"Bullshit Nights"

Rezensiert von Maike Albath · 04.05.2005
Wie fühlt man sich, wenn unter den Obdachlosen, die Tag und Nacht durch die Stadt streifen, plötzlich der eigene Vater auftaucht? Der zwanzig Jahre lang kaum etwas von sich hören ließ? Und der dann so tut, als sei es das allernormalste der Welt, auf der Straße zu leben und genau in dem Heim zu übernachten, wo sich der eigene Sohn als Sozialarbeiter den Lebensunterhalt verdient?
Genau diese Erfahrung ist der Ausgangspunkt von Nick Flynns großartigem Roman "Bullshit Nights". Das autobiographische Material - denn Flynn hat diese Geschichte tatsächlich erlebt und agiert als Ich-Erzähler unter seinem eigenen Namen - bekommt er durch eine geschickte Konstruktion in den Griff; der Tonfall ist rau und mitleidlos, der Erzählstil knapp und kantig. Von Sozialromanze oder esoterischer Selbstfindungsprosa keine Spur, stattdessen liegt eine düstere Beckett-Stimmung über dem Geschehen. Die Obdachlosen, Underdogs und Drogenabhängigen, die den Roman bevölkern, wirken in der Tat wie Becketts "Endspiel" entsprungen. Nick Flynn inszeniert sein Familienporträt als eine Art Chorgesang, in dem in mit Jahreszahlen versehenen 81 Kurzkapiteln gleichzeitig die Wiederbegegnung mit seinem Vater Ende der 80er Jahre und die Verwicklungen seiner Kindheit in den Blick genommen werden.

Als erstem begegnen wir dem Vater Jonathan Flynn, wie er 1989 die Nacht im Vorraum einer Bank verbringt. Dort hockt er neben anderen Obdachlosen und tut manchmal so, als würde er ein Formular ausfüllen, um sich einen Rest von Würde zu bewahren. Irgendwann streckt ihn der Alkohol nieder, er schläft ein und hat am nächsten Tag das geschafft, worum sein Leben zu kreisen scheint: irgendwo unterzukommen mit genügend Stoff im Blut. Dann lernen wir den Ich-Erzähler Nick näher kennen: seinem Vater war er nur ein oder zwei Mal leibhaftig begegnet, zwischen 1984 und 1990 arbeitete er in einem Obdachlosenheim, 1987 verlor sein Vater sein letztes Zimmer und lebte fünf Jahre lang auf der Straße. Es gibt einen Zeitsprung in die fünfziger Jahre: Nick Flynn lässt die späte Jugend seiner Eltern Revue passieren, die ein Bohemiendasein im Umfeld der Beatnicks führten. Jonathan war ein Hallodri und notorischer Frauenheld, der sich als Schriftsteller verstand, einen großen Roman plante und chronisch abstürzte. Seine Mutter Jody, Tochter wohlhabender Eltern und ein aufmüpfiger Teenager mit einem Faible für Salingers "Fänger im Roggen", war von Jonathans unabhängiger, antibürgerlicher Art fasziniert. Sie wurden ein Paar, Jody bekam kurz hintereinander zwei Söhne, Jonathan ließ sich von seinem Schwiegervater einen Gebrauchtwagenhandel einrichten und setzte das Unternehmen grandios in den Sand. Kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes Nick, unseres Ich-Erzählers, packte Jody ihre Koffer. Jonathan machte eine Karriere als Kleinkrimineller mit gefälschten Schecks, schrieb zwischendurch Theaterkritiken, trank ständig mehr, landete für einige Zeit im Knast, rappelte sich wieder hoch, fuhr Taxi, zahlte nie Alimente. Jody zog ihre Söhne allein auf, wohnte bei Freundinnen, taumelte von einem halbseidenen Liebhaber zum nächsten, hielt sich mit diversen Jobs über Wasser, nahm die Kinder mit zur Arbeit und kaufte schließlich ein heruntergekommenes Holzhaus in Scituate, wo sich die Familie niederließ. Mit zwölf Jahren ist Nick zum ersten Mal betrunken, Wettsaufen und Marihuana gehören zum Alltag in der Kleinstadt. Als Jugendlicher hat er mit den ortsansässigen Kriminellen zu tun, später beginnt er, Literatur zu studieren und kauft ein Boot, auf dem er den Sommer über leben will. Die Familiengeschichte reißt ab, als sich Jody 1982 das Leben nimmt - kurz zuvor hatte sie Nicks Notizbuch im Badezimmer gefunden, in das er eine Erzählung über seine Kindheit hinein geschrieben hatte. Die Chronologie seiner Kindheit und Jugend ist immer wieder unterbrochen durch Schilderungen von Jonathans Alltag als Obdachloser, wie er sich mit Zeitungen ein Lager bereitet, wie es überhaupt zu dem Verlust seines letzten Jobs kam, wie er sich Jahre lang als Aufschneider und Großmaul durchschlug und immer wieder von seinem bald zu erwartenden atemberaubenden Roman schwärmte, für den ihm bereits verschiedene Verlage hohe Summen geboten hätten. Die beiden Zeitachsen laufen dann aufeinander zu: Nick trifft seinen Vater im Obdachlosenheim wieder und droht, den Boden unter den Füssen zu verlieren, bis er sich nach einigen Jahren in Therapie begibt und nach New York umzieht.

Auf eindringliche Weise schildert Nick Flynn den Weg nach unten, der eine eigentümliche Sogkraft entwickelt und ihn beinahe mitreißt. Wie schwer es ist, sich aus dem Bannkreis des Vaters zu befreien, dessen Scheitern nicht als ein Orakel für den eigenen Lebensweg zu begreifen und das richtige Maß an Distanz und Nähe aufzubauen, wird immer wieder deutlich. Sein Vater bleibt unverbesserlich: als er als mittlerweile wieder sesshafter Sozialhilfeempfänger den ersten Gedichtband seines Sohnes in den Händen hält, sagt er, "Hast du von mir geerbt. Hätte mich auch gewundert, wenn du nicht schreiben würdest". "Bullshit Nights" ist ein aufregender Roman über Wahn, Drogen und Alkohol und über die Schattenseiten moderner Zivilisationen, es ist ein Roman über Amerika. Ein anderes Amerika, hart, grell und brutal.

Nick Flynn: Bullshit Nights
Die Geschichte mit meinem Vater
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel
Marebuchverlag Hamburg 2005
338 Seiten
18,00 Euro