Wenn hier doch richtig investiert worden wäre, würden wir heute nicht von einer unumkehrbaren Rückständigkeit reden.
Bulgariens Nordwesten
Mit dem Bau der Donau-Brücke in Vidin waren in den 90er-Jahren viele Hoffnungen verbunden. © picture alliance / dpa
Neustart in der ärmsten EU-Region
24:25 Minuten
Der Nordwesten Bulgariens gehört bisher zur ärmsten Region der Europäischen Union. Die Regierung, die seit Mitte Dezember an der Macht ist, will das ändern – und der Nordwesten soll davon auch profitieren. Doch wie ernst ist es ihr damit?
Die Donau-Promenade der Stadt Vidin im Nordwesten Bulgariens sieht nicht anders aus als in Budapest oder Passau. Frauen joggen in modernen Lauftop-Shirts, Kinder fahren mit ihren Skateboards. Ich sitze mit der EU-Expertin Mariela Savkova auf einer der vielen neuen Bänke. Vor uns fließt die Donau. Da, wo der Fluss einen großen Bogen macht, glitzert die moderne Donau-Brücke, die Bulgarien mit der rumänischen Stadt Calafat verbindet.
„Das war das erste europäische Projekt in Bulgarien. Und weil das Projekt symbolträchtig war, waren die Vorschläge für den Namen der Brücke auch sehr pathetisch: ´Tor nach Europa` oder ´Weg nach Europa`.“
Wenn jemand einen Überblick über die mühsame Annäherung des bulgarischen Nordwestens an die EU hat, dann ist das Mariela Savkova. Sie ist Anfang 50, überzeugte Europäerin, und sie leitet die Informationsstelle für EU-Programme und -Projekte des Verwaltungsbezirkes. Beim Projekt Donau-Brücke hat die 50.000-Einwohner-Stadt Vidin alles auf eine Karte gesetzt, sagt sie.
„Mehrmals haben wir die zuständigen Ministerien darauf hingewiesen, dass wir hier ein multimodales Terminal für die Donau-Brücke brauchen, um Waren mit Zügen und Schiffen transportieren zu können. Es sollte ein großer Hafen mit der ganzen dazugehörigen Infrastruktur gebaut werden. Auch für den Tourismus wäre das wichtig. Wenn man heute mit einer Jacht unterwegs ist, muss man sich bisher Kanister mit Treibstoff von einer Tankstelle vorher besorgen.“
In den 90ern war Stabilisierung wichtig
Die Idee dahinter war: Strukturrelevante Unternehmen wie etwa den deutschen Autohersteller BMW hierher zu locken. Nach der Wende war die Planwirtschaft bankrott. Es gab viele arbeitslose Ingenieure, Mechaniker und Techniker. Hinzu kam der Jugoslawien-Krieg, der in den 1990er-Jahren ausbrach und Bulgarien sowie die gesamte Region in Mitleidenschaft zog. Deshalb war damals für Europa die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Stabilisierung dieser Region wichtig, erklärt die Expertin.
Die moderne Donau-Brücke mit dem Namen „Neues Europa“ nennen die Einheimischen heute „Die Brücke ins Nirgendwo“. Weil sie nie erfolgreich zu Ende gebaut worden war. So wurde der Grundstein erst 2007 gelegt, wegen Streitigkeiten zwischen Rumänien und Bulgarien. Dann dauerte der Bau selbst viel länger als geplant – erst 2013 war es soweit. Doch als die Brücke endlich fertig war, wurden die Mittel für die dazugehörige Infrastruktur wie etwa Zubringerstraßen und Eisenbahnlinien der Hauptstadt Sofia zugeteilt.
Die Hauptstadt Bulgariens behandelt die Nordwest-Region des Landes schon immer stiefmütterlich, ganz egal, wer gerade an der Regierung ist. Diese Tendenz nahm besonders unter dem ehemaligen Premier Bojko Borissov zu, der von 2009 bis 2021 mit kurzen Unterbrechungen an der Macht war und wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten musste.
Allein zwischen 2014 und 2021 standen für den Aufschwung des abgehängten Nordwestens rund 943 Millionen Euro EU-Hilfen zur Verfügung. Ähnlich wie bei der Donau-Brücke versackten die meisten jedoch in den Taschen von Borrisovs Freunden und seiner Gerb-Partei.
Nach dem EU-Beitritt wanderten Fachkräfte aus
Die Firma Bdintex in Vidin produziert nachhaltige Mode für die italienische Nobelmarke Armani und die deutsche Firma Hatico. Ihr Geschäftsführer Plamen Kamenov gehört zu den sogenannten neuen Kapitalisten. Er hat dem bankrottgegangenen sozialistischen Textilriesen Vida die Fabrikanlage mit den alten Maschinen abgekauft. Die Fachkräfte dagegen sind abgewandert – der Westen bot die besseren Gehälter und vom Staat kam keine Unterstützung.
„Es war nicht so, dass es nach der Pleite von Vida viele Arbeitslose in unserer Branche gegeben hätte – Schneider, Bügelleute, Verpacker. In der Zeit nach dem EU-Beitritt Bulgariens 2007 brach die riesige Auswanderungswelle aus, die bis ins Jahr 2010 andauerte. Unsere Fachkräfte sind nach Italien, Spanien, und später nach Deutschland gegangen.“
Neue Arbeitskräfte fand Plamen Kamenov nur mühsam, über Sozialprogramme. Heute beschäftigt er 200 Menschen. Der Textilunternehmer hat die Nische der kleinen exklusiven Aufträge entdeckt. Die Hemden aus Vidin sind gefragt, meint er, besonders wegen der Lieferengpässe aus Asien aufgrund der Corona-Pandemie.
Doch solange es in der Region keine modernen Krankenhäuser und Bildungseinrichtungen gebe, die das Umfeld wesentlich verändern, sitzen die Arbeiterinnen auf gepackten Koffern, meint Geschäftsführer Plamen Kamenov.
„Für den Wohlstand der Region sind die politischen Entscheidungen zentral, das, was man Good Governance nennt. Es muss Klarheit herrschen – was will man erreichen und wie? Parallel mit den europäischen Programmen können etwa nationale laufen, die auch dazu beitragen, den Lebensstandard zu erhöhen.“
Mehr als 30 Jahre nach der Wende ist Bulgarien eines der am schnellsten schrumpfenden Länder weltweit. Davon ist der kleinste Bezirk Vidin am stärksten betroffen. Allein in den letzten zehn Jahren ist die Bevölkerung hier um ein Viertel zurückgegangen. Ein Drittel der Menschen ist älter als 65.
Das sozialistische Musterdorf
Bela Rada ist ein inmitten von Hügeln gelegenes Dorf, nur zehn Kilometer von Vidin entfernt, in Richtung der serbischen Grenze. Es gilt mit seinen 360 Einwohnern nicht als unmittelbar vom Aussterben bedroht. Und doch ist das, was zuerst auffällt, eine zwei mal zwei Meter große Tafel voller Todesanzeigen. Schlicht, schwarz umrandet, in DIN-A4-Format ausgedruckt, hängen die vielen traurigen Botschaften ganz zentral vor dem Bezirksamt, neben dem zwei Fahnen wehen: die bulgarische und die der EU:
Rosiza Delova, 85 Jahre alt, mit bunter Schürze und selbst gestrickten Wollstrümpfen in Gummistiefeln, fegt mit einem traditionellen Besen aus Mohrenhirse vor ihrem Haus. Seit Jahren lebt die alte Frau allein.
Ich habe genug Holz zum Heizen. Und auch Kohl ist reichlich eingelegt. Ich habe Hühner und einen Hund und schaue, dass alles in Ordnung ist.
Ihr ganzes Leben hat Rosiza Delova in Bela Rada verbracht. Das Haus haben sie und ihr Mann selbst finanziert. Er arbeitete für ein Bauunternehmen, sie im Kindergarten.
„In unserem Dorf gab es früher einen Kindergarten. Auch jetzt wäre es schön, einen Kindergarten hier zu haben. Doch es gibt keine Kinder. Alles hat hier zugemacht. Zur Schule werden die wenigen Jugendlichen, die es gibt, nach Vidin gefahren.“
Hier, am vernachlässigten Rand der EU, erinnert noch einiges an den Sozialismus: Das gesperrte Gesundheitsamt mit den rostigen Gittern, die kobaltblaue Mahntafel, auf der steht: „Die Hygiene ist ein Maß für den Menschen“, und auch der Asphalt auf den Dorfwegen – zumindest, wenn er noch erhalten ist, denn den größten Teil der Straßen hat die Natur zurückerobert. Die Bürgermeisterin Krassimira Stefanova erinnert sich wehmütig an frühere Zeiten:
„Während des Sozialismus waren wir immer ein Musterdorf. Damals war es üblich, die Kanten der Gehwege öfters im Jahr mit Kalk zu streichen. Alles wurde gefegt, alles wurde sauber gehalten.“
Im Sozialismus fuhren die Busse regelmäßig vom Dorf Bela Rada nach Vidin – und sie waren voll. Sogar Anhänger brachte man an den Bussen an, um alle Arbeiterinnen und Arbeiter zu den Fabriken zu bringen. Heute können nur ein paar Familien von der Landwirtschaft gut leben. Der Rest lebt von der Rente.
Gemeint sind damit nicht nur Rentner, sondern auch deren erwachsene Kinder: Als Langzeitarbeitslose bekommen sie eine Unterstützung von 25 Euro und sind deswegen auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen. Fast 20 Prozent der Menschen im Verwaltungsbezirk Vidin sind ohne Arbeit und ohne Geld.
„Es gibt viele Probleme. Wir bemühen uns, aber wir haben kein eigenes Budget – wir bekommen, was uns von der Bezirksgemeinde in Vidin zugeteilt wird. Was wir machen können, das machen wir – zum Beispiel erledigen wir Einkäufe oder hören den Menschen einfach mal zu.“
"Das Land hat sich komplett verändert"
Prognosen der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften zufolge werden in 20 Jahren mehr als zwei Drittel der Fläche Bulgariens „demographische Wüsten“ sein, also sehr dünn bis kaum besiedelte Landstriche. Ihre Versorgung wird für die Gemeinden sehr teuer werden, sagt der bulgarische Politologe Ivan Krastev, der in Wien lebt.
„Können Sie sich vorstellen, wie viel 20 Kilometer Stromnetz kosten, nur damit zwei oder drei bewohnte Häuser mit Elektrizität versorgt werden? Straßen und Buslinien instand zu halten? Wir konzentrieren uns auf die von der sozialistischen Zeit übrig gebliebene Infrastruktur. Das Land hat sich aber komplett verändert. Auch die Einwohnerzahl, Wohnorte und Wohnstile haben sich verändert. Das sollte eigentlich der Ausgangpunkt für die Pläne der Politik sein – wie Bulgarien in 20 Jahren aussehen wird. Es wäre wichtig, heute dieses Bulgarien zu visualisieren, damit es in Zukunft gut funktioniert.“
Die Zustimmung für Putin nimmt ab. Natürlich ist die Angst groß, denn Bulgarien ist nah dran durch das Schwarze Meer. Wenn man zu viel die Anti-Russland-Position zeigt, könnte das in einen Krieg gegen Bulgarien enden.
Doch im Moment sind langfristige Strategien kein Thema. Bulgarien hat eine neue Regierung. Und seit dem Amtsantritt von Premier Kiril Petkov Mitte Dezember 2021 wird die politische Agenda von hohen Energiepreisen, der Inflation und nun vom Krieg in der Ukraine bestimmt. Aufgrund der verheerenden humanitären Katastrophe dort werden leer stehende Hotels, Wohnheime und private Häuser im bulgarischen Nordwesten ukrainischen Flüchtlingen zur Verfügung gestellt.
Das auch deshalb, weil in der Ukraine, insbesondere um die Stadt Odessa herum, eine bulgarische Minderheit von etwa 240.000 Menschen lebt. Über die Möglichkeit, den Arbeitsmarkt für Drittstaatsangehörige aus der Schwarzmeerregion zu öffnen, machen sich lokale Politiker und Unternehmer schon lange Gedanken.
Arbeitskräfte sollen angeworben werden
„Programme wie etwa Green Card oder Arbeitsvisa müsste die Regierung bereitstellen, damit unser Land viele Menschen mit bulgarischem Hintergrund anlockt. Damit meine ich Ukrainer, Moldawier und auch Russen. Warum nicht?!“
Sagt der Bürgermeister von Vidin Zvetan Zenkov, der seit zwei Jahren versucht, solide Arbeitgeber in die Region zu holen. Dem Nordwesten fehlen Fachkräfte noch mehr als die Autobahn nach Sofia oder der moderne Hafen.
„Ein europäischer Großinvestor war hier und will in Elektrobikes investieren. Dazu will er eine große Anlage kaufen. Warum gerade Vidin? Das ist klar – die Lage an der Donau!! Vidin ist 250 Kilometer von drei Hauptstädten auf dem Balkan entfernt und jeweils 800 Kilometer von Wien und Istanbul – es liegt genau in der Mitte.“
Der großgewachsene Mann mittleren Alters, von Beruf Kardiologe, ist mit Leidenschaft Bürgermeister. Seine Ziele sind groß: ein High-Tech-Park, Kultur- und Wassertourismus an der Donau, Thermen an den umliegenden Mineralquellen, und nicht zuletzt die grüne Energiewende. So könnte Vidin all diejenigen zurückholen, die nach der Wende in mehreren Wellen weggegangen sind – davon ist der Bürgermeister überzeugt.
„Über 25.000 Familien leben in Europa und würden zurückkommen. Viele rufen uns an, schreiben uns. Sie sagen: Wenn ich in Vidin 1000 Euro verdienen kann, würde ich nicht in Italien oder in Spanien, in Deutschland oder sonst irgendwo leben.“
Neue Regierung will Reformstau abbauen
Nach dem Reformstau der letzten Jahre braucht die Region allerdings, so wie ganz Bulgarien, eine große Erneuerung – von einer funktionierenden sozialen Infrastruktur bis hin zu einer unabhängigen Justiz. Dann erst könnte man einen Trend zur Rückkehr erwarten, schätzen Experten. Und tatsächlich schreibt sich die neue Regierung den politischen Willen zur Veränderung auf die Fahne.
In den ersten Plänen für die Regionen wird etwa ein Universitätszentrum im Nordwesten anvisiert. Auch ihre Verwaltung, die für die EU-Programme und Projekte zuständig ist, soll dezentralisiert werden, erklärt die EU-Expertin Mariela Savkova. Für die nächsten sieben Jahre sind dabei rund 1,7 Milliarden Euro an EU-Hilfen vorgesehen.
Die Menschen vor Ort werden spüren, was es bedeutet, selbst Projekte zu entwickeln und auch durchzuführen. Damit es im Nordwesten zum erwarteten Effekt für die sozialökonomische Entwicklung kommt, muss der Nutznießer die Region selbst sein.
Bewegung gibt es auch bei den auf Eis gelegten Infrastrukturprojekten. Es dürfte laut dem zuständigen Ministerium zwar noch acht Jahre dauern, bis es jene Straßenvernetzung gibt, von der die Region seit den 1990er-Jahren träumt. Doch dann soll die Donau-Brücke den „Paneuropäischen Transportkorridor IV“ zum Leben erwecken.
Städte wie Passau, Wien und Sofia würden dann über Vidin mit Thessaloniki, Athen und Istanbul gut verbunden sein. Doch die Menschen hier sind skeptisch. Auf das Projekt Donau-Brücke wollen sie deshalb erst dann anstoßen, wenn die Bohrmaschinen ihre Arbeit am Tunnel im Balkangebirge beginnen.