Emine Sevgi Özdamar, geboren am 10. August 1946 in Malatya/Türkei, wuchs in Istanbul und Bursa auf. 1965 kam sie erstmals nach West-Berlin. Von 1967 bis 1970 nahm sie Schauspielunterricht in Istanbul, in ihren ersten Rollen trat sie in Stücken von Bertolt Brecht und Peter Weiss auf.
Nach dem Militärputsch in der Türkei 1971 ging Emine Sevgi Özdamar 1975 an die Ost-Berliner Volksbühne. Später arbeitete sie in Avignon und Paris und von 1979 bis 1984 am Bochumer Schauspielhaus unter der Intendanz von Claus Peymann.
Büchnerpreis 2022
Die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar vor der Verleihung des Georg-Büchner-Preises © picture alliance / dpa / Helmut Fricke
Emine Sevgi Özdamar ausgezeichnet
17:56 Minuten
Der Büchnerpreis gilt als die wichtigste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur. In diesem Jahr geht der Preis an die türkisch-deutsche Schriftstellerin und Theaterautorin Emine Sevgi Özdamar.
Die Schriftstellerin und Theaterautorin Emine Sevgi Özdamar bekommt den Georg-Büchner-Preis 2022. Dies teilte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung am Dienstagmorgen in Darmstadt mit. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis gilt als wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland.
Emine Sevgi Özdamar sei eine herausragende Schriftstellerin, "der die deutsche Sprache und Literatur neue Horizonte, Themen und einen hochpoetischen Sound verdankt", erklärte die Akademie in Würdigung der Autorin.
Sie bereichere seit mehr als drei Jahrzehnten die deutschsprachige Literatur mit Romanen, Erzählungen und Theaterstücken. "Emine Sevgi Özdamars Werk eröffnet einen zugleich intellektuellen wie poetischen Dialog zwischen verschiedenen Sprachen, Kulturen und Weltanschauungen, an dem wir lesend teilhaben dürfen,“ so die Jury.
Verbeugung vor Büchner
In Reaktion auf die Auszeichnung erklärte Emine Sevgi Özdamar im Deutschlandfunk, dass sie eben sehr viel mit Büchner verbinde:
"Ich liebe Büchner, wie ich auch Kleist geliebt habe, sie haben uns begleitet. Sie haben für die wirkliche Freiheit gekämpft und ich verbeuge mich vor ihnen." Sehr lange habe sie aber ihre Arbeit, ihr Schreiben abseits der Theaterbühnen sehr skeptisch betrachtet:
"Am Theater hast Du eine Institution, die Dir hilft – Maskenbildner, Kostümbildner, Bühnenbilder – und Du hast eine Bühne, die Du benutzen kannst. In der Literatur musst Du das alles selber machen."
Heute lebt die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin, Schauspielerin und Theaterregisseurin in Deutschland, Frankreich und der Türkei. Dort sei ihre Auszeichnung mit dem Büchnerpreis kaum wahrgenommen worden, sagt Özdamar im Deutschlandfunk Kultur. Das sei bei der Verleihung des Kleistpreises 2004 noch anders gewesen, sagt sie.
"Eine türkische Schriftstellerin, die von den Deutschen geliebt wird, das war damals etwas Positives. Heute ist es so, dass das Regime versucht, die Verbindung der Türkei zu Europa mit Gewalt zu trennen, aber es wird ihm nicht gelingen."
Sie hoffe, dass auch sie als Brückenbauerin dazu dienen kann, das zu verhindern, so Özdamar. "Weltweit verhalten sich viele Politiker wie Großgrundbesitzer. Als ob ihnen ein bestimmtes Gebiet mitsamt allen Tieren und Menschen darauf gehört, und sie können alles mit ihnen machen. Das ist eine sehr gefährliche Situation."
1982 erschien Emine Sevgi Özdamars erstes schriftstellerisches Werk, das Theaterstück „Karagöz in Alemania“. Ein Text aus ihrem 1992 erschienenen Romandebüt
„Das Leben ist eine Karawanserei"
brachte ihr mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1991 den literarischen Durchbruch.
Emine Sevgi Özdamar schrieb zudem die Romane „Die Brücke vom Goldenen Horn“ (1998) und „Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding - Pankow 1976/77“ (2003).
Ein Jahrhundert der Migration und Vertreibung
Im vergangenen Jahr erschien ihr 800 Seiten starker Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“, der auch eine Erzählung über ein europäisches Jahrhundert ist, ein Jahrhundert der Vernichtung und der Migration.
"Wenn man diese Bilder sieht, wenn man die Nachrichten sieht, wenn man die Migranten sieht, die hier dann vielleicht zusammen rauchen oder Fußball spielen, die aber in Ungewissheit warten müssen, natürlich bildet sich da eine Schicht in meinem Körper. Während des Schreibens kommt das dann zur Sprache", sagt sie über die Arbeit an diesem Roman.
Literaturkritiker Helmut Böttiger zeigt sich besonders beeindruckt von diesem Buch:
"Es bündelt die Lebenssituation der Autorin – biografische, geschichtliche, künstlerische Perspektiven und alles, was bei ihr in den Neunziger- und Nullerjahren zum Thema geworden ist – noch einmal in ganz neuer Perspektive. Das Poetische und das Reale gehen auf ganz ungewöhnliche Weise ineinander auf. Es ist die Krönung ihres Werks!"
Teil ihrer Arbeit sei es immer, die Leute zu irritieren, sagt Özdamar. Etwa, als sie in dem Thomas-Brasch-Stück "Lieber Georg" in der Regie von Matthias Langhoff eben als Putzfrau über die Bühne läuft, erinnert sich Emine Sevgi Özdamar: "Das hat funktioniert, und Matthias sagte: 'Keiner fasst sie an, sie bleibt und putzt diesen deutschen Boden'."
Die Werke Emine Sevgi Özdamars wurden mehrfach ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie im Frühjahr den Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim.
Beobachterin mit wohlwollendem Blick
Der Publizist Mathias Greffrath charakterisiert Özdamar als eine Autorin mit bemerkenswerter Beobachtungsgabe, die alltägliches Geschehen "mit einem warmen, wohlwollenden Blick" erfasse und im besten Sinne Kosmopolitin sei: geprägt von eigenen Migrationserfahrungen zwischen der vom Militärputsch erschütterten Türkei der 1960er-Jahre und der "Verheißung Europa".
Özdamars Bücher seien "Botschafter der Poesie und der Migration", urteilt die Literaturkritikerin Cornelia Zetsche. Ihre Romane und Theaterstücke eröffneten überraschende poetische Räume, und ihre lautmalerische Sprache zeichne eine enorme Sinnlichkeit aus: "Die Schatten haben Gestalt, und die Wörter sind Körper."
Als Nichtmuttersprachlerin, die ihre literarischen Texte auf Deutsch verfasst, sei Özdamar "vor allen Diversitätsdebatten eine Pionierin" gewesen, betont Zetsche.