Bürgerschreck, Provokateur, radikaler Politclown
Dieter Kunzelmann war Mitbegründer der Kommune 1 aber auch der Stadtguerilla "Tupamaros Westberlin". In den 1980er Jahren fiel er vor allem durch Spaßproteste wie Eierwürfe auf Berlins Bürgermeister Diepgen auf. Der Historiker Aribert Reimann sieht Kunzelmanns Leben in vielen Aspekten als symptomatisch für die 68er-Protestbewegung an.
Klaus Pokatzky: Das scheint eine Geschichte so richtig nach dem Geschmack von Dieter Kunzelmann, dem ewigen Politclown und Bürgerschreck mit Dutzenden von Ermittlungsverfahren und etlichen Haftstrafen. Nun ist diesem Dieter Kunzelmann eine ganze Habilitationsschrift gewidmet worden, und die hat auch noch die Gerda Henkel Stiftung finanziert. Verfasst hat die Schrift, die jetzt als Buch erschienen ist, der Historiker Aribert Reimann, der am Wadham College der Universität Oxford lehrt. Ihn begrüße ich nun im Studio der BBC in Oxford. Guten Tag, Herr Reimann!
Aribert Reimann: Schönen guten Tag!
Pokatzky: Herr Reimann, eine Habilitation über Kunzel, wie er einst genannt wurde in Berlin, und die dann auch gefördert wird von Geld aus dem Vermögen der Industriellenfamilie Henkel. Was könnte Dieter Kunzelmann dazu wohl sagen, ist das ein akademisches Happening der besonderen Art?
Reimann: Akademisches Happening der besonderen Art, das weiß ich nicht. Was an der Biografie von Dieter Kunzelmann interessant ist, ist, dass er anders als andere Protagonisten der Protestbewegung der 60er-Jahre langfristig, über Jahrzehnte hinweg immer im Zentrum der Protestaktivitäten der Nachkriegszeit gestanden hat, und insofern ist er, wie ich finde, von besonderem wissenschaftlichen Interesse.
Kunzelmann war von Anfang an ein Außenseiter. Das hängt damit zusammen, dass er nie Student war, also im formaltechnischen Sinne nicht zur Studentenbewegung gehören konnte, er hat aber diese Außenseiterposition, diese exzentrische Position, die er innerhalb der Studentenproteste eingenommen hat, sehr effektiv zu nutzen gewusst, immer wieder ins Zentrum der Medienöffentlichkeit zu gelangen, weil zumindest eine Zeit lang – und das Jahr 1967 ist da die ganz zentrale Phase – weil eine Zeit lang seine Art von Protest kongenial zusammengespielt hat mit dem Empörungsinteresse der Öffentlichkeit, insbesondere der Springer-Presse.
Also Kunzelmann ist sicherlich in diesem Sinne nicht typisch oder repräsentativ für das gesamte Spektrum der Protestbewegung, aber er ist symptomatisch für viele Aspekte, insbesondere des radikalen, subversiven und antiautoritären Randes der Protestbewegung.
Pokatzky: Geboren ist er ja 1939 im fränkischen Bamberg, aufgewachsen in einer bürgerlichen, katholisch-liberalen Familie, der Vater war Sparkassendirektor. Mit 20 ist er dann nach Paris getrampt. Welche Szene hat er da vorgefunden?
Reimann: Also sein Aufbruch nach Paris, der findet im Sommer 1959 statt. Er hat nie einen Schulabschluss gemacht und hat seine Banklehre auch abgebrochen, und er hat sich dann einige Monate in Frankreich aufgehalten, zu einem, man könnte sagen subproletarischen Selbstexperiment im Kontext der Clochards an der Seine – sehr romantisch hört sich das im Nachhinein an.
Das ist sicherlich ein radikaler Ausbruch aus diesem bürgerlichen, provinziellen fränkischen Kontext, den Sie da gerade angesprochen haben, und das speist sich aus einem tief sitzenden antibürgerlichen Reflex, der da zum Vorschein kommt und der sicherlich nicht generationstypisch ist, aber der verrät, dass da schon erste Ahnungen eines neoavantgardistischen subversiven Aufbruchs zu finden sind.
Pokatzky: Was ist denn dann an Kunzelmann über die Jahrzehnte betrachtet überhaupt typisch, was ist typisch an ihm vielleicht dann doch auch für die 68er-Revolte und für das, was nach '68 kam, inklusive der Gewaltexzesse des Terrorismus?
Reimann: Also typisch, ich würde es wie gesagt symptomatisch nennen. Symptomatisch an ihm ist wahrscheinlich diese Sehnsucht nach diesem antibürgerlichen Reflex, der aus der Vorkriegszeit wieder eingespeist wird in die Protesttradition der 60er-Jahre. Was Kunzelmann betreibt in den verschiedenen Kleingruppen, in denen er sich aufhält, die er zum größten Teil selbst initiiert und mit gründet, ist eben eine Wiederaufnahme älterer Protesttradition, avantgardistischer Protesttradition, sei es aus dem Dadaismus, sei es aber ganz besonders auch aus dem Neosurrealismus, aus Frankreich. Und das könnte man durchaus symptomatisch nennen, weil diese Impulse, dieses Wiederentdecken verloren gegangener Oppositions- und Protesttradition der europäischen Geschichte in den 60er-Jahren eine ganz große Rolle spielte und für Kunzelmann ganz besonders.
Pokatzky: Ihm wird ja von Leuten vorgeworfen, die sich journalistisch mit ihm beschäftigt haben, er selber habe sich unerträglich autoritär im Umgang mit anderen verhalten.
Reimann: Ja, das fällt auf. Also das Etikett "antiautoritär" für diese Fraktion der Revolte zu verwenden, das muss man natürlich modifizieren. In den Binnenverhältnissen sind das Gruppen, insbesondere zum Beispiel die "Subversive Aktion", die er in den Jahren '63 bis '65 mit anführt. Das sind Gruppen, in denen ganz, ganz strenge Hierarchieverhältnisse herrschen, und Kunzelmann ist da ganz eindeutig an der Spitze dieser Hierarchieverhältnisse zu sehen, zum Beispiel auch gegenüber Rudi Dutschke, der in diesen Jahren dann in diese Gruppen dazustößt. Und man kann diese autoritären Binnenverhältnisse ganz besonders auch in den Geschlechterverhältnissen wieder aufzeigen: Von einer Emanzipation der weiblichen Revolutionäre sind diese Gruppen noch weit entfernt.
Pokatzky: Ich spreche mit dem Historiker Aribert Reimann in Oxford über das Phänomen Dieter Kunzelmann. Herr Reimann, wir haben ja jetzt den einen Kunzelmann abgehandelt, der ja doch eher noch so der Friedliche, wenn auch Autoritäre ist. Es gibt noch den anderen Kunzelmann, es gibt offenbar mehrere Kunzelmänner. Es gibt den, gegen den eine Fülle von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gelaufen sind, der Haftstrafen absitzen musste. Ist das nun ein Radikaler, wie es im Untertitel Ihres Buches heißt, oder ist es nicht doch ein Gewaltverbrecher gewesen?
Reimann: Das zielt auf die Frage der Militanz dieser Bewegung und dieser Zeit. Das ist ein schillernder Begriff, der damals gezielt eingeführt wurde, um auch ein bisschen diese Grenze zwischen rein friedlichem Protest und etwas gewaltbereiteren Strömungen ein wenig zu verwischen.
Dieses Motiv der Militanz und dieses Liebäugeln mit dem gewalttätigen Widerstand und Protest, das deutet sich schon zunächst auf rein theoretisch verbaler Ebene sehr früh an, etwa Mitte der 60er-Jahre. Im Briefwechsel zum Beispiel zwischen Kunzelmann und Dutschke aus den Jahren 64/65 kann man sehen, dass da schon, ich sage mal Fantasien abgehandelt wurden, wenn es zum Beispiel um die Solidarisierung mit lateinamerikanischen Guerillabewegungen ging. Das hatte zunächst noch einen rein theoretischen Charakter. Dieses Motiv bleibt dann da.
Der konkrete Schritt in den Untergrund, wenn man so will, und in das, was man dann später Prototerrorismus nennen könnte, das fand dann relativ spät statt, so etwa ab dem Herbst '68, und hatte dann andere Einflüsse, die ganz konkreten Demonstrationserfahrungen der Jahre 67/68 und auch mit internationalen Kontexten zu tun. Wann genau dieser Umbruch stattfindet, ist sehr schwer auszudeuten, das hat aber in erster Linie wohl damit zu tun, dass während der Hochzeit der Protestbewegung im Jahre '68 dieses rein provokatorische Spiel mit dem Widerstand auf der Straße sich abgenutzt hatte und an ein Ende kam.
Pokatzky: Aber er hat sich einem Terrortraining in einem palästinensischen Terrorcamp unterzogen, er hat 1969 jemanden dazu motiviert, eine Bombe im jüdischen Gemeindehaus in Berlin zu platzieren. Also das hat dann ja nun gar nichts Spaßiges mehr.
Reimann: In der Tat, das ist ein ganz radikaler Schritt, dieser Aufbruch in die Lager der Fatah in Jordanien. Das muss man, denke ich, im Kontext des Sommers 1969 sehen. Das ist eine Situation, in der weite Teile gerade dieses ganz radikalen, militanten Randes der Protestbewegung zunächst einmal ihre großstädtische Basis in Westberlin oder auch in München verlassen, sich im fränkischen Ebrach zum legendär gewordenen "Knastcamp" treffen und von da aus dann beschließen, nicht wieder zurückzukehren, sondern den Schritt aus Deutschland hinaus zu tun und andere Kontakte aufzunehmen.
Das ist zunächst nicht durchdacht oder langfristig geplant, sondern es macht den Eindruck, dass im Sommer '69 in Italien dann Pläne reifen, zunächst nach Palästina, möglicherweise dann auch weiter nach Kurdistan oder gar nach China aufzubrechen. Das ist, wie gesagt, immer noch nicht besonders konkret geplant, aber diese Grundsatzentscheidung, aus dem Protest auszubrechen und in die internationale terroristische Militanz überzuwechseln, das ist eine Entscheidung, die im Sommer 1969 fällt und dann sehr schnell und sehr rasch in die Tat umgesetzt wird, sodass zum Herbst '69 dann diese erste Stadtguerilla unter dem Namen der "Tupamaros Westberlin" entsteht.
Pokatzky: Der Publizist Wolfgang Kraushaar, der ein Buch geschrieben hat über die Bombe im jüdischen Gemeindehaus, hat Kunzelmann darin vorgeworfen, ein Antisemit zu sein. Ist das ein zutreffender Vorwurf?
Reimann: Das ist für die Jahre 69/70 überhaupt nicht zu bestreiten, insbesondere im Hinblick auf diesen versuchten Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus. Wer glaubte, ein Angriff auf das jüdische Gemeindehaus in Westberlin sei als ein – wie das damals genannt wurde – antizionistischer Akt zu werten, der stand ganz eindeutig unter dem Eindruck dieses ganz typischen antisemitischen Vorurteils, es gäbe so etwas wie einen internationalen jüdischen Kontext, den man an allen Orten der Welt in gleicher Weise angreifen könne.
Die Diskussion, die sich an diese Beobachtung anschließen müsste, wäre allerdings die Frage nach der Herkunft dieser antisemitischen Grundierung der radikalmilitanten Linken zu dieser Zeit. Und da wird man sehen, dass dieses Motiv im Sommer 1967 während des Sechs-Tage-Krieges relativ unvermittelt in einen bereits bestehenden Kontext des radikalen globalen und undifferenzierten Anti-Imperialismus, wie man das damals nannte, hinzugenommen wurde und dass das wahrscheinlich durch die Plötzlichkeit, wie das Nahostproblem in dieses globale Feindbild des internationalen Imperialismus mit aufgenommen wurde, überhaupt nicht reflektiert wurde, dass da keine Differenzierungen vorgenommen wurden über zum Beispiel die besondere historische Situation des Nahen Ostens.
Mit anderen Worten: Ich würde davor warnen, längerfristige eindeutige Traditionslinien zum Beispiel vom Nationalsozialismus in die Neue Linke ziehen zu wollen. Diese Verbindung sehe ich so direkt nicht.
Pokatzky: Kunzelmann hat dann ja in den 70er-Jahren Haftstrafen abgesessen, was ihn vielleicht auch vor einem Abgleiten in den Terrorismus der RAF bewahrt hat. Später saß er dann im Berliner Abgeordnetenhaus für die Alternative Liste und war immer noch so einer, der für die Medien richtig gut war. Auf der einen Seite für die Springer-Presse, weil er im Abgeordnetenhaus diverse Aktionen machte, manchmal hat er sich eine Schlafmütze, eine Nachtmütze aufgesetzt, später hat er dann den damals regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen mit einem Ei beworfen, das hat ihn wieder vor Gericht gebracht, am Ende eine Haftstrafe eingetragen. Was war das dann, war er da so ein abgestandener, überlebter Aktivist, der unbedingt weiter noch in die Schlagzeilen wollte, oder hat er damit auch noch etwas Politisches verbunden?
Reimann: Man kann das so interpretieren, dass er in wechselnden Kontexten, zum Beispiel dann in den 80er-Jahren einen parlamentarischen Kontext, versucht hat, Provokationstaktiken früherer Jahre noch einmal zur Mobilisierung der Medienöffentlichkeit zu nutzen. Dieser Medienkontext seiner Art von radikalem Protest ist ja von Anfang an extrem wichtig, schon seit Beginn der 60er-Jahre. Das sind Taktiken, die dann in einer veränderten politischen Landschaft der 80er-Jahre ins Leere laufen, ein wenig angejahrt wirken, und man kann das in der Tat dann durchaus so deuten, dass da die Art und Weise, wie man zum Beispiel in den 60er-Jahren die Springer-Presse provozieren konnte, in den 80er-Jahren sicherlich so nicht mehr gegriffen hat.
Pokatzky: Danke an Aribert Reimann in Oxford. Seine Habilitationsschrift ist als Buch erschienen unter dem Titel "Dieter Kunzelmann. Avantgardist, Protestler, Radikaler" bei Vandenhoeck & Ruprecht, es hat 392 Seiten und kostet 29,9
Aribert Reimann: Schönen guten Tag!
Pokatzky: Herr Reimann, eine Habilitation über Kunzel, wie er einst genannt wurde in Berlin, und die dann auch gefördert wird von Geld aus dem Vermögen der Industriellenfamilie Henkel. Was könnte Dieter Kunzelmann dazu wohl sagen, ist das ein akademisches Happening der besonderen Art?
Reimann: Akademisches Happening der besonderen Art, das weiß ich nicht. Was an der Biografie von Dieter Kunzelmann interessant ist, ist, dass er anders als andere Protagonisten der Protestbewegung der 60er-Jahre langfristig, über Jahrzehnte hinweg immer im Zentrum der Protestaktivitäten der Nachkriegszeit gestanden hat, und insofern ist er, wie ich finde, von besonderem wissenschaftlichen Interesse.
Kunzelmann war von Anfang an ein Außenseiter. Das hängt damit zusammen, dass er nie Student war, also im formaltechnischen Sinne nicht zur Studentenbewegung gehören konnte, er hat aber diese Außenseiterposition, diese exzentrische Position, die er innerhalb der Studentenproteste eingenommen hat, sehr effektiv zu nutzen gewusst, immer wieder ins Zentrum der Medienöffentlichkeit zu gelangen, weil zumindest eine Zeit lang – und das Jahr 1967 ist da die ganz zentrale Phase – weil eine Zeit lang seine Art von Protest kongenial zusammengespielt hat mit dem Empörungsinteresse der Öffentlichkeit, insbesondere der Springer-Presse.
Also Kunzelmann ist sicherlich in diesem Sinne nicht typisch oder repräsentativ für das gesamte Spektrum der Protestbewegung, aber er ist symptomatisch für viele Aspekte, insbesondere des radikalen, subversiven und antiautoritären Randes der Protestbewegung.
Pokatzky: Geboren ist er ja 1939 im fränkischen Bamberg, aufgewachsen in einer bürgerlichen, katholisch-liberalen Familie, der Vater war Sparkassendirektor. Mit 20 ist er dann nach Paris getrampt. Welche Szene hat er da vorgefunden?
Reimann: Also sein Aufbruch nach Paris, der findet im Sommer 1959 statt. Er hat nie einen Schulabschluss gemacht und hat seine Banklehre auch abgebrochen, und er hat sich dann einige Monate in Frankreich aufgehalten, zu einem, man könnte sagen subproletarischen Selbstexperiment im Kontext der Clochards an der Seine – sehr romantisch hört sich das im Nachhinein an.
Das ist sicherlich ein radikaler Ausbruch aus diesem bürgerlichen, provinziellen fränkischen Kontext, den Sie da gerade angesprochen haben, und das speist sich aus einem tief sitzenden antibürgerlichen Reflex, der da zum Vorschein kommt und der sicherlich nicht generationstypisch ist, aber der verrät, dass da schon erste Ahnungen eines neoavantgardistischen subversiven Aufbruchs zu finden sind.
Pokatzky: Was ist denn dann an Kunzelmann über die Jahrzehnte betrachtet überhaupt typisch, was ist typisch an ihm vielleicht dann doch auch für die 68er-Revolte und für das, was nach '68 kam, inklusive der Gewaltexzesse des Terrorismus?
Reimann: Also typisch, ich würde es wie gesagt symptomatisch nennen. Symptomatisch an ihm ist wahrscheinlich diese Sehnsucht nach diesem antibürgerlichen Reflex, der aus der Vorkriegszeit wieder eingespeist wird in die Protesttradition der 60er-Jahre. Was Kunzelmann betreibt in den verschiedenen Kleingruppen, in denen er sich aufhält, die er zum größten Teil selbst initiiert und mit gründet, ist eben eine Wiederaufnahme älterer Protesttradition, avantgardistischer Protesttradition, sei es aus dem Dadaismus, sei es aber ganz besonders auch aus dem Neosurrealismus, aus Frankreich. Und das könnte man durchaus symptomatisch nennen, weil diese Impulse, dieses Wiederentdecken verloren gegangener Oppositions- und Protesttradition der europäischen Geschichte in den 60er-Jahren eine ganz große Rolle spielte und für Kunzelmann ganz besonders.
Pokatzky: Ihm wird ja von Leuten vorgeworfen, die sich journalistisch mit ihm beschäftigt haben, er selber habe sich unerträglich autoritär im Umgang mit anderen verhalten.
Reimann: Ja, das fällt auf. Also das Etikett "antiautoritär" für diese Fraktion der Revolte zu verwenden, das muss man natürlich modifizieren. In den Binnenverhältnissen sind das Gruppen, insbesondere zum Beispiel die "Subversive Aktion", die er in den Jahren '63 bis '65 mit anführt. Das sind Gruppen, in denen ganz, ganz strenge Hierarchieverhältnisse herrschen, und Kunzelmann ist da ganz eindeutig an der Spitze dieser Hierarchieverhältnisse zu sehen, zum Beispiel auch gegenüber Rudi Dutschke, der in diesen Jahren dann in diese Gruppen dazustößt. Und man kann diese autoritären Binnenverhältnisse ganz besonders auch in den Geschlechterverhältnissen wieder aufzeigen: Von einer Emanzipation der weiblichen Revolutionäre sind diese Gruppen noch weit entfernt.
Pokatzky: Ich spreche mit dem Historiker Aribert Reimann in Oxford über das Phänomen Dieter Kunzelmann. Herr Reimann, wir haben ja jetzt den einen Kunzelmann abgehandelt, der ja doch eher noch so der Friedliche, wenn auch Autoritäre ist. Es gibt noch den anderen Kunzelmann, es gibt offenbar mehrere Kunzelmänner. Es gibt den, gegen den eine Fülle von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gelaufen sind, der Haftstrafen absitzen musste. Ist das nun ein Radikaler, wie es im Untertitel Ihres Buches heißt, oder ist es nicht doch ein Gewaltverbrecher gewesen?
Reimann: Das zielt auf die Frage der Militanz dieser Bewegung und dieser Zeit. Das ist ein schillernder Begriff, der damals gezielt eingeführt wurde, um auch ein bisschen diese Grenze zwischen rein friedlichem Protest und etwas gewaltbereiteren Strömungen ein wenig zu verwischen.
Dieses Motiv der Militanz und dieses Liebäugeln mit dem gewalttätigen Widerstand und Protest, das deutet sich schon zunächst auf rein theoretisch verbaler Ebene sehr früh an, etwa Mitte der 60er-Jahre. Im Briefwechsel zum Beispiel zwischen Kunzelmann und Dutschke aus den Jahren 64/65 kann man sehen, dass da schon, ich sage mal Fantasien abgehandelt wurden, wenn es zum Beispiel um die Solidarisierung mit lateinamerikanischen Guerillabewegungen ging. Das hatte zunächst noch einen rein theoretischen Charakter. Dieses Motiv bleibt dann da.
Der konkrete Schritt in den Untergrund, wenn man so will, und in das, was man dann später Prototerrorismus nennen könnte, das fand dann relativ spät statt, so etwa ab dem Herbst '68, und hatte dann andere Einflüsse, die ganz konkreten Demonstrationserfahrungen der Jahre 67/68 und auch mit internationalen Kontexten zu tun. Wann genau dieser Umbruch stattfindet, ist sehr schwer auszudeuten, das hat aber in erster Linie wohl damit zu tun, dass während der Hochzeit der Protestbewegung im Jahre '68 dieses rein provokatorische Spiel mit dem Widerstand auf der Straße sich abgenutzt hatte und an ein Ende kam.
Pokatzky: Aber er hat sich einem Terrortraining in einem palästinensischen Terrorcamp unterzogen, er hat 1969 jemanden dazu motiviert, eine Bombe im jüdischen Gemeindehaus in Berlin zu platzieren. Also das hat dann ja nun gar nichts Spaßiges mehr.
Reimann: In der Tat, das ist ein ganz radikaler Schritt, dieser Aufbruch in die Lager der Fatah in Jordanien. Das muss man, denke ich, im Kontext des Sommers 1969 sehen. Das ist eine Situation, in der weite Teile gerade dieses ganz radikalen, militanten Randes der Protestbewegung zunächst einmal ihre großstädtische Basis in Westberlin oder auch in München verlassen, sich im fränkischen Ebrach zum legendär gewordenen "Knastcamp" treffen und von da aus dann beschließen, nicht wieder zurückzukehren, sondern den Schritt aus Deutschland hinaus zu tun und andere Kontakte aufzunehmen.
Das ist zunächst nicht durchdacht oder langfristig geplant, sondern es macht den Eindruck, dass im Sommer '69 in Italien dann Pläne reifen, zunächst nach Palästina, möglicherweise dann auch weiter nach Kurdistan oder gar nach China aufzubrechen. Das ist, wie gesagt, immer noch nicht besonders konkret geplant, aber diese Grundsatzentscheidung, aus dem Protest auszubrechen und in die internationale terroristische Militanz überzuwechseln, das ist eine Entscheidung, die im Sommer 1969 fällt und dann sehr schnell und sehr rasch in die Tat umgesetzt wird, sodass zum Herbst '69 dann diese erste Stadtguerilla unter dem Namen der "Tupamaros Westberlin" entsteht.
Pokatzky: Der Publizist Wolfgang Kraushaar, der ein Buch geschrieben hat über die Bombe im jüdischen Gemeindehaus, hat Kunzelmann darin vorgeworfen, ein Antisemit zu sein. Ist das ein zutreffender Vorwurf?
Reimann: Das ist für die Jahre 69/70 überhaupt nicht zu bestreiten, insbesondere im Hinblick auf diesen versuchten Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus. Wer glaubte, ein Angriff auf das jüdische Gemeindehaus in Westberlin sei als ein – wie das damals genannt wurde – antizionistischer Akt zu werten, der stand ganz eindeutig unter dem Eindruck dieses ganz typischen antisemitischen Vorurteils, es gäbe so etwas wie einen internationalen jüdischen Kontext, den man an allen Orten der Welt in gleicher Weise angreifen könne.
Die Diskussion, die sich an diese Beobachtung anschließen müsste, wäre allerdings die Frage nach der Herkunft dieser antisemitischen Grundierung der radikalmilitanten Linken zu dieser Zeit. Und da wird man sehen, dass dieses Motiv im Sommer 1967 während des Sechs-Tage-Krieges relativ unvermittelt in einen bereits bestehenden Kontext des radikalen globalen und undifferenzierten Anti-Imperialismus, wie man das damals nannte, hinzugenommen wurde und dass das wahrscheinlich durch die Plötzlichkeit, wie das Nahostproblem in dieses globale Feindbild des internationalen Imperialismus mit aufgenommen wurde, überhaupt nicht reflektiert wurde, dass da keine Differenzierungen vorgenommen wurden über zum Beispiel die besondere historische Situation des Nahen Ostens.
Mit anderen Worten: Ich würde davor warnen, längerfristige eindeutige Traditionslinien zum Beispiel vom Nationalsozialismus in die Neue Linke ziehen zu wollen. Diese Verbindung sehe ich so direkt nicht.
Pokatzky: Kunzelmann hat dann ja in den 70er-Jahren Haftstrafen abgesessen, was ihn vielleicht auch vor einem Abgleiten in den Terrorismus der RAF bewahrt hat. Später saß er dann im Berliner Abgeordnetenhaus für die Alternative Liste und war immer noch so einer, der für die Medien richtig gut war. Auf der einen Seite für die Springer-Presse, weil er im Abgeordnetenhaus diverse Aktionen machte, manchmal hat er sich eine Schlafmütze, eine Nachtmütze aufgesetzt, später hat er dann den damals regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen mit einem Ei beworfen, das hat ihn wieder vor Gericht gebracht, am Ende eine Haftstrafe eingetragen. Was war das dann, war er da so ein abgestandener, überlebter Aktivist, der unbedingt weiter noch in die Schlagzeilen wollte, oder hat er damit auch noch etwas Politisches verbunden?
Reimann: Man kann das so interpretieren, dass er in wechselnden Kontexten, zum Beispiel dann in den 80er-Jahren einen parlamentarischen Kontext, versucht hat, Provokationstaktiken früherer Jahre noch einmal zur Mobilisierung der Medienöffentlichkeit zu nutzen. Dieser Medienkontext seiner Art von radikalem Protest ist ja von Anfang an extrem wichtig, schon seit Beginn der 60er-Jahre. Das sind Taktiken, die dann in einer veränderten politischen Landschaft der 80er-Jahre ins Leere laufen, ein wenig angejahrt wirken, und man kann das in der Tat dann durchaus so deuten, dass da die Art und Weise, wie man zum Beispiel in den 60er-Jahren die Springer-Presse provozieren konnte, in den 80er-Jahren sicherlich so nicht mehr gegriffen hat.
Pokatzky: Danke an Aribert Reimann in Oxford. Seine Habilitationsschrift ist als Buch erschienen unter dem Titel "Dieter Kunzelmann. Avantgardist, Protestler, Radikaler" bei Vandenhoeck & Ruprecht, es hat 392 Seiten und kostet 29,9