Büchnerpreisrede von Clemens J. Setz
Der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz wurde mit dem mit 50.000 Euro dotierten Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. © picture alliance/dpa | Helmut Fricke
Mit der Stalljacke im Weltall
05:53 Minuten
In seinen Erzählungen geht es oft um das Neue und die Zukunft. In seiner Büchnerpreisrede erklärt Clemens J. Setz anhand einer alten Pferdedressurtechnik, warum Schriftsteller so schreiben sollten, dass auch Außerirdische sie verstehen.
"Buden. Lichter. Volk." So ist die Jahrmarktsszene in Georg Büchners "Woyzeck" überschrieben. Den diesjährigen Büchnerpreisträger Clemens J. Setz interessiert in ihr das "astronomische Pferd", das der Ausrufer als Jahrmarktssensation anpreist. Im "Woyzeck" verweigert das sogenannte "Zählpferd", die Fragen des Ausrufers durch das Klopfen mit einer Hufe zu beantworten, wie es die Jahrmarktsbesucher sehen wollen. Dem Ausrufer bleibt nichts übrig, als das rebellische Tier schließlich als "unverdorbene Natur" zu verkaufen.
Wie erklärt man Pferden, was Krieg ist?
Clemens J. Setz lässt das astronomische Pferd keine Ruhe. Schließlich entdeckt er ein Buch, in dem sich der Elberfelder Tierpsychologe Karl Krall mit sogenannten "denkenden Pferden" beschäftigt. Dann bricht der Erste Weltkrieg aus und die gelehrsamen Pferde des Karl Krall werden zum Militärdienst eingezogen. Clemens J. Setz malt aus, wie Karl Krall seinen Pferden den Krieg erklärt haben könnte:
"Wo aber beginnt man, wenn man Pferden erklärt, was Krieg ist? Las er ihnen aus historischen Quellen über Krieg und Kavallerie vor, aus Zeitungsartikeln, zeitgenössischen Polemiken? Vielleicht versucht er, den Hengsten ein letztes, kompaktes Überlebenspaket an Wissen zu schnüren, so wie es die Pflicht aller Eltern gegenüber ihren Kindern ist. Falls er vom neuartigen Gaskrieg etwas weiß, erwähnt er ihn gewiss nicht, denn dafür gibt es wirklich keine Worte. Wie soll er das Luftanhalten beschreiben oder es den Tieren gar beibringen? Es ist unmöglich."
"Wo aber beginnt man, wenn man Pferden erklärt, was Krieg ist? Las er ihnen aus historischen Quellen über Krieg und Kavallerie vor, aus Zeitungsartikeln, zeitgenössischen Polemiken? Vielleicht versucht er, den Hengsten ein letztes, kompaktes Überlebenspaket an Wissen zu schnüren, so wie es die Pflicht aller Eltern gegenüber ihren Kindern ist. Falls er vom neuartigen Gaskrieg etwas weiß, erwähnt er ihn gewiss nicht, denn dafür gibt es wirklich keine Worte. Wie soll er das Luftanhalten beschreiben oder es den Tieren gar beibringen? Es ist unmöglich."
Schriftsteller müssen auch an Außerirdische predigen können
Rainer Maria Rilke und Thomas Mann seien von den Elberfelder Pferden fasziniert gewesen, so Clemens J. Setz. Franz Kafka habe ein kurzes Erzählfragment über einen Studenten geschrieben, der Pferde nach dem Vorbild Kralls trainieren will. Der Nobelpreisträger Maurice Maeterlinck habe sogar persönlich in Kralls Elberfelder Ställen vorbeigesehen:
"Das Bild von Karl Krall, der, wie es Rilke in einem Brief über die Figur Woyzeck sagte, in seiner Stalljacke im Weltall steht und den Zählpferden erklärt, was Krieg ist. In der letzten vernunftzugewandten Nacht des Jahrhunderts den Zählpferden erklären, was Krieg ist – das ist für mich das geheime Herz aller Erzählkunst. Jeder Mensch, der Geschichten erzählen will, muss auch an Außerirdische predigen können. Er muss sich trotz aller von ihm selbst zufällig mitgebrachten Universalität eine kompetente und furchtlose Vertrauensperson außerhalb unserer Zeit oder unserer Spezies ersinnen können. Eine Art Muse, eine in unserem Namen in ein aphasisches, menschenfeindliches Jenseits ausgeschickte, sprachfähige Sonde, die möglicherweise irgendwann randvoll mit Erkenntnis zu uns zurückkehren darf."
Papierene Agenten fürs Unmenschliche
Roboter, Gespenster, verletzte Seelen. Das sei gewissermaßen der Dreiklang der literarischen Themen und Motive, die das bisherige Werk des Clemens J. Setz kennzeichneten, so Laudator Ijoma Mangold.
Nun ist ein "Zählpferd" vielleicht kein Roboter, aber es hat als astronomisches Pferd maschinenhafte Züge. Gespenstisch sind die Szenen in den Ställen im Tal der Wupper vor dem ersten Weltkrieg allemal. Die verletzte Seele des Tierpsychologen, der seine klugen Tiere in die alle Lebewesen vertilgende Materialschlacht schicken muss, kann man sich mit Setz lebhaft vorstellen. Doch die Geschichte dient für ihn vor allem dazu, seine literarische Theorie zu veranschaulichen:
Nun ist ein "Zählpferd" vielleicht kein Roboter, aber es hat als astronomisches Pferd maschinenhafte Züge. Gespenstisch sind die Szenen in den Ställen im Tal der Wupper vor dem ersten Weltkrieg allemal. Die verletzte Seele des Tierpsychologen, der seine klugen Tiere in die alle Lebewesen vertilgende Materialschlacht schicken muss, kann man sich mit Setz lebhaft vorstellen. Doch die Geschichte dient für ihn vor allem dazu, seine literarische Theorie zu veranschaulichen:
"An den Zählpferden kann man nebenbei auch lernen, wie man dieses seltsam entrechtete Volk, die sogenannten literarischen Figuren, behandeln sollte. Unsere papierenen Agenten fürs Unmenschliche, die all das für uns mit ihren Füßen abtasten, wovon wir verschont zu bleiben wünschen. Das Verlorengehen an den Wahnsinn, das Zum-Mörder-werden, das Verurteiltsein zum Tod durch Hinrichtung, das endlose Sichschönreden hoffnungsloser Augenblicke. Das alles tun sie für uns. Aber was dann? War das wirklich alles, weswegen wir sie durch den Schlamm unserer Erzählungen gejagt haben, nur damit sie am Ende für uns beten – im Fallen?"
Die tiefe Humanität des Clemens J. Setz
Hier blitzt sie dann auf, die tiefe Humanität seines literarischen Schaffens, für die die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Clemens J. Setz heute auch explizit ausgezeichnet hat: Wie Woyzeck in Büchners Drama seinem Bub noch kurz vor der Verhaftung als Mörder noch eine Freude auf dem Jahrmarkt macht, haben auch die "Zählpferde" in der heutigen Büchnerpreisrede das Recht auf eine letzte liebevolle Geste:
"In der Tat ist es genau dieses Recht, nämlich den Geschöpfen, die nichts oder noch nichts von der mörderischen Welt ahnen, eine Freude zu machen, das sich auch der gute Karl Krall herausnahm, und auch wir wollen es uns bewahren, so gut wir können, bis in die kommenden Kriege hinein."
Eine großartige Erzählung – diese heutige Dankesrede im Darmstädter Staatstheater. Und ein Versprechen für die Zukunft durch einen Autor, der bisher ja erst etwas mehr als die Hälfte der Jahre auf der Welt ist als der nun 70-jährige Büchnerpreis selbst.