Timo Rieg, Jahrgang 1970, hat in Bochum Biologie und in Dortmund Journalistik studiert. Seit über 25 Jahren beschäftigt er sich mit politischer Partizipation. So hat er ein auf Auslosung beruhendes Verfahren für die Mitbestimmung Jugendlicher entwickelt und erprobt (Youth Citizens Jury). Sein erstes Buch von 1993 trägt den Titel "Artgerechte Jugendhaltung", sein aktuelles heißt "Demokratie für Deutschland". Dazwischen hat er u.a. Kurt Tucholskys "Deutschland, Deutschland über alles" neu herausgegeben.
Finanziert das Gesundheitssystem mit Steuern!
Wenn Privilegien zur Disposition stehen, gibt es immer einige, die laut "Auweia" rufen. Das passiert gerade, weil die SPD sich für die Bürgerversicherung einsetzt. Wenn Streit, dann richtig, meint Timo Rieg - und fordert ein Gesundheitssystem ohne Krankenversicherung.
"Wer die Bürgerversicherung will, der startet den Turbolader in die Zwei-Klassen-Medizin." Den Gag erzählt Doktor Frank Ulrich Montgomery seit Jahren immer wieder. Und Uwe Laue lässt gerade verbreiten, eine "Einheitskasse würde nur Verlierer erzeugen".
Laue ist Vorsitzender des Verbands der Privaten Krankenversicherung. Er warnt, tausende Ärzte und Hebammen müssten ihre Praxen schließen, wenn die von der SPD geforderte Bürgerversicherung käme - welche ein Privileg abschaffen soll: dass sich nämlich Beamte, Selbstständige und sehr gut Verdienende zu besseren Konditionen privat versichern können, während die meisten Arbeiter, Angestellten und Rentner Zwangskunden von AOK, Techniker und Co sind.
Montgomery und Laue mit ihren Warnungen ernst zu nehmen wäre einfacher, würden sie Tacheles reden. Für Ärzte sind Privatpatienten lukrativ, weil sie jeden Einzelfall und oft höhere Honorare abrechnen dürfen. Für die privaten Versicherungen ist das Modell lukrativ, weil sie sich ihre Kunden aussuchen. In einer Demokratie müssen beide Lobbygruppen allerdings akzeptieren, dass über den Teil ihres Geschäfts öffentlich verhandelt wird, der auf speziellen gesetzlichen Rechten und Pflichten beruht.
Nicht gerade frisch und genial erkundet
Was ein Arzt an einer Behandlung verdient, hat mit der Form der Versicherung gar nichts zu tun. Es geht schlicht darum, über welche Wege Geld für das Gesundheitssystem eingesammelt wird. Und diese Wege wirken wahrlich nicht gerade frisch und genial erkundet, sondern wie eine weit über hundertjährige Idee, die von allerhand Irrungen und Wirrungen gezeichnet ist.
Was die SPD vorhat, ist die langweilige Fortschreibung der Politik Bismarcks. Begonnen hatte die Versicherungspflicht im Jahr 1883 für Arbeiter, dann folgten Angestellte und viele andere, nun also sollen auch Beamte und Politiker hinein. Wow.
Das wirkliche Problem ist doch ein ganz anderes: Wir betreiben einen wahnsinnigen Aufwand, um zu regeln, wer im Falle einer Erkrankung oder eines Unfalls die Behandlung bezahlt. Der Patient unmittelbar soll es nicht sein, weil die Kosten in vielen Fällen seine Leistungsfähigkeit übersteigen.
Die Bürokratie ist die Krankheit
Und so drangsaliert uns die Bürokratie. Niemand darf studieren ohne Versicherungsnachweis. Wer einen Unfall hatte, erlebt, wie sich jede Stelle als nicht zuständig erklärt: Gehört der Unfall noch zur Arbeit, lag er bereits in der Freizeit oder ereignete er sich auf dem Weg zu einer ehrenamtlichen Tätigkeit? Da sind jeweils ganz verschiedene Behörden zuständig. Wer versichert wo den Arbeitslosen und wer zahlt für den kranken Flüchtling, wer ist erstattungspflichtig? Auch das Inkasso ist großer bürokratischer Aufwand, jeder Arbeitgeber kann ein Lied davon singen.
Wie wäre es, wenn notwendige Medizin bereitgestellt würde so wie Straßen und Schulen? Einfach, weil es notwendig ist. Bezahlt aus der Steuer. Die soll ja ohnehin schon sozial gerecht sein.
Wäre es für ein Wohlstandsland nicht angemessen, den Satz "Das geht aus versicherungstechnischen Gründen leider nicht" aus dem Sprachgebrauch zu tilgen? Und wenn unsere Krankheitsdaten nirgends mehr gespeichert würden, weil es zur Entlohnung der Ärzte und Schwestern nicht nötig ist?
Für Zusatzleistungen kann sich jeder versichern
Es sollte uns egal sein, wer warum wann und wo vom Bürger zum Patienten wird. Es ist die klassische Herausforderung an eine Solidargemeinschaft: Jeden kann es jederzeit treffen, also stehen alle gemeinsam für den Unglücksfall ein.
Die privaten Versicherungen könnten weiterhin alles anbieten, was über das medizinisch Notwendige hinausgeht. Ja, auch schnellere Termine und ein 5-Gänge-Menü am Krankenbett. Es wird dem heutigen Kassenpatienten nie deshalb besser gehen, weil der zusätzlich privat Versicherte keine Extrawurst mehr bekommt. Aber es wäre ein enormer Fortschritt, wenn auch die Reichen sich um die Gesundheit der Armen kümmerten, schlicht mit ihren Steuern; und wenn jeder Kranke zum Arzt gehen könnte - ohne Versicherungskarte.