Bürger als Henker
Von den über 700.000 KZ-Häftlingen, die Anfang Januar 1945 registriert sind, kommen bei den Evakuierungen der Lager mindestens 250.000 ums Leben. Brutalisiert durch den Krieg und die NS-Propaganda, beteiligten sich auch Zivilisten an Massakern. Der israelische Historiker Daniel Blatman stellt dieses Kapitel der NS-Vernichtungspolitik in seinem Buch "Die Todesmärsche 1944/45" zum ersten Mal umfassend dar.
Deutschland kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Chaos, Zusammenbruch, endlose Flüchtlingsströme. Inmitten dieser Apokalypse: KZ-Häftlinge, die in immer enger werdenden Korridoren durch deutsche Ortschaften zu den noch "sicheren" KZs getrieben werden. Sehr zur Angst der Zivilbevölkerung. Wie aus dieser Angst Mord resultierte, das kann Daniel Blatman, Professor der Geschichte an der Universität Jerusalem in vier Punkten erklären:
"Mit Beginn der Naziherrschaft waren die KZ-Häftlinge von der Zivilbevölkerung isoliert, streng bewacht hinter Gittern. Nun mussten sie zu Hunderttausenden durch die Dörfer ziehen, wo normale Bürger lebten. Dies war ein Zusammenprall. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt: In den Augen der meisten Deutschen waren diese Häftlinge Kriminelle: Sie waren Polen, Ukrainer, Juden, Kommunisten, sowjetische Kriegsgefangene. Kurz: Sie waren allesamt 'Untermenschen'.
Der dritte Punkt: Die Deutschen leben seit 12 Jahren unter starker ideologischer Propaganda, die die KZ-Insassen als 'Feinde des Deutschen Reiches' bezeichnet. Man hielt sie also für eine echte Gefahr.
Und der letzte Punkt: Es herrschte Gesetzlosigkeit ohne funktionierende Polizei und Armee. Normale Bürger glaubten, selbst für ihre Sicherheit sorgen zu müssen. Und diese außergewöhnliche Lage war für die KZ-Insassen gefährlich. Wenn sie sich in den Wäldern verstecken wollten, um auf die Befreiung durch Amerikaner oder Engländer zu warten, wurden sie dort oft von der Zivilbevölkerung aufgespürt und ermordet."
Die Namen der Mörder sind auch nach 66 Jahren in Archiven nachzulesen, sagt der Historiker – die Alliierten hatten an Orten des Massakers genaue Untersuchungen durchgeführt und manche Fälle sogar vor Gericht gebracht. Blatman überraschte ein anderer Aspekt:
"Bei fast allen Fällen wurde allgemein angenommen, dass die SS dafür verantwortlich sei oder die Wehrmacht. Doch je mehr ich mich mit den Dokumenten befasste, desto überraschter war ich, festzustellen, dass sich auch ganz normale Bürger aus der jeweiligen Region an den Morden beteiligt hatten. Die meisten Fälle waren der Forschung vorher völlig unbekannt, es waren Fälle, wo zwei bis drei deutsche einen KZ-Häftling ermordeten, den sie gefunden hatten –oft im Wald in der Nähe ihres Dorfes. Manchmal nahmen sie Gewehre, manchmal Knüppel. Ich fand Dutzende dieser Fälle."
Die Bürger als Henker. Sie mordeten aus Angst, die Häftlinge würden an den Deutschen Rache üben. Der Historiker kennt allerdings keinen einzigen Racheakt seitens der entflohenen Sträflinge. Die waren schlichtweg körperlich dazu nicht in der Lage. Bei seinen zumeist deprimierenden Recherchen entdeckte Blatman immerhin einige Beispiele von menschlichem Mitgefühl:
"Das erzählen die Überlebenden, denen es gelungen war, aus der Kolonne zu entkommen und ein guter Bauer oder Dörfler haben ihre Tür geöffnet und sie in der Scheune oder gar im Haus versteckt - für paar Tage, bis die Amerikaner kamen. Und es gab sogar den Fall in Burgstall, wo das ganze Dorf eine Gruppe von 500 KZ-Häftlingen beschützte. Die Amerikaner waren schon sehr nah, die SS machte sich davon und die gesamte Schar überlebte. Aber das ist ein Einzelfall."
Keine 50 Kilometer nordwestlich von Burgstall ging eine ähnliche Geschichte anders zu Ende. Das idyllische Städtchen Gardelegen unweit von Magdeburg wurde 24 Stunden vor dem Einmarsch der Alliierten zum Schauplatz eines grauenvollen Massakers:
"Eine Gruppe von 1000 Häftlingen von Nebenlagern von Mittelbau-Dora sind da im April 1945 stecken geblieben. Und sie wurden in eine Scheune gesperrt und dort kurzerhand verbrannt. Dieser Massenmord wurde vom örtlichen Parteivorsitzenden organisiert, vom Kreisleiter Gerhard Thiele. Aber er war nicht allein bei der Sache - die ganze Gegend hat diesen Mord ausgeführt. Das Erschreckende -es gab dort nicht einen einzigen Menschen, der gesagt hätte: Stopp, das kann man nicht machen! Und ich spreche nicht von 1941 oder 42, es geht um den April 1945, die Amerikaner waren nur ein paar Kilometer entfernt – doch niemand hat die Gardelegener in ihrem Mordwahnsinn gestoppt. Das hat mich am meisten aufgeregt."
Um die Motive der mordenden Bürger zu begreifen, ist Blatman sogar nach Gardelegen gefahren. Doch die heutigen Bewohner wollten mit ihm nicht darüber reden. Erinnerungen an Mord vor der eigenen Haustür schmerzen, sagt Blatman. Und doch muss man sich daran erinnern, betont der Historiker - auch 66 Jahre später. Weil das letzte Holocaustkapitel uns viel über menschliche Abgründe lehrt:
"Das Thema der Todesmärsche hat eine sehr spezielle humanistische Botschaft. Schauen Sie - Menschen, die sich nicht speziell für Holocaust interessieren , die haben meistens folgende Vorstellung: 'Ok es gab diese verrückten Nazis, SS- Leute – aber normale Menschen hatten mit diesen Massakern nichts zu tun.' Ich glaube, Todesmärsche erzählen uns eine andere Geschichte.
Nämlich, du musst nicht unbedingt einer Gruppe von Fanatikern angehören, um furchtbare Verbrechen zu begehen. Auch du kannst so werden, und dein Nachbar auch- und zwar ohne überhaupt wahrzunehmen, dass man ein Verbrechen begeht. Denn die meisten Dörfler, die im Wald ein bis zwei KZ-Häftlinge ermordet haben, sahen sich nicht als fanatische Nazis oder Mörder. Sie haben einfach nur ihre Familien beschützen wollen...
Ich glaube, das ist die spezielle humanistische Botschaft von dieser ganzen Geschichte, die unser Kenntnis über uns selbst vervollständigt."
Mehr zum Thema:
Mord vor der Haustür -Daniel Blatman: "Die Todesmärsche 1944/45". Rowohlt Verlag, (DLF, Andruck vom 31.1.2011)
"Mit Beginn der Naziherrschaft waren die KZ-Häftlinge von der Zivilbevölkerung isoliert, streng bewacht hinter Gittern. Nun mussten sie zu Hunderttausenden durch die Dörfer ziehen, wo normale Bürger lebten. Dies war ein Zusammenprall. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt: In den Augen der meisten Deutschen waren diese Häftlinge Kriminelle: Sie waren Polen, Ukrainer, Juden, Kommunisten, sowjetische Kriegsgefangene. Kurz: Sie waren allesamt 'Untermenschen'.
Der dritte Punkt: Die Deutschen leben seit 12 Jahren unter starker ideologischer Propaganda, die die KZ-Insassen als 'Feinde des Deutschen Reiches' bezeichnet. Man hielt sie also für eine echte Gefahr.
Und der letzte Punkt: Es herrschte Gesetzlosigkeit ohne funktionierende Polizei und Armee. Normale Bürger glaubten, selbst für ihre Sicherheit sorgen zu müssen. Und diese außergewöhnliche Lage war für die KZ-Insassen gefährlich. Wenn sie sich in den Wäldern verstecken wollten, um auf die Befreiung durch Amerikaner oder Engländer zu warten, wurden sie dort oft von der Zivilbevölkerung aufgespürt und ermordet."
Die Namen der Mörder sind auch nach 66 Jahren in Archiven nachzulesen, sagt der Historiker – die Alliierten hatten an Orten des Massakers genaue Untersuchungen durchgeführt und manche Fälle sogar vor Gericht gebracht. Blatman überraschte ein anderer Aspekt:
"Bei fast allen Fällen wurde allgemein angenommen, dass die SS dafür verantwortlich sei oder die Wehrmacht. Doch je mehr ich mich mit den Dokumenten befasste, desto überraschter war ich, festzustellen, dass sich auch ganz normale Bürger aus der jeweiligen Region an den Morden beteiligt hatten. Die meisten Fälle waren der Forschung vorher völlig unbekannt, es waren Fälle, wo zwei bis drei deutsche einen KZ-Häftling ermordeten, den sie gefunden hatten –oft im Wald in der Nähe ihres Dorfes. Manchmal nahmen sie Gewehre, manchmal Knüppel. Ich fand Dutzende dieser Fälle."
Die Bürger als Henker. Sie mordeten aus Angst, die Häftlinge würden an den Deutschen Rache üben. Der Historiker kennt allerdings keinen einzigen Racheakt seitens der entflohenen Sträflinge. Die waren schlichtweg körperlich dazu nicht in der Lage. Bei seinen zumeist deprimierenden Recherchen entdeckte Blatman immerhin einige Beispiele von menschlichem Mitgefühl:
"Das erzählen die Überlebenden, denen es gelungen war, aus der Kolonne zu entkommen und ein guter Bauer oder Dörfler haben ihre Tür geöffnet und sie in der Scheune oder gar im Haus versteckt - für paar Tage, bis die Amerikaner kamen. Und es gab sogar den Fall in Burgstall, wo das ganze Dorf eine Gruppe von 500 KZ-Häftlingen beschützte. Die Amerikaner waren schon sehr nah, die SS machte sich davon und die gesamte Schar überlebte. Aber das ist ein Einzelfall."
Keine 50 Kilometer nordwestlich von Burgstall ging eine ähnliche Geschichte anders zu Ende. Das idyllische Städtchen Gardelegen unweit von Magdeburg wurde 24 Stunden vor dem Einmarsch der Alliierten zum Schauplatz eines grauenvollen Massakers:
"Eine Gruppe von 1000 Häftlingen von Nebenlagern von Mittelbau-Dora sind da im April 1945 stecken geblieben. Und sie wurden in eine Scheune gesperrt und dort kurzerhand verbrannt. Dieser Massenmord wurde vom örtlichen Parteivorsitzenden organisiert, vom Kreisleiter Gerhard Thiele. Aber er war nicht allein bei der Sache - die ganze Gegend hat diesen Mord ausgeführt. Das Erschreckende -es gab dort nicht einen einzigen Menschen, der gesagt hätte: Stopp, das kann man nicht machen! Und ich spreche nicht von 1941 oder 42, es geht um den April 1945, die Amerikaner waren nur ein paar Kilometer entfernt – doch niemand hat die Gardelegener in ihrem Mordwahnsinn gestoppt. Das hat mich am meisten aufgeregt."
Um die Motive der mordenden Bürger zu begreifen, ist Blatman sogar nach Gardelegen gefahren. Doch die heutigen Bewohner wollten mit ihm nicht darüber reden. Erinnerungen an Mord vor der eigenen Haustür schmerzen, sagt Blatman. Und doch muss man sich daran erinnern, betont der Historiker - auch 66 Jahre später. Weil das letzte Holocaustkapitel uns viel über menschliche Abgründe lehrt:
"Das Thema der Todesmärsche hat eine sehr spezielle humanistische Botschaft. Schauen Sie - Menschen, die sich nicht speziell für Holocaust interessieren , die haben meistens folgende Vorstellung: 'Ok es gab diese verrückten Nazis, SS- Leute – aber normale Menschen hatten mit diesen Massakern nichts zu tun.' Ich glaube, Todesmärsche erzählen uns eine andere Geschichte.
Nämlich, du musst nicht unbedingt einer Gruppe von Fanatikern angehören, um furchtbare Verbrechen zu begehen. Auch du kannst so werden, und dein Nachbar auch- und zwar ohne überhaupt wahrzunehmen, dass man ein Verbrechen begeht. Denn die meisten Dörfler, die im Wald ein bis zwei KZ-Häftlinge ermordet haben, sahen sich nicht als fanatische Nazis oder Mörder. Sie haben einfach nur ihre Familien beschützen wollen...
Ich glaube, das ist die spezielle humanistische Botschaft von dieser ganzen Geschichte, die unser Kenntnis über uns selbst vervollständigt."
Mord vor der Haustür -Daniel Blatman: "Die Todesmärsche 1944/45". Rowohlt Verlag, (DLF, Andruck vom 31.1.2011)