Büchner-Preisträgerin Terézia Mora

"Diese Erzählerin ist unerbittlich"

Porträt einer Frau mit schwarzen glatten Haaren, die direkt in die Kamera blickt.
In ihrer Dankesrede für den Georg-Büchner-Preis kritisierte Terézia Mora "hetzerische Reden". © dpa / picture-alliance
Daniela Strigl im gespräch mit Joachim Scholl · 29.10.2018
"Der Kritiker ist Platzanweiser im Circus Maximus des Literaturbetriebs", sagt die Kritikerin Daniela Strigl. Bei ihrer Laudatio auf die Büchner-Preisträgerin Terezia Mora sagte sie: "Was sie schreibt, spricht für sich. Es hat mit Wut zu tun und mit Mut."
Die gebürtige Ungarin Terézia Mora hat in diesem Jahr den Georg-Büchner-Preis erhalten. Bei ihrer Rede im Staatstheater Darmstadt sagte die Schriftstellerin:
"Durch die Hütte als solche rollt die ganze Welt. Die Hütten sind immer offen, auch wenn die Grenzen zu sind. Das ist ein Wissen, das ich mitgebracht habe, aber auch – und das sehen wir wieder im Woyzeck –, dass die Umstände allein noch nicht reichen, um etwas tragisch werden zu lassen. Es ist das, was du tust oder eben nicht tust."
27.10.2018, Hessen, Darmstadt: Ernst Osterkamp (l), Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, übergibt im Darmstädter Staatstheater den Georg-Büchner-Preis 2018 an die deutsch-ungarische Schriftstellerin Terézia Mora (r).
Terezia Mora bei der Verleihung des Georg Büchner-Preises.© dpa / Frank Rumpenhorst
Die österrreichische Literaturkritikerin Daniela Strigl war bei der Preisverleihung dabei und hat die Laudatio auf Terézia Mora gehalten.
Joachim Scholl: Frau Strigl, wir haben Terézia Mora gerade gehört, einige Sätze aus ihrer Preisrede, die über das rein Literarische hinaus politisch sehr engagiert war, ebenfalls am Abend wurde ja Ihr Landsmann, der österreichische Schriftsteller Martin Pollack – also Ihr Landsmann, Frau Strigl – mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik ausgezeichnet. Auch da in der Preisrede sowie in der Laudatio ging es kämpferisch-engagiert zu. War das ein ausgesprochen politischer Abend da in Darmstadt?
Strigl: Ja. Und ich glaube, dass das ja auch durchaus Georg Büchner angemessen ist, dass man auf diese Dinge zu sprechen kommt und nicht nur im ästhetischen Garten verharrt.

Politik war auch ein Thema in Darmstadt

Scholl: Sie waren ja einige Tage in Hessen, jetzt gestern die Landtagswahl so mit den erwarteten Erschütterungsergebnissen. Wurde in Darmstadt in den literarischen Zirkeln der Akademie auch darüber gesprochen?
Strigl: Doch, am Rande, weil in Darmstadt ja ein grüner Oberbürgermeister das Regiment führt. In Österreich ist das undenkbar, da haben die Grünen sich selbst abgeschafft. Und es war doch interessant, da mit den deutschen Kollegen drüber zu sprechen.
Scholl: Ihre Laudatio nun auf Terézia Mora haben Sie, Frau Strigl, als Alphabet gestaltet, also kurze Kapitel von A bis Z. Eine ganz schicke Idee, wie wir fanden. Unter dem Buchstaben W schreiben Sie: "Muss man sagen, dass Terézia Mora eine politische Autorin ist? Was sie schreibt, spricht für sich. Es hat mit Wut zu tun und mit Mut." Was ist das für eine Wut?

W – wie Wut

Strigl: Eine Wut angesichts dessen, was in der Welt vor unserer Nase und weiter weg Menschen angetan wird, wie über sie gesprochen wird. Es ist eine Wut, die bei Terézia Mora vielleicht mit einer gewissen Melancholie gepaart ist, aber das hindert sie nicht daran, die Dinge eben auch in ihrer Literatur zur Sprache zu bringen. Das ist das, was sie interessiert. Die kleinen Leute, die, die unter die Räder kommen, und die, über die verachtend, menschenverachtend gesprochen wird.

D – wie Drastik

Scholl: Ich fand diesen Satz von Ihnen auch so interessant, weil man bei Terézia Mora, in ihren Romanen, ja eigentlich jetzt nicht irgendwelche politische Aussagen im Wortsinn findet. Ihr Engagement für den Menschen, die Humanität ist da so völlig in die Literatur, in die Figuren und in die Sprache eingeschmolzen. Und in Ihrem Mora-Alphabet haben Sie auch einen Buchstaben "D wie Drastik" entwickelt. "Der drastische Satz", so schreiben Sie da, "lässt uns, so Mora, keine Chance, die in ihm enthaltene Wahrheit zu leugnen. Diese Erzählerin ist unerbittlich." Ist es das, was auch Sie als Kritikerin, Frau Strigl, an dieser Autorin beeindruckt?
Strigl: Ja. Dass sie nicht spekuliert auf Wohlgefälligkeit, auf Glätte, sondern dass sie wirklich Dinge, die uns erschrecken, so beim Namen nennt und Bilder, die uns erschrecken, so entwickelt, dass man ihnen nicht auskommt, dass man wirklich davor sitzt als Leserin und sagt, ja, so ist es.
Literaturkritikerin und -wissenschaftlerin Daniela Strigl.
Daniela Strigl sagt, die Rolle von Literaturkritik sei "eine öffentliche Debatte über Bücher, die immer auch eine gesellschaftliche Wirkung hat."© picture alliance / Foto: Elke Mayr
Scholl: Diese Idee zum Alphabet, wie ist Ihnen die gekommen?
Strigl: Ich habe mir gedacht, bei so einer Veranstaltung gibt es sieben Reden. Meine ist die sechste. Und damit die Leute nicht selig entschlummern, muss man irgendetwas machen, was ein bisschen anders ist als das Übliche. Und das Alphabet bietet eine gute Möglichkeit, weil jeder auch weiß, mit wie viel Buchstaben so ungefähr zu rechnen ist.
Scholl: Man kann abzählen sozusagen.
Strigl: Genau.
Scholl: Damit sind wir schon vielleicht bei unserem Thema, Frau Strigl, nämlich der Büchner-Preisverleihung war am Samstag war eine Tagung der Akademie für Sprache und Dichtung vorgeschaltet. Der Titel: "Rühmen, Tadeln, Unterhalten – Zur Lage der Literaturkritik" hieß es. Eine Zwischenbilanz sollte da auf verschiedenen Podien mit Kritikern, Wissenschaftlern, Schriftstellern gezogen werden. Nun ist es ja so, dass, seitdem es die Literaturkritik gibt, so als Genregattung, seit so ca. 250 Jahren, ihre Lage immer katastrophal war. Stets haben die Zeitgenossen zu allen Epochen geklagt, die Hände gerungen. Wie war es denn jetzt in Darmstadt, Frau Strigl? Genauso?

Die Lage der Literaturkritik: "stabil apokalyptisch"

Strigl: Mein Kollege, Klaus Nüchtern, hat einmal die Lage der Literaturkritik als "stabil apokalyptisch" bezeichnet, und das war schon ein bisschen auch so die Stimmung in Darmstadt. Die Akademie ist ja eine ehrwürdige und traditionsbewusste Einrichtung und hat sichtlich versucht, sich auch bei diesem Thema jetzt den Zeiten, den heutigen Zeiten zu öffnen. Es ging dann eben auch um die Konkurrenz der Printmedien oder des öffentlich-rechtlichen Senders im Netz und um diese Dinge. Aber es war ganz klar, dass man auch so ein bisschen Zweckoptimismus zu entwickeln versucht hat.
Auf der einen Seite gibt es eine Abstumpfung bei dem Thema, weil alle das Gefühl haben, man kann sowieso keine, man kann jetzt nicht das Ruder herumreißen. Und auf der anderen Seite versucht man, sich zu sagen – es war zum Beispiel Adam Soboczynski, der "Zeit"-Feuilleton-Chef, der hat gemeint, diese Blütezeit der Kritik, von der alle immer sprechen und mit der wir uns heute vergleichen, mit viel Platz und ganz einlässlichen Rezensionen, die beschränkt sich eigentlich auf eine ganz kurze Zeit, was die "Zeit" angeht, in den 90er-Jahren. Aber das konnten nicht alle so richtig gefühlsmäßig nachvollziehen, glaube ich.
Scholl: Ich meine, die Blütezeit der Kritik, die wurde nie als Blütezeit, glaube ich, zu keiner Zeit empfunden, sondern es ist immer im Nachhinein besser, nicht?
Strigl: Ja, vielleicht ist das so, weil Kritiker eben auch selbstkritische Menschen sind im besten Fall und am eigenen Metier auch kein gutes Haar lassen.

"Fiktion eines öffentlichen Diskurses"

Scholl: Ich meine, was Literaturkritik noch soll im Zeitalter der BookTuber und dem flotten Service und auch angesichts des Leserschwunds – das ist ja immer der Kontext solcher Diskussionen. Und damit verbunden ist die Aufforderung an den Kritiker, die Kritikerin ja immanent: Stell dich gefälligst mal drauf ein, auf die neuen Zeiten. Ist das aber, Frau Strigl, wirklich der Druck so, den die modernen Entwicklungen erzeugen? Spürt man da wirklich den Zwang zur Rechtfertigung, oder kann man da nicht sagen, pfeif doch drauf, ich mach mein Ding?
Strigl: Also ich versuche das, ehrlich gesagt, bis zu einem gewissen Grad, darauf zu pfeifen. Es geht darum, wie Lothar Müller gemeint hat, dass man so die Fiktion eines öffentlichen Diskurses in der Kritik aufrechterhält. Es geht einfach um eine öffentliche Debatte über Bücher, die immer auch eine gesellschaftliche Wirkung hat. Wie man das macht, das sei natürlich jedem überlassen.
Dass sich die Sprache dabei verändert, dass man in vielem von der Schriftsprache auch im Gedruckten sich entfernt, das mag auch so sein. Aber das ist nicht das, was ich für mich machen möchte. Ich glaube, man sollte auch einfach die Leser und Hörer nicht unterschätzen. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Sache. Das passiert, glaube ich.

"Auf Dinge aufmerksam machen"

Scholl: Sie haben kürzlich Ihre Überlegungen zur Literaturkritik in einem schwungvollen kleinen Buch zusammengefasst: "Alles muss man selber machen" – großartiger Titel, wie ich finde, gerade in dem Zusammenhang. Sind Sie sich denn dabei selbst ein wenig klarer geworden, Frau Strigl, was Kritik für Sie persönlich ist und wie man als Kritikerin da so seinen Frieden findet.
Strigl: Meinen Frieden habe ich nicht gefunden. Wenn, dann ist es ein sehr prekärer Friede. Aber ja, beim Schreiben wird einem ja immer etwas klarer, was vorher diffus war. Das ist ja auch so, wenn man eine Rezension schreibt. Und ich sehe einfach meine Rolle darin, dass ich auf Dinge aufmerksam machen möchte, die vielleicht sonst ein bisschen unterbeleuchtet sind, und dass ich einfach die Leser und Leserinnen an meinem eigenen Erkenntnisprozess in irgendeiner Weise teilhaben lasse.

"Der Kritiker ist Platzanweiser"

Scholl: In Ihrem Buch haben Sie auch die berühmten 13 Thesen zur Literaturkritik von Walter Benjamin noch mal sämtlich aufgeführt, veröffentlicht vor – ja, so rund 90 Jahre ist es jetzt her. Sie haben diesen Thesen ihre eigenen entgegengestellt, und ich möchte mal eine zitieren: These eins von Daniela Strigl 2018: "Der Kritiker ist Platzanweiser im Circus Maximus des Literaturbetriebs. Nicht mehr, eher weniger." Interessantes Bild, Frau Strigl. Da musste ich länger drüber nachdenken. Wer ist denn dann in der Manege, und wer sind die Löwen?
Strigl: Na ja, die Löwen, das können natürlich auch die Kollegen sein. In der Manege sind normalerweise die Autoren.
Scholl: Als Gladiatoren.

"Es geht nicht mehr um Kopf und Kragen"

Strigl: Genau. Aber man kann natürlich auch sagen, dass die es sind, denen man den Platz zuweist. Aber das funktioniert heute eben nicht mehr so eindeutig. Das ist auch ein Glück. Das hat sich entspannt, und es geht nicht mehr um Kopf und Kragen, wenn es um Kritik geht.
Scholl: Der Platzanweiser gehört zu so einer kleinen Typologie des Literaturkritikers, die Sie da auch erstellen in Ihrem Büchlein. Da gibt es den Platzanweiser, den Verkehrspolizisten, den Raumpfleger, den Zirkulationsagenten. Und dann gibt es die Daniela Strigl, die schreibt, "ich kritisiere eigentlich immer eher so als ob. Ich stell mir immer vor, ich bilde es mir eigentlich nur ein, dass ich Kritikerin sei."

Das Gefühl, wichtig zu sein

Strigl: Wenn man die ganze Zeit bei dem, was man tut, daran denkt, dass es eigentlich von gesellschaftlich unerheblicher Bedeutung ist, vergeht einem die Lust dabei. Und ich glaube, das Vergnügen an dem, was man tut, und die Überzeugung dessen, dass man wichtig ist, und sei es auch nur eingebildet, ist eine notwendige Voraussetzung, irgendwas Vernünftiges zu produzieren.
Scholl: Viele Kritiker haben ja auch Literaturwissenschaft studiert. Und dieses wissenschaftliche Besteck liegt dann meistens arg verstaubend in untersten Schubladen im normalen Literaturkritikbetrieb. Bei Ihnen nicht, Frau Strigl. Sie haben sich im letzten Jahr sogar habilitiert an der Universität Wien. Sie sind die europäische Kapazität für das Werk von Marie von Ebner-Eschenbach. Literaturkritik und Wissenschaft, das geht bei ihnen, scheint's, gut zusammen, ist aber ja auch immer so ein Spannungsfeld. Wie funktioniert das? Profitiert da die eine von der anderen?

"Sprache sollte keine Hürden errichten"

Strigl: Ich hoffe es. Es gibt auch so Gattungen, die dazu einladen, zum Beispiel Ebner-Eschenbach. Da habe ich eine Biografie geschrieben, und da muss man ja auch wissenschaftliche Ansprüche an sich selbst stellen und gleichzeitig eine Geschichte erzählen. Ich bin nicht daran interessiert, mit dem, was ich für mich entdecke, im Elfenbeinturm zu bleiben. Natürlich möchte man die Leute für das, was man gut findet, auch interessieren. Und ich glaube, das ist auch eine Sache der Sprache. Die sollte keine Hürden errichten. Und ich glaube nicht, dass man an Substanz verliert, wenn man sich verständlich ausdrückt.
Scholl: Eine Passage in Ihrem Buch, Frau Strigl, hat mir besonders gut gefallen. Da sagen Sie – ich verkürze das jetzt ein bisschen –, "als Kritiker musst du schlicht einfach was wissen. Bevor du einen Roman adäquat rezensieren kannst, musst du ein paar Hundert gelesen haben." Ich finde das ein tolles, zentrales, unhintergehbares Kriterium, und das Schöne daran ist, dass es selbst nach ein paar Tausend immer noch so einen Spaß macht. Mir geht es jedenfalls so. Ihnen auch?
Strigl: Also nicht bei jedem Buch, aber bei den meisten doch. Und dann kommt man immer wieder auch zu den Klassikern zurück, oder zu denen, die man bis jetzt versäumt hat. Und das ist das Schöne, dass einem bis ans Lebensende die Arbeit nicht ausgeht.
Scholl: Literaturkritik und Büchner-Preis. Spannende literarische Tage hat Daniela Strigl in Darmstadt verbracht. Vielen Dank nach Wien für Ihre Eindrücke, Frau Strigl! Alles Gute, bis bald mal hoffentlich.
Strigl: Sehr gern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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