Rauschhafter Auftakt mit Schattenspiel
Mit seiner Version des Märchens "Der Schatten" von Hans Christian Andersen gelingt Adam Traynor ein rauschhaftes Bühnenvergnügen, bei dem die Realitäten schaurig schön verschwimmen.
Der Schatten des Meisters ist groß. Als Chilly Gonzales mit seinem kleinen Orchester in einem altmodischen Musikpavillon auf der ansonsten dunklen Bühne zu spielen beginnt, wirft ein Scheinwerfer seinen überdimensionalen Schatten an die Rückwand des Gebäudes. Die Geschichte vom Mann, der von seinem Schatten beherrscht wird, habe viel mit ihm zu tun, sagte Gonzales einmal in einen Interview. Und wenn man dieses Schattenspiel auf der Bühne verfolgt, fragt man sich unwillkürlich, wer denn nun der Schatten und wer der Herrscher ist.
Vom eigenen Schatten beherrscht
Auch Andersens Figuren sind zunächst nur als Schattenspiele präsent. Hinter zwei Leinwänden beginnt das Märchen als schemenhaftes Spiel, bevor die Schauspieler auf die Bühne treten. Es gibt sie alle zweimal, als Schatten und als Menschen aus Fleisch und Blut. Da ist der verkopfte und lebensferne Gelehrte, der eines Tages seinen Schatten verliert und fortan ohne ihn leben muss. Beim näheren Hinsehen fehlt dem fragilen Männchen nicht nur der Schatten, sondern auch die Leidenschaft. Als der Schatten nach Jahren zurückkehrt, bleibt dem kränkelnden Ich wenig Kraft zur Gegenwehr, fortan wird es von seinen dunklen Trieben beherrscht, die der Schatten in dieser Bühnenversion glänzend verkörpert.
Musikalische Stummfilm-Gefühlsorgien
Denn zu Gonzales musikalischen Stummfilm-Gefühlsorgien hat der Regisseur Adam Traynor eine Frau in das schwarze Schattenkostüm gesteckt. Schemenhafte, weibliche Formen, Sinnlichkeit und Sex, die verdrängten Sehnsüchte eines Menschen, der sich lange vergeblich bemühte, diese Leidenschaften von sich abzuspalten. Die Realitäten verschwimmen zwischen dem Kampf des Schattens mit seinem Herren und den Schattenspielen hinter den Leinwänden, in denen der Gelehrte zum ersten Mal jene weiblichen Formen erkennt, die ihn so sehr anziehen.
Als die reale Frau hinter den Schattenbildern mit maschinenhaften Bewegungen an die Rampe getänzelt kommt, verliebt sie sich aber nicht in ihn, sondern in seinen dunklen Begleiter, der mit ihr einen sinnlichen und ausladenden Walzer tanzt, während der Gelehrte allenfalls zu ein paar unbeholfenen Stöckel-Schritten bereit ist – und überhaupt immer blasser und kränker wird und zum Schluss vom Schatten hinter die Leinwand verbannt wird.
Ein rauschhaftes, gruseliges Vergnügen
Mit Gonzales Schatten-Komposition verhält es sich wie mit dem von ihm vor kurzem veröffentlichtem Übungsbuch für Klavierschüler. Nichts von dem, was wir auf der Bühne hören und sehen, ist wirklich neu und unbekannt, aber die Komposition der bekannten Elemente versetzt den Zuschauer in ein rauschhaftes und diesmal auch ein wenig gruseliges Vergnügen, bei dem sich jeder Zuschauer unwillkürlich selber fragt, wie wohl der eigene Schatten aussieht.
Der Abend ist ein gelungener Auftakt des diesjährigen Kampnagel-Sommerfestivals, das ab heute drei Wochen lang zahlreiche Premieren und Uraufführungen zeigt - und viel Zerstreuung im verwinkelten und ausufernden Festival-Garten bietet. Zu den Highlights der kommenden Tage zählen die Choreografie "Monument 0: Haunted by Wars [1913-2013]" der ungarischen Choreografin Eszter Salamon und die Konferenz "Fantasies that Matter", die sich mit dem Topos der Sex-Arbeit in der Kunst beschäftigen wird.
Der Abend ist ein gelungener Auftakt des diesjährigen Kampnagel-Sommerfestivals, das ab heute drei Wochen lang zahlreiche Premieren und Uraufführungen zeigt - und viel Zerstreuung im verwinkelten und ausufernden Festival-Garten bietet. Zu den Highlights der kommenden Tage zählen die Choreografie "Monument 0: Haunted by Wars [1913-2013]" der ungarischen Choreografin Eszter Salamon und die Konferenz "Fantasies that Matter", die sich mit dem Topos der Sex-Arbeit in der Kunst beschäftigen wird.