Wie die SPD Volksbegehren verzögert
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Schon über ein Jahr warten vier Berliner Volksbegehren darauf, dass über ihre Vorschläge abgestimmt wird. Kritiker werfen der SPD-geführten Landesregierung vor, die Begehren mit Absicht zu verschleppen – und fordern nun neue, verbindliche Fristen.
Die Initiative "Deutsche Wohnen enteignen" genießt breite Unterstützung in der Berliner Bevölkerung – nicht nur bei ein paar Demonstranten. Im Juni übergaben die Aktivisten der Berliner Innenverwaltung 77.000 Unterschriften. Erster Schritt hin zu einem Volksentscheid. Ihr Ziel: die Enteignung großer privater Immobilienkonzerne. Aber bis die Berliner über den Vorschlag abstimmen können, wird es noch lange dauern. Sehr lange. Das weiß auch Susanna Raab, Sprecherin der Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen".
"Wir warten jetzt schon seit drei Monaten auf die rechtliche Prüfung unseres Volksbegehrens. Das ist keine Ausnahme mit unserem Volksentscheid. Der Senat hat gerade in den letzten Jahren diese Phase oft benutzt, um Volksbegehren in die Länge zu ziehen und diese Initiativen mürbe zu machen."
Stimmen die Vorwürfe?
Stimmt das? Warum dauert das so lange? Will der Senat Bürgerinitiativen mürbe machen, die für Volksentscheide kämpfen? Wie hält es der Berliner Senat mit der Bürgerbeteiligung? – Darüber wollte ich mit dem Regierenden Bürgermeister, dem Sozialdemokraten Michael Müller, oder einem anderen Vertreter der Senatskanzlei ein Interview führen. Senatssprecherin Kathi Seefeld teilt mit, der Regierende sei dazu nicht bereit. Das Thema sei zu "kleinteilig". Und überhaupt: Zuständig sei die Innenverwaltung.
Fragen wir also Martin Pallgen, den Sprecher des Berliner Innensenators Andreas Geisel, SPD. Pallgens Antwort überrascht:
"Wir sind für Fragen der Bürgerbeteiligung der falsche Ansprechpartner. Hier ist vor allem die Stadtentwicklungsverwaltung verantwortlich."
Lassen wir uns nicht von der Innenverwaltung verkohlen. Für die Gesetze, die die Bürgerbeteiligung regeln und die gerade in der Diskussion sind, ist der Innensenator zuständig.
Der Sprecher der Innenverwaltung schreibt weiter:
"Prozesse zu Volkentscheiden ziehen sich nicht jahrelang. Die rechtliche Prüfung von Volksbegehren ist sehr komplex. Die Prüfung muss mit höchster Genauigkeit und rechtlicher Verlässlichkeit erfolgen, da damit stets unmittelbare Folgen für die Berlinerinnen und Berliner verbunden sind."
Keine politischen Fristen
Die Sozialdemokraten Müller und Geisel wollen also zur Bürgerbeteiligung kein Interview geben. Sofort zur Stelle ist dagegen Oliver Wiedmann, Sprecher des Vereins "Mehr Demokratie" in Berlin.
"Es gibt bisher keine Frist für den Senat, um ein Volksbegehren zu prüfen. Wenn die Unterschriften nach der ersten Stufe eingereicht werden, dann prüft der Senat oder die Innenverwaltung ein Volksbegehren auf die rechtliche Zulässigkeit, und da gibt es zum Beispiel keine Frist für die Verwaltung, was dazu geführt hat, dass die letzten zwei Volksbegehren über ein Jahr geprüft wurden, und das kann nicht sein – also da kann die Verwaltung sich doch ein bisschen mehr beeilen."
Das Verfahren für Volksbegehren wird im sogenannten "Abstimmungsgesetz" geregelt. Damit Bürgerinitiativen und Vereine ihre Volksbegehren schneller vorantreiben können, müssten in diesem Landesgesetz an zwei Punkten Fristen vorgeschrieben werden: Bei der "Kostenschätzung" und dann bei der rechtlichen "Zulässigkeitsprüfung".
Auf das Ergebnis dieser Prüfung wartet gerade die Initiative "Deutsche Wohnen enteignen". Ähnlich langsam geht es auch beim Volksbegehren "Gesunde Krankenhäuser" voran. Nachdem die Innenverwaltung das Volksbegehren ein Jahr lang geprüft hat und für verfassungswidrig erklärte, reichte sie es im Juli an den Berliner Verfassungsgerichtshof zur Prüfung weiter. Oder bei "Berlin werbefrei". Der Innensenator ist seit 15 Monaten mit der Zulässigkeitsprüfung beschäftigt. Insgesamt zwei Volksbegehren liegen in Berlin beim Innensenator, zwei weitere beim Verfassungsgerichtshof zur Prüfung.* Oliver Wiedmann von "Mehr Demokratie" schlägt vor, im Abstimmungsgesetz neue Fristen festzulegen.
"Ich denke, für die Kostenschätzung braucht es nicht mehr als zwei Monate. Ich denke, in der Zeit kann man sozusagen die Kosten überschlagen und für die rechtliche Zulässigkeit, denke ich, sind vier bis fünf Monate ausreichend."
Grüne pochen auf Erleichterung für Volksentscheide
Mitten in Nord-Neukölln, in der kopfsteingepflasterten Friedelstraße liegt das Wahlkreisbüro von Susanna Kahlefeld. Sie ist Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus und Sprecherin für Partizipation und Beteiligung. Auch Kahlefeld pocht auf Erleichterungen für Volksentscheide. Das "Abstimmungsgesetz" müsse novelliert werden. Darauf habe sich die rot-rot-grüne Regierung in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt. Sie fordert knappe Fristen für die Verwaltung: einen Monat für die Kostenschätzung und zwei Monate für die Zulässigkeitsprüfung.
"Wir wollen da eine Frist von vier Wochen, das gehört in dieses Paket von Erleichterungen von Volksentscheiden, und das hängt und hängt und hängt und wird eben verdealt mit Sachen, die damit nichts zu tun haben und auch nicht im Koalitionsvertrag stehen. Da lässt uns die SPD bisher hängen. Die haben ein Paket geschnürt mit Forderungen, die nicht im Koalitionsvertrag stehen – eine Verschärfung von Polizeigesetzen – und haben die Erleichterung von Volksentscheiden dran geknüpft, dass wir da zustimmen."
Ein politischer "Deal" innerhalb der Koalition ist also der Grund, warum der Senat die Änderungen für Volksentscheide bis heute nicht verabschiedet hat. Am Streit um ein verschärftes Polizeigesetz scheitert die Bürgerbeteiligung. Susanna Kahlefeld ist überzeugt, dass bei der SPD der politische Wille fehlt, Bürgerbeteiligung voranzubringen.
"Für mich ist das ganz klar ein Symptom, dass Bürgerbeteiligung zumindest beim Regierenden Bürgermeister und bei unserem Koalitionspartner (…) nicht an der ersten Stelle steht. Die Berliner SPD, so wie ich sie erlebe, hat ausgesprochen ein dezitiäres Demokratieverständnis in dem Sinne, dass sie die Ergänzung von repräsentativer Demokratie, also die Entscheidung durch die Gewählten, und eine deliberative Demokratie, nämlich die demokratische Mitentscheidung an einzelnen Prozessen, unabhängig von Wahlen, von Parteizugehörigkeiten – dieses Zusammenspiel skeptisch sieht oder ablehnt."
Direkte Demokratie ernster nehmen
Im Gespräch mit Susanna Kahlefeld in ihrem Neuköllner Wahlkreisbüro entsteht bei mir der Eindruck, als spräche ich mit einer Politikerin von der Opposition. Dabei trägt ihre grüne Fraktion den Senat mit. Der SPD wirft Kahlefeld vor, sie nutze die langen Bearbeitungszeiten bei Volksbegehren, um unliebsame Initiativen zu blockieren.
"Das ist einfach ein Machtinstrument. Natürlich könnte man schneller prüfen."
Kahlefeld redet Tachless, Oliver Wiedmann vom außerparlamentarischen Verein "Mehr Demokratie" formuliert es vorsichtiger:
"Ich glaube aber auch, dass direkte Demokratie noch nicht ernst genug genommen wird. Würde man in der Verwaltung ein Volksbegehren, das eingereicht wird, gleich sofort prüfen, würde das wahrscheinlich auch schneller gehen. Die SPD muss sich da, glaube ich, noch einen kleinen Ruck geben."
Einen Ruck geben muss sich die SPD offenbar auch bei einem anderen Bürgerwunsch, dem Transparenzgesetz.
"Das ist genau das gleiche Gewürge."
Transparenzgesetz nach Hamburger Vorbild
Mit anderen Worten: Die Berliner SPD blockiert in Sachen Bürgerbeteiligung fast jeden Fortschritt. Das Transparenzgesetz soll die Verwaltung durchschaubarer machen – nach dem Vorbild Hamburg: Verträge zwischen der Stadt und privaten Unternehmen, Gutachten, Senatsentscheidungen, eine Übersicht über öffentliche Aufträge und Lobbygruppen – all das soll in einem Internet-Portal für Interessierte zugänglich sein. Da der Senat hier nicht vorankommt, sammelt Oliver Wiedmanns Verein "Mehr Demokratie" seit August Unterschriften für einen Volksentscheid.
"Für die Bürgerinnen und Bürger hätte das Transparenzgesetz den großen Vorteil, dass sie relativ schnell und einfach Beschlüsse einsehen können, dass sie Dokumente über Verträge einsehen können, dass sie sehen können, wie weit Bauvorhaben sind, welche Firmen da beteiligt sind."
Aber auch beim Transparenzgesetz lässt sich der Senat viel Zeit. Martin Pallgen, Sprecher der Innenverwaltung, antwortet auf die Bitte um ein Interview zum Thema:
"In Sachen Abstimmungs- und Transparenzgesetz sind die Koalitionspartner noch in interner Abstimmung. Hier verbietet es sich, dies öffentlich zu kommentieren. (…) Für ein Interview steht der Innensenator aus den oben genannten Gründen derzeit nicht zur Verfügung. Ich danke für ihr Verständnis."
Die Berliner Verwaltung scheint für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt immer noch eine unbezwingbare Burg, ein schwer durchschaubares System – trotz des sogenannten "Informationsfreiheitsgesetzes" von 1999, das hier Abhilfe schaffen sollte.
Fortschritte im Bereich Stadtentwicklung und Wohnen
"Es ist sehr, sehr umständlich für die Bürger, an Informationen zu kommen. Es gibt ganze Kategorien von Dokumenten, die komplett ausgeschlossen sind, da kommen wir gar nicht ran. Im Moment ist es so: Ich als Berliner, wenn ich was wissen will von der Verwaltung, stelle einen Antrag, der kostet mitunter Gebühren. Das dauert ewig, bis diesem Antrag entsprochen wird und ich die Informationen zur Verfügung gestellt bekomme – oder ich bekomme sie eben gar nicht zur Verfügung gestellt."
"Die sind vom Informationsfreiheitsgesetz bisher gar nicht erfasst, und das wollen wir zum Beispiel ändern, so dass eben auch das Grünflächenmanagement, die Wohnungsbaugesellschaften, die Krankenhäuser transparenzpflichtig werden."
Fortschritte bei der Bürgerbeteiligung hat der Senat in dieser Legislaturperiode allein im Bereich Stadtentwicklung und Wohnen erreicht. Die Regierungsfraktionen präsentierten im September hierzu "Leitlinien" zur Bürgerbeteiligung. Künftig wird die Verwaltung eine Liste über die geplanten großen Bauvorhaben in der Stadt veröffentlichen. In der Liste steht, wo Bürgerinnen und Bürger an der Planung beteiligt werden.
Oliver Wiedmann vom Verein "Mehr Demokratie" sieht auch diese informelle Form der Bürgerbeteiligung kritisch.
Prüfen ohne Ende
"Was Berlin mal gut tun würde, wäre ein umfangreiches Beteiligungsverfahren, um sozusagen mal den Blick auf alle Flächen zu richten und mal zu gucken: Wie ist denn die Bedürfnislage unter den Berlinerinnen und Berlinern? Was soll denn zuerst gebaut werden? Was hat Vorrang? Was kommt danach? Sollen zuerst Dächer aufgestockt werden oder sollen nicht erst vielleicht auch ohnehin schon versiegelte Flächen bebaut werden und dann Grünflächen? Und ich glaube, da muss man sich mal grundlegend mit den Berlinerinnen und Berlinern zusammensetzen."
In der Debatte um die Enteignung großer Immobilienkonzerne, einem der zentralen Streitthemen dieses Jahres, müssen sich die Berliner weiter in Geduld üben. Der Senat prüft – und prüft. Susanna Raab, Sprecherin der Initiative "Deutsche Wohnen enteignen", bleibt nichts anderes übrig, als zu warten. Sie hofft, dass die Innenverwaltung im Herbst oder Winter die "Zulässigkeitsprüfung" endlich abschließt. Danach müssen Raab und ihre Mitaktivisten noch einmal 170.000 Unterschriften für den Volksentscheid zur Enteignung der großen Immobilienfirmen sammeln.
"Wir hoffen natürlich, dass wir nächstes Jahr schon zu einer Abstimmung kommen, aber es kann auch sein, dass sich das noch bis 2021 ziehen wird."
*Wir haben die Zahl der Volksbegehren, die von der Innenverwaltung geprüft werden, korrigiert.