"Eine zunehmende Warlordisierung"
Elias Perabo von der Organisation "Adopt a Revolution" kritisiert, dass die Politik angesichts des Bürgerkriegs in Syrien vor allem über die Terrororganisation Islamischer Staat spreche. Es gebe so viele unterschiedliche Konflikte in dem Land, die dezentral gelöst werden müssten.
Dieter Kassel: Vor heute genau einem Jahr töteten Chemiewaffen in den Vororten von Damaskus binnen kürzester Zeit mehr als 1.300 Menschen. Heute ist das fast vergessen. Die Meldung aber von der Vernichtung der von Assad an die internationale Gemeinschaft übergebenen Chemiewaffen vorgestern, die war groß und die klang fast so, als hätte das Ganze jetzt ein positives Ende gefunden. Über das Vorrücken der Terrororganisation IS, überhaupt über den Krieg in Syrien wird viel weniger geredet als über den Krieg im benachbarten Irak. Bei uns wird sich das jetzt zumindest vorübergehend ändern, denn bei mir im Studio ist Elias Perabo, er ist der Mitinitiator von "Adopt a Revolution!". Das ist eine Organisation, die es seit 2012 gibt und die die Arbeit der jungen syrischen Zivilgesellschaft unterstützt oder es zumindest versucht. Herr Perabo, erst mal schönen guten Morgen!
Elias Perabo: Guten Morgen!
Kassel: Hat dieser Giftgasangriff, jetzt, wenn man ein Jahr zurückblickt, Assad sogar auf eine gewisse zynische Art und Weise genützt, weil er wieder zum Ansprechpartner der internationalen Gemeinschaft geworden ist?
Perabo: Ja. Wenn man das zynisch und überspitzt sagen will, kann man in der Tat sagen, dass Assad eigentlich auch ein Stück durch dieses Giftgas gerettet worden ist, indem er sozusagen Ansprechpartner geworden, indem er sozusagen der internationalen Gemeinschaft vorwiegend erst mal sagen konnte, dass er ein verlässlicher Partner war. Gleichzeitig, und ich glaube, das ist die Kehrseite, und das ist auch das Schreckliche, fragen immer wieder unsere Partner: Okay, das Giftgas hat Assad irgendwie gerettet – aber wer rettet uns, wer rettet Syrien? Wir sehen heute, dass das in den Gebieten, wo damals Giftgas eingesetzt worden ist, dass die Leute unter katastrophalen Bedingungen leben. Es sind Krankheiten, es gibt Seuchen in diesen Gebieten. Das Gebiet wird von dem Regime belagert und vor allem, und das ist, glaube ich, los: Den Menschen wird nicht geholfen, die Menschen haben gefragt, wo ist diese internationale Gemeinschaft, wer rettet uns? Und hier hat die internationale Gemeinschaft geschwiegen, muss man sagen.
Kassel: Bevor wir vom Retten sprechen, bleiben wir beim Helfen. Man sollte glauben, nach so einem Angriff – damals war das schon ein unglaubliches Ereignis, und so wurde damals auch davon berichtet, dass zumindest in großem Umfang humanitäre Hilfe angerollt wäre. Hat die die Menschen in diesen Gebieten gar nicht erreicht?
"Weil der Glaube an die internationale Hilfe einfach gestorben ist"
Perabo: Nein. Die humanitäre Hilfe ist leider nicht in die Gebiete gekommen, die mehrheitlich von den Rebellen oder der Opposition besetzt war. Die humanitäre Hilfe ist meistens in den Regimegebieten geendet, das heißt, es wurde ganz lange kein Zugang zu diesen Gebieten geschaffen. Es wurde aber auch kaum das probiert. Man hat sich von der internationalen Seite sehr stark von Anfang an auf die Abrüstung der Waffen konzentriert, was einerseits natürlich richtig ist. Andererseits hat dies ein Riesenproblem in Syrien selber geschaffen, weil sehr viele Leute sich von der internationalen Gemeinschaft abgewendet haben. Wir kriegen immer wieder von unseren Partnern vor Ort die Berichte, dass die gesagt haben, die Leute haben sich gerade nach diesem Chemiegaseinsatz radikalisiert, weil der Glaube an Menschenrechte, weil der Glaube an die internationale Hilfe einfach gestorben ist.
Kassel: Heißt radikalisiert auch, dass er zumindest in einigen Fällen die Menschen auch der IS in die Arme getrieben hat?
Perabo: Ja, das muss man vor allem in Nordsyrien sehen, wo die Kämpfer der IS über die Grenze der Türkei in das Land gekommen sind, wo die Menschen uns auch ganz ehrlich gesagt haben, vor allem auf den Dörfern wurde die IS auch erst mal empfangen, weil sie mit einem falschen Heilsversprechen kamen, zu sagen, wir sind diejenigen, die euch helfen, wir sind diejenigen, die euch irgendwie beschützen, euch zumindest etwas Schutz vor der barbarischen Gewalt von Assad geben. Und die Menschen haben erst nach ein paar Wochen oder nach ein paar Monaten gemerkt, wer da wirklich kam und was für eine neue Form der Unterdrückung, und was für eine neue Form der Diktatur der IS verbindet.
Kassel: Ich habe es gesagt, Ihre Organisation "Adopt a Revolution" unterstützt die junge syrische Zivilgesellschaft. Ich frage mich, wie viele Menschen gibt es überhaupt noch in Syrien, die eine Zivilgesellschaft, so, wie wir uns das im Westen vorstellen, noch wollen?
Gerade wieder Stärkung der Zivilgesellschaft "in diesem ganzen Grauen"
Perabo: Ich glaube, das ist sehr unterschiedlich, und es kommt sehr unterschiedlich auf die ländlichen Regionen an, wie man auf Syrien guckt. Wir erleben gerade eigentlich eher wieder eine Stärkung dieser Zivilgesellschaft in diesem ganzen Grauen. Man muss sich vorstellen, es geht jetzt nicht mehr darum, dass man demonstrieren geht, so wie man das vielleicht vor zwei, drei Jahren, als dieser Aufstand sehr neu war, gemacht hat, sondern es geht darum, dass man irgendwie es schafft, in diesem alltäglichen Grauen zu überleben, das heißt, dass man Strukturen aufbaut, Bibliotheken, Schulen, Jugendzentren, um sich irgendwie von diesem alltäglichen Grauen abzulenken, um sich neu zu beschäftigen und vor allem, um den Anspruch selber zu haben, irgendwie für den Tag nach diesem Krieg, der in Syrien stattfindet, etwas aufzubauen.
Kassel: Wie empfinden aber zum Beispiel viele Menschen, oder auch konkret, wie empfindet die Freie Syrische Armee zum Beispiel den Beschluss Deutschlands jetzt, Waffen an die Kurden im Irak zu liefern. Ich frage das gerade im Bezug auf die Freie Syrische Armee auch deshalb, weil die seit Monaten ausdrücklich fordert, von den Amerikanern und/oder den Europäern mit Waffen ausgerüstet zu werden – und beide tun es nicht.
Perabo: Ich glaube, wir können nicht für die Freie Syrische Armee wirklich sprechen, weil wir ja sozusagen mit den zivilen Akteuren im Land zusammenarbeiten, aber dennoch, glaube ich, muss man sagen, die Debatte um die Waffen ist das eine. Ich glaube, was es aber viel stärker braucht, ist zu sagen, wir brauchen wieder eine politische Strategie für Syrien. Vor einem halben Jahr hat in Genf – die Friedensverhandlungen zu Syrien sind gescheitert, und seitdem gibt es eigentlich faktisch keinen Prozess mehr, weder auf der UN-Ebene noch auf der EU noch Deutschland hat eine Strategie. Und ich glaube, die Vorstellung, man könnte diesen Konflikt in Syrien eindämmen, also eine Eindämmungsstrategie probieren, hat sich jetzt spätestens im Irak gezeigt, wie dieses nicht funktionieren kann. Und wenn wir IS bekämpfen wollen, müssen wir zurück nach Syrien kommen und müssten sozusagen eine Strategie dort entwickeln.
In Damaskus ist das Regime omnipräsent
Kassel: Aber wenn man die IS bekämpft – das Ganze ist ja so unübersichtlich in Syrien. Schon bevor die so stark wurde, gab es ja nicht nur Assad und seine Armee auf der einen Seite und welche Gegner auch immer auf der anderen. Es gab vorher schon die IS, die noch ISIS hieß und die viele nicht kannten. Es gab andere Gruppierungen, die gegen oder für Assad und trotzdem nicht auf der Seite der Demokratiebewegung standen. Das ist doch heute noch viel unübersichtlicher als vor ein, zwei Jahren.
Perabo: Das ist unübersichtlicher, aber ich glaube, genau da muss man rein und muss das regional, dezentral sozusagen für sich lösen. Wenn wir uns das Land angucken, gibt es unterschiedliche Konflikte in unterschiedlichen Orten. Wir haben im Süden die Konstellation, dass es einen angehenden Konflikt zwischen sozusagen der Freien Syrischen Armee und dem Regime gibt. In Damaskus selber ist das Regime faktisch omnipräsent, in den Vororten wiederum sind die Rebellen nur präsent. Im Norden ist es dann wieder anders, dort haben wir wieder IS, den radikalen Dschihadisten sozusagen, Kämpfe mit den Kurden, aber auch mit der Freien Syrischen Armee, das heißt, es ist ein sehr großes Portfolio mit sehr unterschiedlichen Konflikten da drin.
Ich glaube aber, es ist viel zu kurz, wenn wir heute über die IS sprechen. Sich wirklich nur auf deren schreckliche Gewalt zu fokussieren, weil, solange wir nicht die Gewalt des Regimes, die barbarisch genug ist und die auch heute immer noch mehr Menschen tötet als die Gewalt der IS in Syrien, solange wir dies nicht in das Bild betrachten, werden wir nicht auch zu den Ursachen für die Akzeptanz der IS in Syrien kommen.
Kassel: Sie waren aus verschiedenen organisatorischen Gründen jetzt ein paar Monate nicht mehr selber in Syrien. Aber Sie haben natürlich intensive Kontakte zu sehr, sehr vielen Menschen, die dort leben und überleben. Was erleben die im Moment? Jetzt nicht politisch, sondern einfach im Alltag?
Perabo: Sie sind sehr müde und sehr erschöpft mit der Organisierung des täglichen Überlebens, muss man sagen. Es wird versucht, sich irgendwie zu organisieren. Es sind sehr unterschiedliche Konflikte, je nach Region. Wir erleben, dass es auch intern, in den Orten, die etwa von den Rebellen gehalten werden, es zunehmend Konflikte mit den bewaffneten Rebellen gibt. Es gibt eine zunehmende Warlordisierung dieses Konflikts, das heißt, einzelne Kämpfer fangen an, Zölle zu nehmen. Und insgesamt muss man ganz ehrlich sagen, die Zivilgesellschaft leidet massiv darunter. Und das ist genau das spannende Problem.
Kassel: Das heißt, sie leidet unter Angriffen und weiß möglicherweise manchmal schon gar nicht mehr genau, von wo die kommen?
Perabo: Sie leiden unter Angriffen, das ist im Raum Damaskus und im Süden die Angriffe des Regimes, das ist oben im Norden die Angriffe über die Dschihadisten. Das heißt, man wird zerrieben als Zivilgesellschaft zwischen diesen beiden Machtblöcken kann man das sagen, und zunehmend kommt hinzu, die korrupten Gruppierungen, die bewaffneten korrupten Gruppierungen, die oft in diesen Regionen auch noch zusätzlich unterwegs sind.
"Sich auf das Große und Ganze zu konzentrieren"
Kassel: Sie haben es schon angedeutet, Sie sagen, die internationale Gemeinschaft braucht eine neue Strategie. Wie könnte die denn in Ihren Augen aussehen?
Perabo: Ich glaube, man muss wieder eine politische Strategie anfangen. Dazu gehört natürlich, den internationalen Dialog wieder aufzunehmen. Dazu gehört aber auch, dass man anfängt, viel stärker als bisher die Nachbarländer in die Pflicht zu nehmen, vor allem die Länder Türkei, Saudi-Arabien und Katar, die immer noch Geld an unterschiedliche bewaffnete Gruppen in Syrien geben, was zu einer sehr starken Belastung, wie ich es eben schon geschildert habe etwas, der Zivilgesellschaft führt. Ich glaube, man muss auch in die Gespräche viel stärker als bisher den Iran und die Hisbollah mit reinnehmen. Das ist bis jetzt viel zu wenig gemacht – man hat immer versucht, sich auf das Große und Ganze zu konzentrieren, und ich glaube, man muss andersherum denken. Man muss anfangen, dezentral auch kleine Lösungen zu denken, dezentrale Friedensabkommen, dezentrale Waffenstillstände.
Kassel: Heute, genau einen Tag, nachdem die Giftgasangriffe auf mehrere Vororte von Damaskus binnen weniger Stunden mehr als 1.300 Menschen getötet haben, haben wir über die aktuelle Situation in Syrien und sogar, so gewagt das ist, über mögliche Lösungen für den seit Jahren andauernden Krieg da, gesprochen mit Elias Perabo, er ist einer der Initiatoren von "Adopt a Revolution", einer Organisation, die versucht, dort vor Ort, aber natürlich auch mit Hilfe aus Deutschland und Europa, eine Zivilgesellschaft in Syrien zu unterstützen. Herr Perabo, vielen Dank, dass Sie zu uns gekommen sind!
Perabo: Bitte schön!
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