"Das war wie Freiheitsentzug"
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Häusliche Pflege ist teuer. Doch nicht immer kommt der Lohn bei den Pflegenden an. Eine bulgarische Pflegerin betreute eine alte Dame rund um die Uhr – wurde aber nur für 30 Wochenstunden bezahlt. Dagegen hat sie geklagt und einen Teilerfolg erzielt.
"Guten Morgen, ich bin jetzt in meinem Wohnzimmer." Dobrina sitzt in ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in Nessebar, einem kleinen Städtchen an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Wir sprechen per Videokonferenz miteinander. Dobrina hält das Handy hoch und zeigt uns ihr Wohnzimmer: In der Mitte steht ein kleiner Tisch, an der Wand eine Couch und ein Regal, daneben ein Fernseher.
"Zwei Zimmer haben wir. Wir sind vier Personen, meine Tochter, ihre beiden Kinder und ich. Für vier Personen ist zu eng, ja."
Arbeit für den ganzen Tag, Geld für 30 Wochenstunden
Es sind schwierige Zeiten, sagt Dobrina. 69 Jahre ist sie jetzt alt, bezieht eine kleine Rente, umgerechnet 260 Euro, doch das reicht kaum zum Leben, sagt sie. Dabei hat sie ihr ganzes Leben gearbeitet, zuerst in Bulgarien, in der Tourismusbranche, dann in Deutschland in der Pflege:
"2013 ist mein Mann nach langer Krankheit gestorben. Und wir hatten kaum Geld, aber wir mussten Kredite zurückzahlen. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. In Bulgarien hatte ich keine Möglichkeiten mehr. Also bin ich nach Deutschland gegangen und habe dort in der Pflege gearbeitet."
Eine bulgarische Agentur vermittelte Dobrina zuerst nach Koblenz und Köln, dann nach Berlin. Dort betreute sie zwei Jahre lang eine 92-jährige Frau, die eine Wohnung in einer Seniorenresidenz bewohnte. Vor fünf Jahren war das. Im Vertrag vereinbart waren 30 Stunden pro Woche. Erwartet wurde von Dobrina aber viel mehr:
"Die Frau war bettlägerig, sie brauchte rund um die Uhr Betreuung, das fing morgens früh an mit waschen und anziehen. Dann Frühstück machen. Ich habe eingekauft und gekocht, die Wohnung sauber gemacht. Zwischendurch Windeln wechseln. Und wieder kochen. Medikamente verabreichen. Ich war den ganzen Tag beschäftigt. Rund um die Uhr. Ich war für alles zuständig. Es gab keine Pausen."
Dobrina hatte ein Zimmer in der Wohnung der Frau, musste 24 Stunden am Tag verfügbar sein, sieben Tage in der Woche. Auch nachts musste sie immer wieder raus, die Tür zu ihrem Zimmer stand immer offen, damit sie auch nachts hörte, wenn der Frau etwas fehlte.
"Ich habe der Familie dann gesagt, ich brauche auch mal Pausen, Zeit für mich. Da haben sie gesagt: Nein, das ist nicht vorgesehen. Die Agentur habe ihnen gesagt, dass ich immer da sein müsse, 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche."
Und das alles für 950 Euro netto im Monat, so war es im Vertrag fixiert, allerdings für 30 Wochenstunden. Es war eine zermürbende Situation, sagt Dobrina: "Ich habe mich gefühlt wie jemand, der unter Freiheitsentzug steht. So war mein Alltag."
Die Bereitschaftszeit wird nicht vergütet
Dobrina beschwert sich bei ihrem Arbeitgeber, der bulgarischen Agentur. Verweist auf den 30-Stunden-Vertrag.
"Die Firma hat gesagt, ich muss immer zur Verfügung stehen. Ich darf nicht rausgehen. Wenn der Frau etwas passiert und ich nicht da bin, dann sei das meine Verantwortung, dann müsse ich dafür geradestehen."
Rund 700.000 Frauen aus Bulgarien, Polen oder Tschechien, so schätzen Experten, arbeiten in deutschen Haushalten als Pflegende oder Betreuende. Häufig unter skandalösen Bedingungen, sagt Justyna Oblacewicz. Sie arbeitet beim Deutschen Gewerkschaftsbund in dem Projekt Faire Mobilität, das sich für die Interessen ausländischer Pflegekräfte einsetzt:
"Aus meiner Sicht beschreibt dieser Fall sehr typische Arbeitsbedingungen, die überwiegend Frauen aus Osteuropa ausüben. Die Vertragskonstruktionen können sehr unterschiedlich sein. Aber was sich gleicht bei all diesen Fällen ist, dass 24 Stunden Arbeitszeit, und damit meine ich auch die Bereitschaftszeit, vorausgesetzt werden."
Statt Anerkennung gab es die Entlassungspapiere
Dobrina wehrt sich gegen die Arbeitsbedingungen, sie fordert Ruhezeiten und bezahlten Urlaub. Und bekommt dafür im September 2016 die Quittung: Sie wird entlassen. Dobrina verliert damit nicht nur ihren Job, sie hat auch keine Wohnung mehr in Berlin. Sie kehrt zurück nach Bulgarien. Und verfolgt von dort – unterstützt vom Deutschen Gewerkschaftsbund – weiter ihre Rechte:
"Ich glaube schon, dass ich so etwas wie eine Vorreiterin bin. Viele Frauen haben einfach Angst, sie fürchten, ihre Arbeit zu verlieren, dass man ihnen kündigt. Ich hoffe, dass es da auch in Deutschland endlich ein Umdenken gibt."
Vor Gericht erzielt Dobrina erste Erfolge. Das Landesarbeitsgericht Berlin entscheidet im August 2020: Dobrina muss für die geleistete Arbeit voll entlohnt werden. Das heißt konkret, der Arbeitgeber muss ihr 31.697 Euro und 50 Cent an Lohn für 2015 nachzahlen.
Mit einer zweiten Klage befasst sich das Arbeitsgericht Berlin am 17. Dezember. Es geht um das Jahr 2016. Dobrina fordert eine Nachzahlung in Höhe von 43.644 Euro.
"Ich will ja keine Geschenke, ich will niemandem Geld stehlen. Ich will nur meine Rechte. Ich will nur für die Arbeit bezahlt werden, die ich geleistet habe."
Auch das Arbeitsgericht Berlin wird diese Frage womöglich nicht abschließend klären. Das wird 2021 von höchster Stelle entschieden, vom Bundesarbeitsgericht.