Seiten und nicht gerade humorvoll geschrieben."
Wenn man so will ein Beleg dafür, dass im Land der großen Erzählungen auch Sachprosa ihren Platz hat. Ein gegenüber Fremden gern erzählter Witz handelt von den kümmerlichen Wald- und Baumbeständen auf der Insel: Was macht ein Isländer, wenn er sich im Wald verirrt? Antwort: Er steht einfach auf. So ähnlich haben sich die Isländer auch in der Krise verhalten. Sie sind einfach wieder aufgestanden.