Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg
Fans des SC Freiburg warben im Januar 2015 für ein "Ja": Per Bürgerentscheid sollte entschieden werden, ob in der Stadt ein neues Fußballstadion gebaut werden soll. Die Bürger votierten am Tag darauf für einen Neubau. © picture alliance / dpa / Patrick Seeger
Was aus der "Politik des Gehörtwerdens" geworden ist
13:31 Minuten
Vor zehn Jahren symbolisierte die Volksabstimmung über das Bahnprojekt Stuttgart 21 einen Paradigmenwechsel: Das Votum sollte der Auftakt für mehr Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg sein. Ist das Versprechen umgesetzt worden? Eine Bilanz.
Vor ziemlich genau zehn Jahren begann in Baden-Württemberg ein Paradigmenwechsel: mit der Volksabstimmung um das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21. Der damals frisch gewählte Ministerpräsident von den Grünen, Winfried Kretschmann, prägte das Schlagwort von der „Politik des Gehörtwerdens“. Direkte Demokratie sollte einfacher, die Menschen besser und früher in die Planung von Projekten einbezogen werden.
Bürgerforum zur Corona-Politik
Heute piept es erstmal.Mehr als 50 Menschen sind in einer Videokonferenz zusammengeschaltet im Bürgerforum der baden-württembergischen Regierung, um deren Corona-Politik zu diskutieren, neue Impulse zu geben.
Die Moderatorin fragt: „Ist es fair, dass Ungeimpfte von bestimmten Bereichen des öffentlichen und Berufslebens ausgeschlossen sind?" So leitet sie die Diskussion ein.
Die Moderatorin fragt: „Ist es fair, dass Ungeimpfte von bestimmten Bereichen des öffentlichen und Berufslebens ausgeschlossen sind?" So leitet sie die Diskussion ein.
Mütter, Rentner; Unternehmerinnen, Studenten – ein Querschnitt der Bevölkerung, zufällig ausgewählt, diskutiert hier in Kleingruppen. Sie haben gerade fast zwei Stunden Experten zugehört.
„Ja, dann fang ich mal an“, bringt sich Fatih Yilmazli als erster ein. Er ist schon geübt. Der Lokführer aus dem Schwarzwald ist seit elf Monaten dabei: „Ich würde es eingrenzen. Geht es um Privatvergnügen, geht es um Arbeit?“
Lisa Giusy sagt: „Ehrlich gesagt, die nicht geimpft sind, sollen nicht mal zum Arbeiten gehen.“
Die Regierung soll die Bürger besser verstehen
Pro, Contra, abwägen. Wie kann eine gute Corona-Politik aussehen? In den elf Monaten Bürgerforum habe er viel über Regierungspolitik gelernt, sagt Yilmazli: „Es ist nicht so einfach, wie manche denken und die auf Twitter, mit einem Fakeprofil, irgendwelche Kommentare von sich geben: Ach, die Regierung macht dies; ach, die Landesregierung ist so schlecht. Das ist komplex. Ich habe da schon einen Riesenrespekt davor.“
Sie wollen aber nicht nur Regierungspolitik verstehen – die Regierung soll auch die Menschen besser verstehen: "Dass die Politik zumindest mal weiß, was wir denken oder empfinden“, sagt Fatih Yilmazli.
Beschäftigte der Landesregierung hören zu bei den Diskussionen und reichen die Ergebnisse weiter: „Am Ende des Prozesses wird ein Abschlusskommuniqué stehen, und das wird dann auch überreicht werden", erläutert Barbrara Bosch. "Aber bereits die Zwischenschritte werden ins Kabinett, werden in den Landtag eingespeist“ verspricht Bosch, die im Juli zur neuen Staatsrätin für Zivilgesellschaft ernannt worden ist.
Bürgerdialog als Kernanliegen
Damit ist Bosch zuständig für die Bürgerbeteiligungsprozesse in Baden-Württemberg. Ihre Vorgängerin hat zehn Jahre lang die Beteiligungspolitik etabliert.
Der Bürgerdialog ist ein Kernanliegen: Bei strittigen Bauprojekten, polarisierenden politischen Themen sollen die Menschen direkt befragt werden.
„Das hilft nicht nur im Hinblick auf eine zu treffende Entscheidung", sagt die Staatsrätin. "Das hilft sogar sehr viel früher schon, wenn ein Thema überhaupt erst ansteht.“
Die Grenzen der Wirksamkeit
Von Regierung und Landtag wurden inzwischen zehn große Bürgerforen in Baden-Württemberg gestartet: Zufällig ausgewählte Menschen haben über die Altersversorgung für Abgeordnete oder über den Umbau der Stuttgarter Oper diskutiert. Am Ende steht immer eine Empfehlung: Wie weiter?
Kritiker sagen, die Foren seien oft zu spät im Prozess gekommen. Und: Nicht immer seien die Empfehlungen dann auch umgesetzt worden.
„Es ist nicht in allen Fällen völlig anders entschieden worden", sagt Barbara Bosch. "Aber unabhängig hiervon: Von vornherein wird sehr deutlich gesagt, dass wir in der repräsentativen Demokratie sind, dass es Gremien gibt, die zu entscheiden haben und die auch entscheiden werden.“
„Es ist kein Ersatzparlament in irgendeiner Form", sagt der Politikwissenschaftler Ulrich Eith dazu: "Es geht ja auch nicht um Repräsentativität, sondern es geht darum, Menschen zusammenzubringen, die dann eine Position formulieren, die sich auf diesen Prozess einlassen.“
Der Wissenschaftler von der Universität Freiburg hat in mehreren Studien die Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg untersucht. Er kommt, wie auch andere Untersuchungen, zu einem positiven Fazit, egal, ob das Ergebnis von der Mehrheit im Parlament übernommen wurde oder nicht.
Lehren aus dem Fiasko um Stuttgart 21
Gleich zu Beginn der Regierungszeit vor zehn Jahren hat Grün-Rot in Baden-Württemberg damals festgelegt: Ob nun Straßen gebaut werden, Gewässer renaturiert oder andere Bauprojekte anstehen – wenn das Land sie baut, müssen Bürgerinnen und Bürger früh einbezogen werden. Noch bevor es konkrete Planungen und Beschlüsse gibt.
Das war eine der Lehren aus dem Fiasko um Stuttgart 21 vor zehn Jahren. „Der entscheidende Vorteil daran ist: Man hat dann noch keine Verbände oder Interessengruppen, die jeweils auch ihre Interessen ins Schaufenster hängen", erklärt Ulrich Eith. "Das zeigt sich dann in sehr vielen dieser Verfahren, dass die Menschen eine sehr große Bereitschaft haben, sich zusammen zu informieren, aber dann auch zusammen zu diskutieren und mal zu versuchen: Wie kann man denn zu vernünftigen Lösungen kommen?“
Das Ziel: Probleme früh erkennen und ausräumen. Protest soll gar nicht erst entstehen.
Trotzdem wird auch immer wieder Kritik laut: Gerade das Corona-Bürgerforum wurde von der Opposition als „Alibi-Veranstaltung" kritisiert.
Für den Verein „Mehr Demokratie“ sind Bürgerdialoge wichtig – aber höchstens ein Element der Beteiligung. Der Lobbyverband berät Kommunen und Bürgerinitiativen.
„Gerade die dialogischen Verfahren könnten sehr gut mit direkter Demokratie kombiniert werden, indem man sagt, man macht ein dialogisches Verfahren, um einen inhaltlichen Vorschlag zu entwickeln", sagt "Mehr Demokratie"-Geschäftsführerin Sarah Händel: "Dann kann man ohne Probleme über diesen Vorschlag eine direktdemokratische Abstimmung machen.“
25 direkte Abstimmungen im Jahr in Gemeinden
Meist entstehen Bürgerentscheide dann aber doch aus Protesten vor Ort. Aber: Direkte Abstimmungen sind deutlich einfacher geworden in Baden-Württemberg. Grüne und SPD haben nach dem Desaster um Stuttgart 21 die Hürden für Volksabstimmungen, Bürgerentscheide und -begehren gesenkt: geringere Quoren, mehr Zeit zum Unterschriftensammeln. Und mehr Befugnisse.
Volksabstimmungen hat es trotzdem keine gegeben. Zwei Anläufe gab es für direkte Abstimmungen auf Landesebene: Der eine mündete immerhin in einen Kompromiss – und ein ehrgeiziges Gesetz zum Ökolandbau.
Die Zahl der durchgeführten Bürgerentscheide, die direkten Abstimmungen auf Gemeindeebene, hat sich fast verdoppelt: Durchschnittlich 25 gibt es im Jahr.
Die Befürchtung der Kommunen, es würden vor allem Einzelinteressen durchgedrückt, habe sich nicht bestätigt, sagt Sarah Händel von „Mehr Demokratie“: „In der Realität geht es nämlich fifty-fifty aus. In ungefähr 50 Prozent der Fälle gewinnen die Initiativen, in 50 Prozent der Fälle die Gemeinderäte.“
Das Ergebnis ist dann drei Jahre verbindlich. Wird zum Beispiel ein Gewerbegebiet abgelehnt, darf so lange nicht gebaut werden. Danach kann neu diskutiert werden.
Im Ergebnis sorgt so ein Entscheid oft für viel Streit vor Ort. Sarah Händel sieht darin aber eher Stellvertreterkonflikte: „Je seltener wir den Menschen die Chance geben, auch mal direkt abzustimmen und ihre Meinung kundzutun, desto aufgeladener werden sie. Da werden dann die Momente, wo wir gefragt werden, genutzt, um diese Gefühlslagen dem System mitzuteilen.“
Bürgerentscheide zu Windkraftanlagen
Die baden-württembergische Regierung äußert sich inzwischen trotzdem vorsichtiger zu direktdemokratischen Verfahren. Während vor allem die Bürgerdialoge weiter ausgebaut werden sollen, könnten Bürgerentscheide zu Windkraftanlagen sogar eingeschränkt werden.
Die Bilanz nach zehn Jahren „Politik des Gehörtwerdens“ ist trotzdem überwiegend positiv. In Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft.