Bücherfrühling 2020

Leben in Diktaturen und in Armut

Grafik: Frau öffnet ein Buch mit leuchtendem Licht.
Bücher für den Frühling: Darunter "Der Empfänger" von Ulla Lenze und "Palast der Miserablen" von Abbas Khider. © imago images/Ikon Images/AlicexMollon
Moderation: Andrea Gerk und Jörg Plath |
Die Leipziger Buchmesse ist abgesagt – der Bücherfrühling nicht. Wir haben mit Lutz Seiler gesprochen, dem Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse, außerdem mit Ingo Schulze, Ulla Lenze, Bov Bjerg, Christian Baron und Abbas Khider.
Lutz Seiler: "Stern 111"
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"Als die West-Hausbesetzer kamen, war die gute Laune weg", sagt Lutz Seiler – was ihn aber nicht davon abgehalten hat, einen Roman über die anarchischen Jahre in Ost-Berlin kurz nach der Wende zu schreiben. Und über die Betreiber und Besucher einer Kellerkneipe namens "Assel", die es wirklich gab und in der Lutz Seiler seinerzeit kellnerte.
In "Stern 111" ist die "Assel" zugleich der Ort, an dem Carl Bischoff ein Zuhause findet, nachdem seine Eltern Wohnung, Garten, Auto, Arbeit, Staat und nicht zuletzt ihn Richtung Westen verlassen haben, um einen lang gehegten Traum zu verwirklichen, von dem ihr Sohn nichts ahnte.
Für seinen warmherzig, rhythmisch und bildgewaltig erzählten Roman hat Lutz Seiler gerade den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik bekommen. Warum er jetzt trotzdem gern wieder mehr Gedichte schreiben möchte und was der "Stern" im Buchtitel mit seinem Leben zu tun hat, das erzählt Lutz Seiler im Gespräch mit Jörg Plath.
Buchcover des Romans "Stern 111" von Lutz Seiler. Zu sehen ist ein Ausschnicht eines Transistorradios.
© Suhrkamp Verlag
Der Schriftsteller Lutz Seiler: Für sein neues Buch erhielt er den Leipziger Buchpreis 2020.
Lutz Seiler hat seinen Roman nach dem „Stern 111“-Radio benannt, die erste technische Errungenschaft in seiner Familie.© dpa / picture alliance / Arne Dedert

Ingo Schulze: "Die rechtschaffenen Mörder"
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Buchcover von "Die rechtschaffenen Mörder" von Ingo Schulze. Zu sehen ist eine grafische Darstellung eines Bücherregals.
© S. Fischer
Ein ziemliches Rätsel sei der neue Roman von Ingo Schulze, so das Resümee vieler Rezensionen. Wenig sei so, wie es am Anfang scheine, und am Ende sei man weit entfernt davon, alles verstanden zu haben. Eines allerdings schon: Was gut ist und was falsch, was und wer rebellisch, opportun oder schlicht überflüssig – das entscheidet zumeist der Kontext. Die Geschichte. Und nicht zuletzt Ton und Haltung, in dem sie erzählt werden.
"Ich mag das altertümliche Erzählen", sagt Ingo Schulze über den ersten Teil seines neuen Romans, der im Stil einer Novelle aus dem 19. Jahrhundert von dem Dresdner Antiquar Norbert Paulini erzählt. Der in der DDR ein Held eines dissidenten Bildungsbürgertums ist, nach der Wende aber in die Bedeutungslosigkeit versinkt und nach rechts abdriftet.
Dessen Geschichte wird im Roman, das zeigt sein zweiter Teil, allerdings von einem Schriftsteller namens Schultze erzählt wird, der mit Paulini um eine Frau konkurriert. Schultze wird wiederum im dritten Teil des Romans, erzählt von seiner Münchner Lektorin, suspekt. "Die rechtschaffenen Mörder" ist ein Spiegelkabinett über die DDR und die BRD, über nach 1989 zerbrochene Biographien und verheerende Enttäuschungen. Jörg Plath im Gespräch mit Ingo Schulze.

Abbas Khider: "Palast der Miserablen"
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Der junge Sham entdeckt seine Liebe zu Büchern just zu der Zeit, als man in Bagdad unter Saddam Hussein schon im Gefängnis landen konnte, wenn man mit einer der Regierung unliebsamen Zeitschrift in den Händen erwischt wurde - man musste sie nicht einmal gelesen haben. Auch Sham landet hinter Gittern, wird gefoltert und findet Halt in der Kraft der Literatur.
"In harten Zeiten entdecken Menschen ihren wahren Kern", sagt Abbas Khider. Er besteht nicht selten in ihrer Fähigkeit zur Hoffnung und vor allem zur Kreativität. Als Khider im Irak im Gefängnis saß, schrieb er mit angespitzten Steinen Gedichte an die Zellenwände. Dichtung half ihm, die Zeit zu überstehen. "Palast der Miserablen" sei daher auch ein Buch über sein Leben und seine Erfahrungen.
Was es mit Menschen macht, wenn ihr Alltag von einer Diktatur geprägt ist, und wie es gelingt, mit Wärme und Humor über bittere Wirklichkeiten zu schreiben – darüber spricht Abbas Khider mit Andrea Gerk. Und enthüllt nebenbei auch seine besondere Beziehung zu einer "Zicke": der deutschen Sprache.
"Palast der Miserablen" von Abbas Khider. Zu sehen ist ein historisches Foto von einem Kind, das mit einem Holzreifen spielt.
© Carl Hanser Verlag
Der Autor Abbas Khider zu Besuch im Funkhaus vom Deutschlandradio Kultur
Der Autor Abbas Khider zu Besuch im Funkhaus vom Deutschlandradio Kultur© Deutschlandradio-Maurice Wojach
Nachdem sie von der Mutter Briefe und Fotografien ihres Großonkels erhalten hat, beginnt Ulla Lenze zu recherchieren. Sie stößt auf ein Netzwerk von Agenten, die in den 1930er Jahren in den USA für das nationalsozialistische Deutschland spionierten. Mittendrin Lenzes Großonkel Josef Klein, geboren in Düsseldorf und wie viele vor der Not der Hyperinflation ausgewandert nach New York. Ein stiller und unauffälliger Mann, der nur eine Leidenschaft hat: Er ist Amateurfunker.
Buchcover "Der Empfänger" von Ulla Lenze. Zu sehen ist ein historisches Foto von einem Mann, der eine Straße entlang läuft.
© Klett-Cotta
Mit einem selbstgebauten Funkgerät schickt Josef Klein für eine Firma Informationen nach Deutschland. Als er merkt, dass hinter der Firma der deutsche Auslandsgeheimdienst steckt, ist er bereits ein Rädchen im Spionagenetzwerk der Nazis. Kein großes, aber ein notwendiges. Klein wird gefasst, inhaftiert und kommt nach dem Krieg zurück in das zerstörte Deutschland zu Bruder und Schwägerin. Eine Geschichte über einen kleinen Mann in gefährlichen Zeiten. Und über Passivität und Unentschiedenheit.
Im Gespräch mit Jörg Plath erzählt Ulla Lenze, was passiert, wenn man "lieber empfängt, statt zu senden", wenn man sich nicht positionieren will. Und warum historische Fakten nie die ganze Geschichte erzählen.
Porträt von Ulla Lenze vor hellem Hintergrund.
Ulla Lenze hat sich auf die Spuren ihrer eigenen Familiengeschichte begeben. © Julien Menand/Opale/Leemage/laif
Bov Bjerg: "Serpentinen"
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"Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt" – viel düsterer kann ein Buch nicht anfangen. Bov Berg erzählt von einer Reise, die ein Vater mit seinem Sohn zu den Orten seiner Kindheit unternimmt. Es ist eine Geschichte von familiären Depressionen, und sie umkreist die Frage, ob es eine persönliche Schwäche ist, wenn man das Leben nicht mehr erträgt - oder ob es die Normen und Konventionen der Gesellschaft sind, die das Leben unerträglich machen.
Buchcover "Serpentinen" von Bov Bjerg. Zu sehen ist eine grafischer Darstellung einer Straße, die ins Nirgendwo verläuft.
© Claassen
Der Roman, sagt Bov Bjerg, sei durchaus ein "Buch über Befreiung": die Befreiung von der Nazi-Vergangenheit der Vorfahren, der Befreiung der Frauen aus entwürdigenden Ehen und der Kinder von demütigenden Erziehungsprinzipien.
Warum er seinen Protagonisten darüber nachdenken lässt, seinen Sohn umzubringen und solch ein Buch nie wieder schreiben will, das erzählt Bov Bjerg im Gespräch mit Andrea Gerk.
Bov Bjerg bei der Premiere des Kinofilms 'Auerhaus' im Cineplex Filmpalast. Köln, 26.11.2019.
Bov Bjerg bei der Premiere des Kinofilms "Auerhaus".© picture alliance / Geisler-Fotopress / Jens Krick
Christian Baron: "Ein Mann seiner Klasse"
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Christian Baron, Mitte der 1980er Jahre in Kaiserslautern geboren, wächst in Armut auf. Mit einem Vater, der das letzte Geld der Familie "in irgendeiner Spelunke versoff" und "die Mutter blutig prügelte". Von dem Baron sich dennoch immer innig wünschte, dass er bleibe.
"Ein Mann seiner Klasse" von Christian Baron. Auf einem grünen Cover ist ein Schwarzweißfoto zu sehen. Darauf hält eine Frau ein Baby im Arm.
© Claassen
Dass Christian Baron später studieren und als Journalist arbeiten wird, diesen Weg legt seine Herkunft und Kindheit nicht nahe. Ohne die Hilfe von Förderern hätte er es nicht geschafft, da ist er sich heute sicher. Er habe Glück gehabt. Erst spät allerdings habe er verstanden, dass sein Vater dieses Glück nicht besaß. Dass er eben "Ein Mann seiner Klasse" war, und dass seine Geschichte wert ist, erzählt zu werden.
Denn die andere, vorherrschende liberale Erzählung vom gesellschaftlichen Aufstieg aus eigener Kraft, durch Leistung, hält Christian Baron für eine alte Lüge. Wie Literatur diese Lüge aufdecken kann, das erzählt er im Gespräch mit Andrea Gerk.


(lhe)
Christian Baron im Porträt
Aufstieg aus der Armut: Christian Baron studierte Politologie, Soziologie und Germanistik. Ohne fremde Hilfe wäre das nicht gelungen, sagt er.© Hans Scherhaufer
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