Bürgerlicher Radikalismus statt Extremismus der Mitte

Von Mathias Greffrath |
Die Halbierung der FDP-Stimmen in Nordrhein-Westfalen lässt hoffen – für die Stabilität unserer Demokratie. Sie ist ein Zeichen dafür, dass der Extremismus der verunsicherten und abstiegs-panischen bürgerlichen Mitte, anders als in der Schweiz, den Niederlanden oder Österreich, in Deutschland bis auf Weiteres wenig Chancen hat.
Westerwelles Strategie der Zuspitzung liberaler Werte auf Steuersenkungen um jeden Preis, gepaart mit Unterschichten-Schelte, ist krass gescheitert. Seine populistischen Ausrutscher über die "spätrömischen Zustände" sind – nach neun Jahren Amtszeit als Vorsitzender – der Startschuss für die nachrückende Generation der Lindner, Rösler, Fricke.

Aber von dieser Generation wird es abhängen, ob die liberale Partei, deren Gewicht in der Regierung Merkel nach Niederlage und panikartig-prompter Rückzugsrhetorik schwer geschrumpft ist, auf mittlere Sicht überhaupt noch eine gestaltende Rolle in der deutschen Politik spielen wird – oder ob sie diese Rolle an die Grünen abgibt, die im Milieu der gebildeten und gut verdienenden Freiberufler und des öffentlichen Dienstes immer stärker geworden sind; aber auch darüber hinaus – 16 Prozent der Selbstständigen, und nicht nur ihre Frauen, haben in Nordrhein-Westfalen die Grünen gewählt, nur 12 Prozent die Gelben.
Als Lobby der wohlhabendsten 10 Prozent, deren Vermögen im letzten Jahrzehnt ziemlich genau um so viel gewachsen ist, wie dieser Staat Schulden hat (nämlich um anderthalb Billionen) und des neuen Bürgertums ihrer Anwälte, Banker, Ärzte und Clowns, kann die FDP als Partei wohl noch eine Weile überleben, mal im Parlament, mal draußen.

Wenn sie mehr will, müsste sie an ihre Gründungsväter anknüpfen. An die ganz alten aus der aufgeklärten bürgerlichen Elite – die Rathenau, Virchow, Siemens, Naumann – einer Elite, die dadurch auch für andere wählbar wurde, dass sie die eigenen Privilegien in den Dienst einer zukunftsfähigen Gesellschaft stellte. Und an die Großgestalten aus der jüngeren Geschichte – die Dahrendorf, Hamm-Brücher, Maihofer, Flach, Baum – , die die Ideen der bürgerlichen Freiheit, der Autonomie und Selbstsorge, des Reichtums an Optionen für das eigene Leben in die Epoche hochkonzentrierter Kapitale und globaler Finanzordnungen transponierten, denen es um "Bürgertum für alle" ging und nicht nur um "alles für ein paar Bürger".

Bürgerlich sein, das hieß ja einmal: aus eigener Kraft leben und am Leben der Gemeinschaft teilnehmen können. Unter den Bedingungen schrumpfenden Wachstums, prekärer Beschäftigungsverhältnisse, von Mobilitätszwängen und Umweltzerstörung aber wird die Zahl derer, die aus gesichertem Einkommen oder Vermögen für ihre Gesundheit, Bildung, Wohnung, Vorsorge aufkommen können, in Zukunft weiter sinken. Gesellschaftlicher Wohlstand, kollektive Sicherungen werden als Bedingung der individuellen Freiheit also noch wichtiger als im 20. Jahrhundert. Und schon gar brauchen wir wegen der Klimakrise und um die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte zu bestehen – Umbau der Städte und Infrastrukturen, Ausbau des Bildungswesens, Gesundheitsvorsorge und Renten – mehr und nicht weniger öffentliche Güter.

Freiheit des Individuums, das ist auf den Parteitagen der FDP das Wort mit dem höchsten Klang. Aber diese Freiheit wird in Zukunft mehr noch als in der Vergangenheit nur gewahrt und erhalten bleiben, wenn der Staat stärker, einfallsreicher, moderner und effizienter wird: als Ordnungsmacht gegenüber den gigantischen Kapitalkonzentrationen, aber auch als Investor in die Zukunft.

Statt des modernisierungsfeindlichen "Extremismus der Mitte" könnten wir also eine Partei des "bürgerlichen Radikalismus" gut gebrauchen, die mit ihrem ganzen geistigen und wirtschaftlichen Gewicht für eine Regulierung der Finanzmärkte kämpfte, für eine Steuerreform zugunsten der Kommunen, für institutionalisierte Bürgerbeteiligung, für eine Medienordnung, die uns vor einer Kolonisierung unserer Gehirne schützt, Infrastrukturreformen, die nicht nur unsere Exporteure, sondern auch unsere Gesellschaft zukunftsfähig machen, und nicht zuletzt für eine Bildungsexplosion. Eine Partei, die Einiges davon zur Koalitionsfrage machen könnte, weil ihre Funktionäre wirklich unabhängig sind – wohlhabende Bürger, die mehr als den nächsten Steuerbescheid, so sagte es der Liberale Walter Rathenau, die "Indolenz unseres wahnsinnig gewordenen Reichtums" fürchten.

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für die "ZEIT", die "taz2 und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?". Mathias Greffrath lebt in Berlin.
Mathias Greffrath
Mathias Greffrath© Klaus Kallabis