Die Kraft der Tragödie neu erfinden
Sie irritiert ihre Besucher mit ihren Inszenierungen bis heute – und bleibt dabei der Tradition des aufklärerischen Volkstheaters treu. Am 29. Mai feiert die Bühnentruppe Théâtre du Soleil fünfzigjähriges Bestehen.
Proben am Théâtre du Soleil, Proben wie sie seit 50 Jahre unter der
Regie von Ariane Mnouchkine stattfinden, in einer besonderen Form der Ensemblearbeit. Seit die Regisseurin 1970 eine alte Patronenfabrik im Bois de Vincennes östlich von Paris entdeckte, wurde aus den Anfängen des Sonnentheaters eine einmalige internationale Erfolgsgeschichte mit Gastspielreisen in die ganze Welt. In der Cartoucherie hat das Ensemble nach den Wirren der Studentenunruhen seine Karawanserei aufgeschlagen. Unter breit ausladenden Lagerhallendächern entfaltet es Welttheaterdramaturgien zu großen Ideenreisen, leuchten die bunten Stoffe entfernter Kostümkulturen, treten die Akteure verschiedenster Länder auf in einem bühnenoffenen Spiel, das sich aus fernöstlichen Quellen speist.
Regie von Ariane Mnouchkine stattfinden, in einer besonderen Form der Ensemblearbeit. Seit die Regisseurin 1970 eine alte Patronenfabrik im Bois de Vincennes östlich von Paris entdeckte, wurde aus den Anfängen des Sonnentheaters eine einmalige internationale Erfolgsgeschichte mit Gastspielreisen in die ganze Welt. In der Cartoucherie hat das Ensemble nach den Wirren der Studentenunruhen seine Karawanserei aufgeschlagen. Unter breit ausladenden Lagerhallendächern entfaltet es Welttheaterdramaturgien zu großen Ideenreisen, leuchten die bunten Stoffe entfernter Kostümkulturen, treten die Akteure verschiedenster Länder auf in einem bühnenoffenen Spiel, das sich aus fernöstlichen Quellen speist.
"Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Theater immer dem Publikum zugewandt ist, bühnenoffen. Noch im intimsten Dialog, wenn sich die Akteure Auge in Auge gegenüber stehen, mit ihrem Profil zum Publikum, bleibt ein Dreieck bestehen: Die Energie fließt von Schauspieler zu Schauspieler und über das Publikum zurück, oder von einem Schauspieler über das Publikum zum anderen Schauspieler. Ich brauche dieses Zum-Publikum-hin-Spielen; mir fiele es schwer, zwei Schauspieler mehr als zwei Repliken lang im Profil zu lassen."
Shakespearefiguren springen wie elektrisiert über die Bühne
Mit ihrer für Frankreich untypischen Spielkultur hat das Théâtre du Soleil zunächst mit der Kollektivproduktion "1789" einen ersten gewaltigen Erfolg erlebt. Das war die Einstandsproduktion in der Cartoucherie. Das Revolutionsstück war aber auch der erste große internationale Erfolg des Sonnenkollektivs und setzte programmatisch die Richtung. Zehn Jahre später verzauberte ihr Shakespeare-Zyklus das Publikum: Er war fast schon eine Neu-Erfindung eines Theaters, das sich auf der Basis einer europäischen Dramaturgie ästhetisch in die unerschlossenen Räume des Welttheaters vorwagte. Die Trilogie königlichen Scheiterns wurde befeuert von asiatischen Theaterformen, die für Ariane Mnouchkine nach ihren Reisen nach Japan und Indien zum ästhetischen Leitfaden geworden waren. So sprangen die Shakespearefiguren in bunten wallenden Kostümen wie elektrisiert über die Bühne, fielen gewaltige Seideprospekte flimmernd zu Boden und mit ihnen der Glanz vergehender Reiche.
Die Regisseurin hat als engagierte Feministin auch mit zeitgenössischen Stücken der Lebensgefährtin Hélène Cixous die Machtlinien nachgezeichnet, die die Welt der Männer und der Frauen immer wieder blutig färbt. Idealtypisch führte das Théâtre du Soleil dies aber mit den Atriden vor. Sie verknüpften die "Iphigenie in Aulis" des Euripides mit der "Orestie" des Aischylos zu einer großen Tetralogie: Sie verband Tanz und Horror, Schrecken und Verzückung zu einem rauschhaften Theater. Das war wohl das Opus Magnum des Theaters und der bisherige Höhepunkt der Regiekunst von Ariane Mnouchkine. Es ging um nichts weniger als den Versuch, die kathartische Kraft der alten Tragödien heute völlig neu zu erfinden – in einem für die Zuschauer irritierenden Wechselbad der Gefühle.
"Wir sagten uns immer, dass wir an Schrecken und Freude arbeiten, gleichzeitig. Das ist die kathartische Kraft der antiken Tragödie: Die Griechen konnten den Schmerz in ausgelassenem Tanz und Gesang ausdrücken. Also mussten wir versuchen, so viel wie möglich zu verstehen und zu akzeptieren, dass es Momente gab, in denen der Verstand nicht weiterhilft, sondern nur die Bereitschaft, sich mitreißen zu lassen."
Auch bei Molières "Tartuffe", 1995, war der akademische Staub, den das Stück sonst immer zu verbreiten schien, wie weggeblasen. Das Ergebnis war eine wirklich gelungene Aktualisierung: Der religiöse Frömmler und Betrüger Tartuffe macht sich im Dienste des islamischen Fundamentalismus im Haus eines Bürgers breit.
Ein radikales Ethos, das die Chefin allen Mitgliedern aufoktroyiert
Der Tartuffe des Théâtre du Soleil war ein flammender Aufruf zu antifundamentalistischer Menschlichkeit und stand ganz in der Tradition von großem, aufklärerischem Volkstheater. Dem ist das Theater in seinen 50 Jahren allen Moden trotzend treu geblieben ist. Außerdem haben Verfolgte dort Asyl gefunden, auch Obdachlose hat es unterstützt. Das Théâtre du Soleil hat sich für die Opfer der Globalisierung eingesetzt und ihnen mit "Le dernier Caravanserai" eine siebenstündige Szenensammlung gewidmet, bevor es 2006 ins Frankreich der Gegenwart zurückkehrte. "Les Éphémères" waren im Ensemble gesammelte Geschichte vom vergänglichen Wesen Mensch und erzählten in hingetupften Szenen von privaten Schlüsselmomenten des Lebens, Momente einer kurzen Magie, die ein ganzes Leben verändern kann. Wie durch ein Wunder wurde aus dem handfesten Theater plötzlich ein Hort der Behutsamkeit, ein Oase in einer verrohten Wirklichkeit.
Das Geheimnis des Erfolgs dieses Theaterkollektivs ist ein radikales Ethos, das die Chefin allen Mitgliedern aufoktroyiert. Alle Rollen werden zunächst von allen Akteuren probiert, eine harte Auslese ermittelt in dem oft schmerzhaften Probenprozess die beste Besetzung. Manche Stars des Ensembles verließen das Sonnentheater nach einigen Jahren wieder: Der Königsdarsteller Georges Bigot etwa oder Philippe Caubère, der einst auch den Molière in einem der Filme spielte, die Mnouchkine 1978 mit ihrem Ensemble realisierte. Und das lebt und arbeitet nun seit 50 Jahre unter einem kuriosen, in Kulturbetrieb einmaligen Organisationsmodell und unter ständigen wirtschaftlichen Risiken: als "Société Coopérative Ouvrière de Production", also als Produktionsgenossenschaft mit einem Einheitsgehalt von heute 1800 Euro im Monat.