Kommentar zu Bürgerräten
Nah beisammen – und doch geht man sich aus dem Weg: Die große Mehrheit der Unterstützer von AfD und Grünen geben an, keinerlei Kontakte zu Anhängern der jeweils anderen Partei zu haben. © imago / aal.photo / Piero Nigro
Mittel gegen die Spaltung der Gesellschaft
Bürgerräte können einen Beitrag dazu leisten, die zunehmende Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden, meint Politaktivistin Claudine Nierth. Das gelte auch für den jüngst einberufenen „Bürgerrat Ernährung“.
Leben wir in einer zerrissenen Gesellschaft? Sind die anderen anders als wir? Gibt es da überhaupt noch Gemeinsamkeiten? Fühlen wir uns noch als Teil dieser Demokratie? Diese Fragen beschäftigen immer mehr Menschen.
Jeder weiß, wie schwer es ist, wenn wir im eigenen Familien- oder Freundeskreis Äußerungen und Gedanken hören, die wir nicht teilen. Wir wenden uns ab. Völlig natürlich. Auch wenn wir es kaum wahrhaben wollen: Die Distanz beginnt in uns! Oft unbemerkt grenzen wir aus, was uns nicht passt: andere Meinungen, Haltungen, Positionen, Menschen.
Aber müssen wir uns wirklich von Menschen abwenden? Ist es nicht auch möglich, dass wir Meinungen und Haltungen ablehnen, aber mit den Menschen, die sie vertreten, trotzdem in Verbindung bleiben?
Zuhören statt widersprechen
Ja, das ist möglich! Zum Beispiel, wenn wir einander zuhören, anstatt sofort zu kommentieren, zu widersprechen, zu korrigieren oder zu belehren. Und indem wir versuchen zu verstehen, warum der andere diese Position vertritt. Welche Erfahrungen hat er gemacht? Was hat dazu geführt, dass er sich diese Meinung gebildet hat? Wie könnte ich dazu beitragen, dass der andere seine Meinung überdenkt? Und umgekehrt: Wie verändern sich meine Gedanken durch das, was ich von dem anderen gehört habe? Spaltung lässt sich überwinden, indem wir einen Schritt aufeinander zugehen. Trotz aller Differenzen.
Der Bundestag lässt sich von Bürgern beraten
Der Bundestag macht hier gerade einen mutigen Schritt nach vorne! Aus dem ganzen Land hat er 160 Menschen aus den Melderegistern ausgelost und eingeladen. Sie sollen für die Politik die Frage beantworten, ob sich der Staat in die Ernährungsgewohnheiten der Menschen einmischen soll oder nicht. Und wenn ja, wie und wo soll er sich einmischen? Der Bundestag lässt sich das erste Mal offiziell von Bürgern beraten. Er holt dazu eine Vielfalt von Perspektiven und Meinungen an einen Tisch. Der Zufall bestimmt, wer mit wem spricht.
Der Jüngste ist 16, die Älteste 85 Jahre alt. Die Menschen kommen mit verschiedenen Bildungsgraden und aus allen Bundesländern. Die einen aus der Stadt, andere vom Land. Vegetarier sind genauso vertreten wie Menschen, die gerne Fleisch essen. Auf jeden von uns hätte das Los fallen können. Was würden Sie beitragen? Wie ernähren Sie sich und soll der Staat darauf Einfluss nehmen? Genau – das ist eine heikle Frage. Auch die kann spalten.
Jeder hört die Meinungen der anderen
Experten stehen den ausgelosten Menschen zur Seite. Sie liefern Informationen, beantworten Fragen und erklären Hintergründe. Es wird beraten und nach Lösungen gesucht. Jeder der 160 ausgelosten Menschen hört die Meinungen der anderen. Die eigene Position wird vertieft, geändert oder verworfen. Zum Schluss werden die Empfehlungen von allen Teilnehmern des Bürgerrats gemeinsam abgestimmt und beschlossen, bevor sie dem Bundestag übergeben werden.
Bürgerräte liegen weltweit im Trend
Gemeinwohl bildet sich aus Gemeinsinn statt aus Getrennt-Sein. Bürgerräte liegen weltweit im Trend. Ihr Erfolg? Das Spaltende erkennen und das Verbindende finden! Die Gräben schließen. Je mehr Perspektiven in eine politische Entscheidung einfließen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Ende gesamtgesellschaftlich getragen wird. Was sich gesellschaftlich einen lässt, wird sich politisch leichter umsetzen lassen.
Beim Bürgerrat Ernährung bleibt die Frage, was der Bundestag aus den Empfehlungen macht. Eine große Chance für alle. Ein mutiger Versuch. Bürgerräte sind vor allem ein Weg. Ein Weg zur Demokratie der Zuneigung.