Warum Georg Büchner nach Fisch stinken darf
In seiner Dankesrede bei der Büchnerpreis-Auszeichnung meint der Lyriker Jan Wagner, dass Georg Büchner durchdringend nach Fisch gerochen haben müsse. Der 46-jährigen Ausgezeichnete sorgte für eine unterhaltsame Horizonterweiterung.
Jan Wagner liebt seinen Büchner. Daran gibt es spätestens seit seiner Dankesrede für die Verleihung des Büchnerpreises an den Lyriker am Samstag im Darmstädter Staatstheater keinen Zweifel mehr. Wagner mag Georg Büchner, obwohl er spätestens nach seiner Flucht aus Hessen nach Straßburg dort eigentlich ständig nach Fisch gestunken haben müsse, glaubt Wagner:
"Er seziert Hechte, Barsche, Maifische, Lachse und Frösche, vor allem aber die Flußbarbe, jenen Karpfenfisch mit den markanten Barteln, der bis zu acht Kilo schwer und einen halben Meter lang wird und den Büchner Tag für Tag frisch von den Fischern an Rhein, Ill und Breusch erwerben konnte. Wirklich, er muß durchdringend nach Barbe gerochen haben, während er die Lenz-Novelle schrieb, vielleicht von der Barbe zu Woyzecks Barbier geriet, muss Fisch verströmt haben, wenn er Minna zwischen Tür und Angel verstohlen einen Verlobtenkuß gab."
Doch auch beim Küssen dürfen Büchners Hände nach Fisch stinken, da ist Jan Wagner ganz großzügig. Denn das dichterische Vorbild packe schließlich "präzise aber leidenschaftlich und mit beiden Händen nach dem prallen Leben". Als Naturforscher, aber vor allem mit dem "Sprachskalpell". Jan Wagner malt mit Begeisterung aus, wie es gewesen wäre, wenn Georg Büchner mit seiner Wortmacht auch noch Gedichte geschrieben hätte:
"Wirklich, was hätte er für Verse gemacht, wenn er Verse gemacht hätte, mit seinem galligen Humor und dieser offenkundigen Lust am Sprachspiel und am kühnen Bild: Da werden ohne Schwielen an den Fingern die Wangen der hübschen Dame Verwesung gestreichelt, wird man am Ende der Bettlerin Erde in den Schoß geworfen wie ein durchgelaufener Schuh; da ist die Erde so nass und klein, daß man sie hinter den Ofen setzen will, muß der Kopf gerade auf den Schultern getragen werden wie ein Kindersarg (…) und es wird empört gefragt, warum 'Sie Geehrtester, das Maul so weit' aufreißen, daß Sie einem ein Loch in die Aussicht machen?"
Kein poetischer und politischer Feuerkopf zugleich
Jan Wagner selbst reist vor allem zur Alltagspolitik sein Maul nicht so weit auf, dass er einem ein Loch in die Aussicht macht. Ein Teil des Publikums bei der Büchnerpreis-Verleihung 2017 hat das vermisst, insbesondere angesichts hochgradig angespannter Weltlage. Doch Tagespolitik ist Wagners Sache nicht. Auch wenn er seine Dankesrede zur Verleihung des Büchnerpreises mit dem "Hessischen Landboten" begann, der mit seinem "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" durchaus an die heutigen Verhältnisse sozialer Ungleichheit anschlussfähig wäre und auch immer wieder auch angeschlossen wird.
Am hessischen Landboten interessiert Jan Wagner aber eher der Aspekt, das er heimlich in einer "Botanisierungstrommel" von Butzbach nach Offenbach transportiert wurde. Botanisierungstrommeln, erklärt Wagner, seien zylindrische Blechgefässe, die naturinteressierte Sammler für den Transport von Pflanzen nutzten. Wagner selbst hat sich ein wenig dafür entschuldigt, dass er mit seiner formschönen Naturlyrik kein poetischer und politischer Feuerkopf gleichzeitig ist, wie es Georg Büchner war:
"Und ich gestehe, dass in meinen Augen ein Gedicht dieser Art durchaus zu einem fliegenden Blatt wird, das nicht sibyllinisch sein muß, zu einem Blatt, das allerdings Raum, Zeit und größte Gegensätze schnell wie der Wind auf wenig mehr als zwei Zeilen zu überwinden vermag."
Laudator Aris Fioretos erinnern Wagners "meisterhafte" lyrische Bilder an religiöse Künstler vergangener Epochen, ohne dass er von einem "Biedermeier 2.0" sprechen wolle:
"Diese Meisterschaft erinnert an die holländischen Maler, jener Calvinisten des 17. Jahrhunderts, die angesichts des Verbots, religiöse Themen abzubilden, ein Wäldchen, etwas Gemüse oder einen auf Papier liegenden Fisch mit einem eigenartigen Licht aufluden, als wohne noch den kleinsten Details des täglichen Lebens eine höhere Macht inne."
Räume verändern und erweitern
Ob es die Plätze und Personen in Wagners Gedichten wirklich gebe oder ob sie erfunden seien, spielt für Aris Fioretos dabei "kaum eine Rolle". Der schwedische Schriftsteller macht das an einem Beispiel aus einer Gegend deutlich, die er gut kennt:
"Dem Gedicht 'Elch' nach zu urteilen, im dem Wasser 'unter schneebedeckten schluchten' rinnt, ist er auch niemals im Norden Schwedens auf die Jagd gegangen. Sonst hätte er wohl gewusst, dass die Saison in der Regel endet, bevor die ersten Flocken fallen. Diese und andere Abweichungen von Realia, erhöhen den Anspruch der Poesie, eine eigenständige Wirklichkeit zu bilden. Das Gedicht wird ein 'tatortähnliches Tableau' – eine Erzählung, zum Bild verdichtet."
Aris Fioretos erinnert daran, dass Jan Wagner selbst einmal einen Aufsatz über die Ähnlichkeiten zwischen Poesie und Kriminalliteratur verfasst hat. Ein Gedicht sei wie ein Tatort ein "Raum, dessen Umfang zwar minimal" sei, in dem "verblüffenderweise aber trotzdem alles seinen Platz finden" könne, ohne dass es zu eng würde.
Jan Wagner, das sagt er selbst, ist niemand, der die herrschenden Verhältnisse umwerfen will wie Büchners "kunstvoller Danton aus Worten". Doch mit seinen ästhetisch makellosen Gedichten will er "gedankliche und sprachliche Räume" verändern und erweitern. Das ist Jan Wagner bei der Büchnerpreisverleihung 2017 auf unterhaltsame Weise gelungen.