Bürgerbeteiligung contra Politik-Frust
Energiewende, Euro, Finanzmarkt-Stürme: Nur mit Wollen und Wirken aller Bürger werden wir die Herausforderungen, die vor uns liegen, demokratisch bewältigen. Deutschland 21 braucht aktivere Bürger; aktivere Bürger aber wollen teilhaben - und mitentscheiden.
Das Debakel von Stuttgart hat immerhin ein paar demokratische Steine ins Rollen gebracht: Dem Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung entzieht sich kein Politiker mehr – jedenfalls nicht in der Rhetorik.
Im Frühjahr riefen Bundespräsident Wulff und die Bertelsmann-Stiftung ein "Bürgerforum 2011" ins Leben. 10.000 Bürger aus 25 Regionen und Städten – eine Zukunftsauswahl – diskutierten, wie der demokratische Zusammenhalt gestärkt werden könnte. Das Ergebnis war ein Bündel handfester Forderungen: Abschaffung des Bildungsföderalismus und des Ehegattensplittings, existenzsichernde Mindestlöhne, ein soziales Pflichtjahr. Und weiter: Verbot von Nebentätigkeiten für Abgeordnete, Lobbykontrolle, Lockerung des Fraktionszwangs. Und vor allem: mehr Bürgerbeteiligung.
Ein Weihnachts-Wunschzettel, sagen politische "Realisten". Haben wir nicht grade ganz andere Sorgen: Energiewende, Euro, Finanzmarkt-Stürme? Umgekehrt wird ein zukunftsfähiger Schuh draus: Nur mit Wollen und Wirken aller Bürger werden wir die Herausforderungen, die vor uns liegen, demokratisch bewältigen: die Umstellung von Industrie, Mobilität, Wohnen und Lebensweise auf erneuerbare Energien, die Reorganisation von Gesundheitswesen und Sozialsystem bei knapperen Finanzen, die finanziellen Opfer, die uns Europa abverlangt. Es wird umverteilt werden müssen, vor allem aber muss es mittelfristig mehr tätige Mitwirkung in den Kommunen, den Schulen, bei der Pflege geben. Deutschland 21 braucht aktivere Bürger; aktivere Bürger aber wollen teilhaben – und mitentscheiden.
Auf der kommunalen Ebene, wenn es um die Gestaltung der Städte geht, um Wohnungsbau, gegen die Privatisierung von Wasserwerken oder Kultureinrichtungen, mischen sich Bürger an hundert Orten dieser Republik ein. Aber reicht ihre Beteiligungslust auch dorthin, wo die großen, machtdurchsetzten Entscheidungen fallen?
Unser Alltag ist an Orte gebunden, dort entsteht der Bürgersinn. Aber auch hier, in den Kommunen und Regionen, wirkt der Wirbel der Finanzmärkte, kumulieren sich die Auswirkungen von drei Jahrzehnten neoliberaler, von rechten wie linken Regierungen betriebener Entfesselung der Ökonomie: Arbeitslosigkeit, öffentliche Armut, Immobilienspekulation, Migration.
Bürger, die mehr sein wollen als veränderungsscheue Bestandswahrer, müssen diese ganze Welt in den Blick nehmen. Demokratie unterliegt dem Zwang zur Veränderung; wenn wir sie nicht verändern, verkümmert sie. Und Politik ist ein Spiel von Druck und Gegendruck. Wenn also der Weltmarkt das soziale Leben, wenn die Bankenkrise die kulturellen Institutionen einer Stadt bedrücken, Steuergesetze die Kluft zwischen arm und reich vertiefen, dann muss Kommunalpolitik ihren Wirkungskreis erweitern. Hier liegt die große und anstrengende nächste Stufe der "Bürgerbeteiligung": Kommunen, als die Orte, an denen wir leben, und kommunale Parlamente, als ihre Vertreter, müssen in der Bundespolitik stärker zur Geltung kommen, damit unsere Lebensorte bewohnbar bleiben.
Dem Wandel der Epoche entspräche es also, wenn unsere Verfassung – statt des Bundesrates – einen Städte- und Regionenrat als zweite Kammer neben dem Bundestag vorsähe, als Gewicht gegen die transnationalen Mächte, denen die Regierungen zu erliegen drohen. Aber Verfassungen sind schwer zu ändern.
In Italien gehen zur Zeit Hunderte von Bürgermeistern mit auf die Straßen – eine Bürgerbewegung ganz besonderer Art. Wir sind noch nicht so weit, aber auch unsere Kommunen brauchen dringend eine neue Finanzordnung. Der Weg dorthin aber führt über Gesetze, und das heißt, über mutige Politiker in Berlin.
Bürgerbeteiligung, Revitalisierung der Parteien, Stärkung der Abgeordneten gegen Lobbys und Elitenhierarchie – das sind Flanken desselben Kampfes um Demokratie. Wir müssen also die gängige Spaltung in "wir Bürger" und "die Politiker" überprüfen. In unserem Denken und unserem politischen Handeln. Bürgerbeteiligung, das klingt noch defensiv. Demokratie ist ein Mechanismus zur Zähmung der Macht – und zu ihrer Gewinnung. Und aktive Bürger, das sind machtbewusste Bürger.
Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für die "Zeit", die "taz" und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen u.a.: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?". Mathias Greffrath lebt in Berlin.
Im Frühjahr riefen Bundespräsident Wulff und die Bertelsmann-Stiftung ein "Bürgerforum 2011" ins Leben. 10.000 Bürger aus 25 Regionen und Städten – eine Zukunftsauswahl – diskutierten, wie der demokratische Zusammenhalt gestärkt werden könnte. Das Ergebnis war ein Bündel handfester Forderungen: Abschaffung des Bildungsföderalismus und des Ehegattensplittings, existenzsichernde Mindestlöhne, ein soziales Pflichtjahr. Und weiter: Verbot von Nebentätigkeiten für Abgeordnete, Lobbykontrolle, Lockerung des Fraktionszwangs. Und vor allem: mehr Bürgerbeteiligung.
Ein Weihnachts-Wunschzettel, sagen politische "Realisten". Haben wir nicht grade ganz andere Sorgen: Energiewende, Euro, Finanzmarkt-Stürme? Umgekehrt wird ein zukunftsfähiger Schuh draus: Nur mit Wollen und Wirken aller Bürger werden wir die Herausforderungen, die vor uns liegen, demokratisch bewältigen: die Umstellung von Industrie, Mobilität, Wohnen und Lebensweise auf erneuerbare Energien, die Reorganisation von Gesundheitswesen und Sozialsystem bei knapperen Finanzen, die finanziellen Opfer, die uns Europa abverlangt. Es wird umverteilt werden müssen, vor allem aber muss es mittelfristig mehr tätige Mitwirkung in den Kommunen, den Schulen, bei der Pflege geben. Deutschland 21 braucht aktivere Bürger; aktivere Bürger aber wollen teilhaben – und mitentscheiden.
Auf der kommunalen Ebene, wenn es um die Gestaltung der Städte geht, um Wohnungsbau, gegen die Privatisierung von Wasserwerken oder Kultureinrichtungen, mischen sich Bürger an hundert Orten dieser Republik ein. Aber reicht ihre Beteiligungslust auch dorthin, wo die großen, machtdurchsetzten Entscheidungen fallen?
Unser Alltag ist an Orte gebunden, dort entsteht der Bürgersinn. Aber auch hier, in den Kommunen und Regionen, wirkt der Wirbel der Finanzmärkte, kumulieren sich die Auswirkungen von drei Jahrzehnten neoliberaler, von rechten wie linken Regierungen betriebener Entfesselung der Ökonomie: Arbeitslosigkeit, öffentliche Armut, Immobilienspekulation, Migration.
Bürger, die mehr sein wollen als veränderungsscheue Bestandswahrer, müssen diese ganze Welt in den Blick nehmen. Demokratie unterliegt dem Zwang zur Veränderung; wenn wir sie nicht verändern, verkümmert sie. Und Politik ist ein Spiel von Druck und Gegendruck. Wenn also der Weltmarkt das soziale Leben, wenn die Bankenkrise die kulturellen Institutionen einer Stadt bedrücken, Steuergesetze die Kluft zwischen arm und reich vertiefen, dann muss Kommunalpolitik ihren Wirkungskreis erweitern. Hier liegt die große und anstrengende nächste Stufe der "Bürgerbeteiligung": Kommunen, als die Orte, an denen wir leben, und kommunale Parlamente, als ihre Vertreter, müssen in der Bundespolitik stärker zur Geltung kommen, damit unsere Lebensorte bewohnbar bleiben.
Dem Wandel der Epoche entspräche es also, wenn unsere Verfassung – statt des Bundesrates – einen Städte- und Regionenrat als zweite Kammer neben dem Bundestag vorsähe, als Gewicht gegen die transnationalen Mächte, denen die Regierungen zu erliegen drohen. Aber Verfassungen sind schwer zu ändern.
In Italien gehen zur Zeit Hunderte von Bürgermeistern mit auf die Straßen – eine Bürgerbewegung ganz besonderer Art. Wir sind noch nicht so weit, aber auch unsere Kommunen brauchen dringend eine neue Finanzordnung. Der Weg dorthin aber führt über Gesetze, und das heißt, über mutige Politiker in Berlin.
Bürgerbeteiligung, Revitalisierung der Parteien, Stärkung der Abgeordneten gegen Lobbys und Elitenhierarchie – das sind Flanken desselben Kampfes um Demokratie. Wir müssen also die gängige Spaltung in "wir Bürger" und "die Politiker" überprüfen. In unserem Denken und unserem politischen Handeln. Bürgerbeteiligung, das klingt noch defensiv. Demokratie ist ein Mechanismus zur Zähmung der Macht – und zu ihrer Gewinnung. Und aktive Bürger, das sind machtbewusste Bürger.
Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für die "Zeit", die "taz" und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen u.a.: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?". Mathias Greffrath lebt in Berlin.