"Erdrutschsieg" als Signal der Hoffnung
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Der Sieg von Ekrem Imamoglu bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul könnte die Stimmung in der Türkei umwälzen, glaubt der Schauspieler Recai Hallaç. Es gebe zum ersten Mal die Hoffnung, dass sich nach jahrelanger Erdogan-Herrschaft etwas ändern könnte.
Eckhard Roelcke: Bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul hat der Kandidat der Opposition, Ekrem Imamoglu von der CHP, eindeutig gewonnen gegen den Kandidaten der regierenden AKP, Binali Yildirim. Der Sieger sprach von einem neuen Beginn für die Türkei, also nicht für Istanbul, sondern für das ganze Land.
Ob diese Wahl wirklich so gravierende Folgen hat, das möchte ich nun mit Recai Hallaç besprechen. Er ist Schauspieler und Übersetzer und hat unter anderem viel für Orhan Pamuk gedolmetscht. War das ein Erdrutschsieg, an dem es einfach nichts zu deuteln gibt?
Hallaç: Das war ein Erdrutschsieg, denn die kühnsten Voraussagen haben für Imamoglu einen Vorsprung von zwei bis drei Prozent vorausgesagt, und jetzt hat er mit 9,5 Prozent gewonnen. Es ist so eindeutig, dass es da nichts mehr zu deuteln oder zu ändern gibt.
Roelcke: Erst die Annullierung der Wahl nach einem knappen Ergebnis, jetzt dieses eindeutige Votum. Warum hat denn Erdogan ganz offensichtlich die Stimmung in der Bevölkerung so falsch eingeschätzt?
Hallaç: Auch damals, als die Wahl annulliert wurde, habe ich gesagt – ich habe das auch öffentlich gesagt –, das ist ein großer Fehler von Erdogan, die Wahl annullieren zu lassen, aber auf der anderen Seite konnte er es nicht riskieren, Istanbul zu verlieren. Die größte Firma der Türkei ist Istanbul, und in Istanbul sind die ganzen Machenschaften der Leute von Erdogan sehr offensichtlich, und das durfte nicht in die Öffentlichkeit gelangen.
Er hat alles versucht, obwohl er von Anfang an wahrscheinlich dachte, dass er verlieren wird, aber dass er so stark verlieren wird, hat er nicht gedacht, glaube ich.
"Die Hoffnung ist wieder aufgeflammt"
Roelcke: Lassen Sie uns noch etwas genauer auch über die Stimmung sprechen in Istanbul. Die Menschen ächzen ja unter der Inflation und der massiven Erhöhung der Preise, zum Beispiel für Grundnahrungsmittel, aber auch die Studenten, die Kulturschaffenden, die Intellektuellen sind unzufrieden mit der ganzen Lage. Wie stark haben die denn die Stimmung, die ja eine Wechselstimmung war, wie stark haben die die geprägt, oder spielen die in dieser 15-Millionen-Metropole keine nennenswerte Rolle?
Hallaç: Heute hat eine Akademikerin in einer Fernsehsendung etwas sehr Kluges gesagt: Es geht hier um den Begriff Hoffnung. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist die Hoffnung wieder aufgeflammt. Das ist tatsächlich so. Die Menschen ächzen unter diesen Problemen, aber sie hatten immer gedacht, das wird sich erst mal nicht ändern.
Viele haben das Land verlassen, es gibt ein riesiges Braindrain aus der Türkei, und jetzt gibt es zum ersten Mal die Hoffnung, dass sich das ändern kann, dass sich die ganze Atmosphäre in der Türkei ändern kann. Deswegen glaube ich, dass es nicht nur eine Wahl in Istanbul ist, sondern das ist eine Wahl, die die ganze Stimmung in der Türkei umwälzt.
Roelcke: Also eine Hoffnung, die die Menschen auch mobilisiert. Also es gab ja ganz offensichtlich eine sehr hohe Wahlbeteiligung auch.
Hallaç: Es gab eine sehr hohe Wahlbeteiligung, es gab sehr viele Menschen, auch sehr viele intellektuelle Schriftsteller, Filmemacher, die aus Angst geschwiegen haben, dass sie sonst nicht mehr arbeiten können, und sie haben kurz vor der Wahl angefangen, ihre Stimme vorsichtig zu erheben, und das wird jetzt viel, viel mehr werden.
Wahl könnte Prozess beeinflussen
Roelcke: Morgen, Herr Hallaç, beginnt ein Prozess, der für viele Schlagzeilen gesorgt hat und auch sorgen wird. Vor Gericht steht das Who is Who der türkischen Zivilgesellschaft – Menschenrechtler, Anwälte, Kulturschaffende, Architekten. Der Bekannteste darunter ist der Kunstmäzen Osman Kavala. Er sitzt seit mehr als anderthalb Jahren in Untersuchungshaft, und diesen Angeklagten wird unter anderem versuchter Umsturz der Regierung im Zusammenhang mit den kritischen Gezi-Protesten 2013 vorgeworfen.
Werden denn die neuen politischen Vorzeichen, die Unruhe, die es ja wahrscheinlich in den nächsten Tagen auch geben wird in der Türkei, werden die sich auf den Prozess auswirken?
Hallaç: Ich glaube schon, denn es ist allen bekannt, dass in der Türkei weder die Justiz unabhängig ist noch die Sicherheitsbehörden unabhängig sind. Alle halten ihre Fähnchen nach dem Wind, und jetzt dreht sich der Wind, und jetzt wird es immer mehr dazu kommen, dass die Richter anders entscheiden, weil sie auch daran denken müssen, dass die Zeiten sich ändern werden. Sie werden wahrscheinlich ihre ganze Karriere nicht riskieren.
Die Aufmerksamkeit derer, die an Gerechtigkeit glauben, die an eine andere Türkei glauben, ist gewachsen und mit viel mehr Mut und Hoffnung jetzt bekräftigt worden. Ich glaube, diese ganze Atmosphäre wird auch Osman Kavala helfen.
Wenn er verliert, kriegt Erdogan keinen vernünftigen Satz zustande
Roelcke: Erdogan hat seine politische Karriere 1994 als Bürgermeister von Istanbul begonnen. Ist das jetzt, diese Wahl, der Anfang vom Ende seiner Karriere?
Hallaç: Ich glaube schon. Ich habe Erdogan als Dolmetscher sehr oft begleitet, bis 2013, und seitdem habe ich gesagt, ich werde nie mehr diesen Menschen dolmetschen nach seiner Reaktion auf die Gezi-Proteste, aber durch dieses Dolmetschen habe ich angefangen, Erdogans Sprache zu analysieren.
Wenn er sehr selbstbewusst ist, dann bildet er ordentliche Sätze, dann ist er ein guter Redner. Wenn er aber glaubt zu verlieren, dann kann er keinen vernünftigen Satz mehr bilden, und das ist jetzt auch der Moment, wo Erdogan jetzt nicht spricht – er hat heute nicht gesprochen, er hat nur getwittert –, das ist ein Abend, an dem er nicht sprechen kann.
Roelcke: Eine interessante Beobachtung!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.