Gegen die Nationalheinis, für Ferkeldeutsch
In seiner Dankesrede für den Büchner-Preis hat Marcel Beyer den Sprachfundamentalismus von "Nationalheinis" attackiert. Der in Dresden lebende Schriftsteller kritisierte die Vorstellung von "Normdeutschen" und lobte "ferkeldeutsche Figuren" in Büchners Drama "Woyzeck".
Nein, es ging diesmal nicht um Füchse, Bienen oder Dohlen, die Anke te Heesen in ihrer großartigen Laudatio auf den Georg-Büchner-Preisträger 2016 als die Haustiere der Texte von Marcel Beyer aufzählte. Doch wieder spielte ein Tier eine Hauptrolle in der packenden Geschichte, die Beyer dem Darmstädter Publikum mitbrachte. Ein tollwütiger Hund nämlich, der 1808 in Holland eine alte Dame beißt. Die wird zwar vom jungen Regimentschirurgen Ernst Büchner, dem Vater Georg Büchners, behandelt, stirbt aber doch. Der Hund bleibt unentdeckt – niemand hat ihn gesehen.
Marcel Beyer: "Bisse von Hunden, um sich speiende alte Frauen, dem Hexenzauberglauben verfallende Knechte und Mägde, die am Sterbebett in Gelächter ausbrechen. Ernst Büchner verlässt Holland, wie ein von der Heillosigkeit in die Flucht geschlagener Landarzt. Du Vieh, schreie ich wütend, willst Du die Peitsche? Als er nach Hessen zurückgekehrt ist, zeugt er einen Sohn. Und gibt den Namen nicht eines Hundebezwingers, er gibt ihm den Namen, sicher ist sicher, den Namen des großen Drachentöters, Georg."
Das Deutsch der Zicken und Zecken
Es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass ein Büchner-Preisträger in seiner Dankesrede seine Liebe zur Sprache Georg Büchners offenbart. Doch wie Marcel Beyer Büchners sprachliche Promenaden-Mischung, jenes "Ferkeldeutsch" wie er sagt, in Darmstadt feierte, war furios:
"Ein Deutsch, offen nach allen Seiten, hochartifiziell und zugleich hingeferkelt wie die Manuskriptblätter, auf denen Woyzeck überliefert ist. Ein angefressenes, ein angestecktes Deutsch, wie eine nach Hundebiss grässlich entstellte Hand. Ein Wölfinnen- und Zicken- und Zeckendeutsch. Das sich bei seiner Offenheit für Rotwelsch und Argot, wie nebenbei offen für Ferkeleien zeigt. Ein Halb- und Doppelwesendeutsch, das sich bis heute niemand zweifelsfrei entziffert hat."
Mit Büchner, so Beyer, gerate man auf die "Rückseite der Sprache, auf die Rückseite der Welt". Aus Büchners "ferkeldeutschen Figuren" könne man keine guten "Normdeutschen" machen, konstatiert Beyer.
Büchner und sein Woyzeck passen so gar nicht zu aktuell wieder angesagten nationalistisch-fundamentalistischen "Lesarten der Welt", das machte Beyer in seiner Darmstädter Rede unmissverständlich klar. In Sprachfundamentalismus drohe die Welt gerade zu versinken, sorgte sich der Preisträger. Doch vor der Sprache "rette ihn die Sprache, rette ihn Woyzeck, beruhige ihn Büchner". Von Menschen, die auf dem "Nationalschlauch" stehen, brauche er sich in Sachen Kultur nicht belehren zu lassen, so Marcel Beyer, der seit 20 Jahren in Dresden lebt:
"In meiner Welt, hier auf der Rückseite der Welt, wo Georg Büchner gegangen ist, wo das Goyahündchen hockt, dürfen die tollwütigen Ladys bis ans Ende der Zeit in ihren schicken SUVs durch die verkehrsberuhigte Zone rasen, während sich auf der Rückbank Knecht und Magd in Unzucht übereinander wälzen, das grobe Leder aneinander reiben. Mit kühnem Sprunge retten sich die Nationalheinis in ihre sprachlichen Stiefmütterchenrabatten."
Das Volk braucht Poesie!
Sprachliches Spießertum – mit dem langweilten auch die anderen Preisträger und ihre Laudatoren in Darmstadt keineswegs: Weder Kathrin Passig, eine Schriftstellerin des Internet-Zeitalters, die den Johann Heinrich-Merck-Preis bekam und ihr Laudator Per Leo. Noch der Universalgelehrte und Monotheismus-Kritiker Jan Assmann, der den Sigmund Freund-Preis empfing und sein ebenfalls ziemlich belesener Laudator Antonio Loprieno. Doch vor allem Marcel Beyer erfüllte mit seiner Rede den Anspruch, den Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei ihrer Begrüßung der Preisträger zuvor gestellt hatte:
"Anknüpfend an Simone Veils Diktum 'Das Volk braucht Poesie wie Brot' formulierte im Übrigen Ingeborg Bachmann, Büchner-Preisträgerin des Jahres 1964, den selbst gesteckten Anspruch, ich zitiere: Poesie wie Brot! Dieses Brot müsste zwischen den Zähnen knirschen, und den Hunger wieder erwecken, ehe es ihn stillt. Und diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können."
Dass es nötig ist, die Menschen angesichts des wieder aufziehenden Nationalismus wach zu rütteln, daran ließ Grütters in ihrem Vortrag über die "Macht der Worte" keinen Zweifel. Dazu diene auch die Kunstfreiheit, die konstitutiv sei für die Demokratie:
"Wir brauchen, davon bin ich überzeugt, die provozierenden Künstler, die verwegenen Denker. Wir brauchen die Utopien, die sie entwerfen, die Phantasie, die sie antreibt. Aber auch die Schärfe ihres Verstandes. Sie verhindern damit, das intellektuelle Trägheit, argumentative Fantasielosigkeit und ja, auch politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern."
Die Künstler, so Grütters, seien imstande, die Gesellschaft vor "gefährlicher Lethargie und damit auch natürlich vor neueren gefährlichen Anwandlungen zu bewahren". Die Freiheiten der Künstlermilieus zu schützen sei deshalb heute "oberster Grundsatz, vornehmste Pflicht verantwortungsvoller Kulturpolitik", betonte Grütters. Nicht zuletzt eben auch im Vertrauen auf die Kraft der Worte.
Dass diese Kraft kein Phantom ist wie der tollwütige Hund in Holland, belegten in Darmstadt eindrucksvoll insbesondere Marcel Beyer und seine Laudatorin.