Bundesagentur für Arbeit: Alle Qualifizierungsmaßnahmen wahrnehmen
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will während der 2010 zu erwartenden Krise auf dem Arbeitsmarkt Arbeitnehmer und Arbeitslose durch Qualifizierungsmaßnahmen für die Zeit danach rüsten. Wie die Bundesregierung erwarte die Bundesagentur im kommenden Jahr 600.000 mehr Arbeitslose als heute, sagte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt.
Deutschlandradio Kultur: Herr Alt, fördert die soziale Absicherung in Deutschland Langzeitarbeitslosigkeit?
Heinrich Alt: Nein, sie fördert nicht Langzeitarbeitslosigkeit, sondern sie ist darauf angelegt, Langzeitarbeitslosigkeit zu beseitigen.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt gibt's aber Vorschläge – interessanterweise auch von Muhammad Yunus, dem Friedensnobelpreisträger, der sich stark gemacht hat für Mikrokredite. Der sagt den Deutschen: "Ihr könntet das eigentlich auch versuchen, Langzeitarbeitslosen Mikrokredite geben. Dann sitzen die nicht mehr vor dem Fernseher und warten auf die Zahlung". Das wär doch mal was.
Heinrich Alt: Das machen wir ja. Wir zahlen ja einen Gründungszuschuss für Menschen, die sich selbständig machen wollen. Das sind erstaunlich viele, die sich aus der Arbeitslosigkeit selbständig machen, ein großes Risiko bereit sind einzugehen, häufig risikoreicher sind als die, die beschäftigt sind. Aber nicht jeder Langzeitarbeitslose hat die Idee, sich als Selbständiger in die Arbeitsgesellschaft zurückzubewegen.
Deutschlandradio Kultur: Wie erfolgreich ist das? Wie viele müssen das wieder abbrechen?
Heinrich Alt: Das Modell ist erfolgreich. Wir haben eine relativ geringe Abbruchquote. Und wir haben ein schönes Ergebnis unter anderem, dass nach einem Jahr der Gründung schon die Hälfte dieser Selbständigen jemanden eingestellt hat.
Deutschlandradio Kultur: Sie werden aber trotzdem im kommenden Jahr erheblich mehr Aufgaben haben. Wenn es stimmt, was die OECD sagt, dann wird die Zahl der Arbeitslosen deutlich nach oben gehen. Sie müssen sich also kräftig anstrengen, um die Leute in Arbeit reinzubekommen, falls es überhaupt noch Arbeit gibt. Was haben Sie vor?
Heinrich Alt: Zunächst mal teile ich die Analyse. Nächstes Jahr wird ein schwieriges Jahr. Wir rechnen gemeinsam mit der Bundesregierung damit, dass wir nächstes Jahr im Jahresdurchschnitt etwa 600.000 Arbeitslose mehr haben.
Was wollen wir machen? Wir wollen natürlich auf der einen Seite, dass die Arbeitnehmerschaft und die Arbeitslosen nach der Krise besser aufgestellt sind als vor der Krise. Das heißt, wir wollen, dass alle Qualifizierungsmöglichkeiten, die es gibt, im nächsten Jahr auch wahrgenommen werden. Das fängt an beim Hauptschulabschlusskurs und endet bei der Nachqualifizierung für ältere Arbeitnehmer und Deutschkurse und alles, was wir tun können. Die Gelegenheit dazu haben wir. Wir haben auch dafür ein ordentliches Budget für nächstes Jahr. Und wir werden natürlich im nächsten Jahr dort, wo Arbeitsplätze entstehen – und das ist ja das Phänomen der jetzigen Krise, wir haben erhebliche Arbeitsplatzverluste im produzierenden Gewerbe, wir haben aber auch der anderen Seite auch Arbeitsplatzzuwächse in Dienstleistungen, in Gesundheit, in Erziehung usw., 200.000 immerhin plus im Jahresvergleich -, dass wir uns dort verstärkt darum kümmern, dass die Stellen bei uns gemeldet werden und dass wir auch qualifizierte Vorschläge machen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist nicht so dramatisch, wie befürchtet wurde. Das stimmt ja auch. Aber eine Gruppe ist besonders betroffen davon, und zwar junge Leute unter 25. Was sagen Sie denen? Sagen Sie denen, "schult um", obwohl die gerade erst was gelernt haben? Oder sagen Sie denen, "wartet ab, bis die Krise vorbei ist, dann wird's schon wieder werden"?
Heinrich Alt: Die größte Herausforderung, die wir bei Jugendlichen haben, ist das Thema: Haben sie einen Schulabschluss unseres allgemeinbildenden Schulwesens, zumindest den niedrigsten Abschluss als Hauptschulabschluss? Und sind sie geeignet für eine berufliche Ausbildung? Das sind die beiden großen Baustellen, an denen wir arbeiten, Jugendliche, wenn es irgend geht, noch dazu zu bewegen, wenn sie keinen Hauptschulabschluss haben, einen Hauptschulabschluss zu machen, und zum Zweiten für sie einen Ausbildungsplatz zu finden, an dem man sie ausbilden kann, oder sie auf eine Ausbildung vorzubereiten.
Deutschlandradio Kultur: Wenn es um die Qualifizierung von Jugendlichen geht, von Berufsanfängern, ist denn da die Bundesagentur der richtige Ansprechpartner? Ist es nicht eher die Aufgabe von Schulen, von Berufsschulen, dass man die Leute dort vorbereitet? Denn dort sind ja auch die Lehrer, die lange diese Jugendlichen betreut haben.
Heinrich Alt: Das ist richtig so. Wir versuchen auch verstärkt mit Schulen zusammenzuarbeiten. Wir versuchen auch, für Hauptschüler in der zweiten, dritten Klasse vor Abschluss verstärkte Berufsorientierung zu machen, beispielsweise große Ferien zu nutzen, Betriebe kennenzulernen, Berufswahlcamps einzurichten usw., damit Jugendliche auch für sich selber auch wieder den Mut fassen und sich zutrauen, hinterher einen Ausbildungsplatz zu kriegen. Wir möchten nicht, dass Hauptschüler in der siebten oder achten Klasse sagen, "ich krieg sowieso keinen Ausbildungsplatz, ich kann in meinen schulischen Leistungen nachlassen".
Und wir brauchen die Bildungsinfrastruktur, die Sie geschildert haben, zwingend, wenn wir diese Aufgabe erfolgreich erledigen wollen, und müssen auch mit dieser Bildungsinfrastruktur zusammenarbeiten, auch mit den Kultusministerien der Länder, die sich ja erfreulicherweise darauf verständigt haben, die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss erheblich zu reduzieren, und sich darauf verständigt haben in diesem Jahr, dass man in Deutschland immerhin zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgeben will für Bildungsausgaben.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben sich einiges vorgenommen für das kommende Jahr, haben Sie gesagt, aber Sie rechnen auch mit einem Defizit von rund 18 Milliarden Euro. Wo sparen Sie das denn dann ein?
Heinrich Alt: Wir sparen das nicht ein, sondern die Bundesregierung war so freundlich und so verständig zu sagen, diese Krise ist so tief, wir können nicht erwarten, dass die Bundesagentur für Arbeit, nachdem wir den Beitragssatz von 6,5 auf 2,8 Prozent reduziert haben, dass die Tiefe dieser Krise ausschließlich finanziert werden kann von denen, die Beitrag zahlen zur Bundesagentur für Arbeit, und ist bereit, das Defizit im nächsten Jahr weitgehend zu übernehmen.
Deutschlandradio Kultur: Die Situation am Arbeitsmarkt, wir hatten es schon gesagt, hat sich nicht so schlecht entwickelt, wie befürchtet. Woran liegt das? An der Kurzarbeiterregelung?
Heinrich Alt: Es liegt auch an der Kurzarbeiterregelung. Es liegt zunächst daran, dass ein Großteil der Betriebe, die von der Krise betroffen sind, ihre Strategie ein stückweit geändert hat gegenüber Krisen der Jahre davor. Man löst die Krise weitgehend nicht mehr über den externen Arbeitsmarkt, sondern intern. Und interne Lösungen heißt, man nutzt natürlich auch Flexibilitätsspielräume, die sich in den letzten Jahren ergeben haben durch Tarifverträge, die wesentlich größere Spielräume lassen bei der Arbeitszeitgestaltung, durch Jahresarbeitszeitkonten, Lebensarbeitszeitkonten usw. Man hat also die wöchentliche Arbeitszeit erheblich reduziert.
Wir haben demographiebedingt eine relativ günstige Situation, dass in diesem Jahr 130.000 Menschen weniger auf dem Arbeitsmarkt sind, als im Jahr davor. Und das alles zusammen – auch dass wir Umwandlungen haben, Vollzeitarbeitsplätze im produzierenden Gewerbe gehen verloren, Teilzeitarbeitsplätze in Dienstleistung entstehen – hat unterm Strich dazu geführt, dass die Krise in Deutschland mit einem Plus von 220.000 Arbeitslosen im Jahresvergleich derzeit steht. Das ist bedauerlich, dass es das gibt, aber bei dieser Tiefe der Krise und auch im internationalen Vergleich ist das ein hervorragendes Ergebnis.
Deutschlandradio Kultur: Aber schon vor allen Dingen auch dank dieser Kurzarbeitergeldregelung.
Heinrich Alt: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Über eine Million Menschen profitieren im Moment davon. Das kann man aber nicht ewig machen. Irgendwann müssen die Unternehmen auch mal Bilanz ziehen und sagen, es geht nicht weiter. Wann ist der Zeitpunkt, wann kommt er?
Heinrich Alt: Zunächst einmal: Kurzarbeit machen Betriebe ja nur dann, wenn sie die Hoffnung haben, dass sich irgendwann die Auftragslage so verbessert, dass man von der Kurzarbeit wieder in die Vollzeitbeschäftigung gehen kann. Denn Kurzarbeit kostet Betriebe derzeit auch Geld. Und es steckt die Hoffnung dahinter, wir werden bessere Zeiten kriegen und werden wieder diese Menschen Vollzeit beschäftigen können.
Aber es wird sicher zu Beginn des nächsten Jahres für jeden Betrieb, der Kurzarbeit macht, noch mal zu beurteilen sein: Wie ist die Auftragslage und müssen wir personalwirtschaftlich reagieren? Und wir rechnen natürlich damit, dass aus dieser Kurzarbeit auch Entlassungen kommen werden. Denn die 600.000 Arbeitslosen mehr des nächsten Jahres werden aus den Branchen kommen, in denen wir jetzt diese krisenhafte Entwicklung haben.
Deutschlandradio Kultur: Und dann zahlen Sie im Grunde doppelt – jetzt für die Kurzarbeit und dann für die Arbeitslosigkeit.
Heinrich Alt: Ja, aber, ich glaube, trotzdem war es 90 oder wie viel Prozent der Kurzarbeiter auch immer, die nicht in die Arbeitslosigkeit gingen, war es das wert, dieses Instrument zu testen oder einzusetzen – auch in diesem Umfang. Denn keiner hat eine gesicherte Prognose zu sagen, dort wird Beschäftigung abgebaut, dort wird es keine Aufträge mehr geben, und dort wird es Aufträge geben.
Und wir haben ja interessanterweise diesen tiefen Auftragseinbruch bei unseren stärksten Wirtschaftsbranchen. Also, die Wirtschaftsbranchen, die im Export am stärksten waren, sind von der Krise am stärksten betroffen. Und da besteht natürlich die Hoffnung, dass bei dem Anspringen der Weltkonjunktur auch Aufträge ins Haus kommen und dass wir wieder diese Exportfunktion wahrnehmen, die wir bisher auch hatten.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir mal bei der Autoindustrie, als der Exportindustrie, die wir in Deutschland haben. Es gibt Leute, die sagen, wir haben da einfach Überkapazitäten. Die müssen abgebaut werden. Wir können nicht alle zukünftig die C-Klasse fahren. Ist die Gefahr nicht gegeben, dass man mit dieser Kurzarbeitergeldregelung möglicherweise diesen Strukturwandel, der notwendig ist, genau verhindert?
Heinrich Alt: Wenn man Kurzarbeit so fährt, wie das bisher passiert ist, dass es einen steilen Peek gibt innerhalb eines Jahres, der sich dann auch wieder relativ rasch abbaut, sehe ich zunächst mal keine Verhinderung eines notwendigen Strukturwandels. Zum anderen, Automobilindustrie: Wir wissen, es gibt derzeit weltweit Überkapazitäten. Wir wissen aber nicht, wer davon betroffen sein wird. Natürlich werden Kapazitäten abgebaut. Aber ich würde der deutschen Automobilindustrie den dringenden Ratschlag geben zu sagen, wir tun alles, damit wir der Stärkste im Wettbewerb sind und wir die zukünftigen Autos bauen und dass die Kapazitäten vielleicht weltweit woanders abgebaut werden müssen. Denn im Wettbewerb wird man bestehen oder man wird nicht bestehen.
Deutschlandradio Kultur: Es könnte aber auch sein, dass sich Unternehmen ganz gut mit dieser Kurzarbeiterregelung einrichten. Also, die Metallindustrie zum Beispiel, die Tarifpartner haben jetzt die Forderung aufgestellt, sie wollen ein brancheneigenes Kurzarbeitermodell und der Staat soll sich finanziell daran beteiligen. Da sind wir doch auf dem Weg zu einer Dauersubvention.
Heinrich Alt: Ja, ich glaube, das ist auch erkannt. Da wird man sicher drüber sprechen. Man kann auf der einen Seite ja auch mal Wünsche und Erwartungen wecken und auf der anderen Seite wird es Verhandlungspartner geben, die sagen: Das geht und das geht nicht. Ich glaube, das wird fair ausgehandelt zwischen der Politik und diesen Branchen.
Die jetzige Regelung halte ich für vernünftig, dass man sagt: Die Bundesagentur für Arbeit übernimmt einen großen Teil der Kosten des Kurzarbeitergeldes, aber es bleibt durchaus noch etwas bei den Betrieben hängen und im Übrigen auch bei den Arbeitnehmern. Die Arbeitnehmer verzichten ja auch auf einen Teil ihres Einkommens und haben auch ein Interesse daran, wieder auf Vollzeit zu gehen.
Deutschlandradio Kultur: Was wir in den letzten Monaten gelernt haben, war, dass man die Kurzarbeiterregelung auch nutzen muss für Weiterqualifizierung, damit man sich – wie Sie gesagt haben – für künftige Aufgaben sozusagen profiliert. Jetzt sagt Herr Huber von der IG Metall beispielsweise: Die nutzen das gar nicht. Nur zwei Prozent derjenigen nutzt überhaupt die Maßnahmen. Was machen Sie da falsch?
Heinrich Alt: Ich glaube, es macht niemand etwas falsch. Vielleicht waren die Erwartungen zu hoch. Wir haben zunächst mal 50.000 Menschen qualifiziert in diesem Jahr in der Kurzarbeit. Das ist gar nicht so schlecht. 50.000 sind 50.000 klügere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr nach der Krise als vor der Krise. Und zum anderen, man muss natürlich sehen: Keiner hatte Schubladenprogramme für eine solch tiefe Krise und die Qualifizierung mit Hilfe von Kurzarbeit. Da es die nicht gab, musste alles, was gelungen ist, aus dem Stand heraus entwickelt werden.
Und das ist für viele Betriebe ein organisatorisches und logistisches Problem. Sie können ja nicht, wenn Sie im Rahmen einer Kurzarbeit die Nachtschicht ausfallen lassen, sagen, wir machen jetzt in der Nachtschicht Qualifizierung. Das wird kein Arbeitnehmer mitmachen. Das wird kein Betriebsrat mitmachen. Oder es machen auf einen Schlag in einem Betrieb 5.000 Menschen Kurzarbeit. Wie wollen Sie dort Bildungsträger so schnell an diesen Betrieb heranbringen, dass man 250 oder 300 Lehrkräfte zur Verfügung hat, um 5.000 Menschen zu schulen. Wo haben Sie die Inhalte, die dort vermittelt werden müssen? Wo haben Sie homogene Gruppen, die Sie beschulen müssen? Sie können ja nicht sagen, vom Ingenieur bis zum Hilfsarbeiter sitzen alle auf der Schulbank und wir bringen ihnen irgendetwas bei.
Ich glaube, dass die Personalchefs der Unternehmen in diesem Jahr gelernt haben, dass es sinnvoll ist, für die nächste Krise etwas in die Schublade zu legen, und dass man vorbereitet ist auf so eine Herausforderung.
Deutschlandradio Kultur: Wie sieht denn die Rollenaufteilung da aus? Die Unternehmen sagen, wir haben Qualifizierungsbedarf, und sagen dann, gebt uns Geld? Oder kommt die BA und sagt, wir haben die besten Ideen, ihr müsst das machen?
Heinrich Alt: Nein, die Ideen sollten sicher vom Betrieb ausgehen, was man qualifiziert und wo der zukünftige Qualifizierungsbedarf liegt. Wir können immer nur sagen, wir helfen euch, die Infrastruktur zu organisieren. Wir geben euch Hinweise auf Bildungsträger, die das leisten können. Wir können euch auch sagen, was andere in der Branche tun. Wir können euch bei der Organisation helfen. Wir stellen euch einen Ansprechpartner zur Verfügung, auch wenn ihr mehrere Fabriken in Deutschland habt. Das ist unsere Funktion, die Betriebe klug zu beraten. Entscheiden muss immer der Betrieb, müssen die Unternehmen, muss der Betriebsrat.
Deutschlandradio Kultur: Herr Alt, Qualifizierung ist auch ein wichtiges Thema im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit. Da hat jetzt das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung herausgefunden, dass die Qualifizierungsmaßnahmen in diesem Bereich oft nicht greifen. Ganz speziell die schulischen Angebote, wie Bewebungstrainings oder Ähnliches, würden die Chancen der Arbeitslosen auf einen neuen Job kaum steigern. Dafür geben Sie Millionen aus. Ist das rausgeschmissnes Geld?
Heinrich Alt: Es ist kein rausgeschmissnes Geld, weil zunächst mal jedes Angebot auch eine ideologische Komponente hat. Jeder Mensch, dem wir ein Angebot machen, seine Position am Arbeitsmarkt zu verbessern, fühlt sich von dieser Gesellschaft gebraucht. Ich glaube, das ist ein wichtiges Signal an diese Menschen: Nicht zu sagen, ihr kriegt Geld, ihr werdet versorgt, ihr müsst nicht verhungern, aber euch braucht keiner mehr.
Deshalb lege ich schon mal Wert darauf, wenn wir jemandem ein Angebot machen, dass wir ihm damit auch sagen: Wir können uns vorstellen, dass Sie noch am Arbeitsmarkt wieder eine Beschäftigung finden. – Und ich glaube auch, wir verbessern seine Situation am Arbeitsmarkt allein schon dadurch. Wenn er ein Vorstellungsgespräch hat, wenn er einen interessierten Arbeitgeber findet und kann sagen, ich habe versucht, aktiv mit meiner Situation umzugehen, ist das immer besser, als wenn er sagt, ich hab zu Hause auf dem Sofa gesessen und hab drauf gewartet, dass ein Stellenangebot kommt.
Also, es gibt – will ich damit nur sagen – eine Reihe von Faktoren, die auch nützlich sind bei diesen Maßnahmen, unabhängig davon, ob unmittelbar hinterher eine Einmündung in den Arbeitsmarkt erfolgt, was natürlich nach wie vor unser Ziel ist und das schönste Ergebnis – unbestritten.
Deutschlandradio Kultur: Aber so richtig erfolgreich scheinen Sie ja nicht zu sein. 29 Prozent der Arbeitslosen sind langzeitarbeitslos. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind sie relativ weit hinten. Also, Sie haben diesen Sockel, den Sie einfach nicht vermitteln können. Ist das nicht auch eine Wahrheit?
Heinrich Alt: Das ist eine Wahrheit und wir kämpfen auch gegen diese Wahrheit. Und wir sind dort auch erfolgreich. Trotz der Krise haben wir im Augenblick 85.000 Langzeitarbeitslose weniger als vor einem Jahr, bedauerlicherweise immer noch 900.000. Und bei den internationalen Vergleichen bitte ich, eins zu bedenken: Viele Länder, mit denen wir uns vergleichen, haben Langzeitarbeitslose, die bei uns als erwerbsfähig gelten und die wir in die Arbeitslosenstatistik nehmen, haben die in anderen Systemen versorgt. Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den Ländern, die sich ein weit ehrgeizigeres Ziel gesteckt haben als viele andere, nämlich jeden Menschen, der noch drei Stunden am Tag arbeiten kann, noch nicht mal zusammenhängend diese drei Stunden, dass wir a) diesen Menschen als arbeitslos ansehen und b) uns drum bemühen, ihn wieder in Arbeit einzugliedern.
Deutschlandradio Kultur: Muss man vielleicht auch akzeptieren, dass es eine gewisse Anzahl von Menschen gibt, die trotz aller Qualifizierung schlicht nicht mehr integrierbar sind in den Arbeitsmarkt?
Heinrich Alt: Die gibt es. Trotzdem lebe ich von Beispielen, dass Menschen sehr lange arbeitslos waren und es dann doch wieder gelingt, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das hat manchmal auch etwas mit persönlichen Lebensumständen, mit Motivation, mit Zufällen, mit Talenten, die man entdeckt auch in späteren Jahren, zu tun. Deswegen gibt es für mich vom Prinzip her keine hoffnungslosen Fälle.
Deutschlandradio Kultur: Was halten Sie denn dann von dem Vorschlag der schwarz-gelben Koalition, dass man mit dem Instrument Bürgerarbeit arbeiten sollte? Sprich: Man nimmt Langzeitarbeitslose in sozialversicherungspflichtige Jobs, aber im gemeinnützigen Bereich.
Heinrich Alt: Also, vielleicht in aller Bescheidenheit darf ich darauf hinweisen, dass die Idee der Bürgerarbeit ja eine Idee war, die von der Bundesagentur kam, und dass wir die auch in Ost und West getestet haben. Diese Idee zeigt Wirkung. Sie hat allerdings einen kleinen Haken. Wenn ich das flächendeckend mache möchte in der ganzen Bundesrepublik Deutschland, brauche ich erheblich mehr Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik als uns derzeit zur Verfügung stehen. Ich kann nicht den Menschen Angebote anbieten, kann sagen, ich kann sie aber nicht finanzieren.
Deswegen, wir haben derzeit beispielsweise 300.000 Menschen in Arbeitsgelegenheiten. Arbeitsgelegenheiten sind Beschäftigungsmöglichkeiten am 2. Arbeitsmarkt, wo Menschen Arbeiten erledigen, die aus unserer Sicht zusätzlich sind und im öffentlichen Interesse. Wenn man das ausweiten möchte, dann kann man uns damit beauftragen. Und man muss uns dann auch die entsprechenden Mittel dafür zur Verfügung stellen.
Deutschlandradio Kultur: Wir werden in ein paar Tagen ein "Jubiläum" feiern: Hartz IV ist dann fünf Jahre in Kraft, also die Reformen sind fünf Jahre in Kraft. Wie fällt eigentlich Ihre persönliche Bilanz aus so rückblickend? Haben Sie die richtigen Instrumente an die Hand bekommen? Ist das das gewesen, was wir brauchten?
Heinrich Alt: Also, wenn man eine Reform in dieser Dimension macht, dann macht man auch als Gesetzgeber und als Behörde, die damit beauftragt ist, und wir waren ja mit den Kommunen gemeinsam oder sind mit den Kommunen gemeinsam damit beauftragt ... kann man nicht alles, was auf einen zukommt, antizipieren und im Vorhinein richtig machen.
Ich glaube trotzdem, dass der Versuch, die Grundsicherung in der Bundesrepublik Deutschland neu zu ordnen, aus zwei Systemen ein System zu machen, die Menschen alle in die Gesetzlichen Sozialkassen zu tun, ihnen allen ein Integrationsangebot zu unterbreiten, dass dieser Versuch richtig war. Ich sehe allerdings, dass es dort noch Nachbesserungsarbeiten gibt. Da ist der Gesetzgeber auch dabei. Er hat ja ständig eine Feinsteuerung durch 40 Novellen, die wir seither in der Grundsicherung hatten.
Deutschlandradio Kultur: Was wollen Sie konkret?
Heinrich Alt: Das Erste, was ja zurzeit auch politisch in der Diskussion ist, das ist für mich der wichtigste Punkt. Wir brauchen eine stabile Organisation. Und die Grundsicherung stand von Beginn an ein Stück weit unter dem Makel des Vorläufigen, des Experimentellen, weil es zwei Systeme gab. Es gab einmal die Optionskommunen und es gab die Arbeitsgemeinschaften. Es gab eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Es gab ein Urteil. Es gab nach dem Urteil jetzt zwei Jahre Debatten, wie geht es denn weiter?
Und das ist natürlich für die gut 60.000 Mitarbeiter, die in dieser Aufgabe arbeiten, die sicherlich eine der herausforderndsten sozialpolitischen Aufgaben ist, die wir zu vergeben haben in Deutschland, diese Mitarbeiter erwarten, dass sie eine klare Perspektive haben, dass sie eine stabile Organisation haben. Das haben wir in den fünf Jahren nicht geschafft.
Deutschlandradio Kultur: Wie muss die denn aussehen? Die Diskussion ist ja voll im Gange und die Zeit drängt.
Heinrich Alt: Die Diskussion ist voll im Gange. Deswegen, wir brauchen eine Entscheidung jetzt, damit wir eine verfassungsgemäße Lösung haben zum 1. Januar 2011. Wir haben, wenn wir umstellen müssen, noch exakt ein Jahr Zeit umzustellen. Die Umstellung auf das, was die jetzige Bundesregierung möchte, eine getrennte Aufgabenwahrnehmung in guter Kooperation ohne eine Verfassungsänderung, wenn wir das so umstellen wollen, dass das quasi geräuschlos und ohne, dass der Kunde viel davon merkt, über die Bühne gehen soll, dann brauchen wir jetzt eine klare Marschrichtung, wie es weitergehen soll.
Deutschlandradio Kultur: Dann haben wir wieder den Zustand wie vor der Reform. Das heißt, was wir wollten, war alle Betreuung aus einer Hand. Und künftig haben wir die dann nur noch unter einem Dach. Oder wie?
Heinrich Alt: Na ja, diese Betreuung aus einer Hand wird auf jeden Fall bleiben, was die Integrationsseite angeht. Was die Leistungsseite angeht, das ist für mich die nachrangige Seite. Für mich geht's ja zunächst mal – ich empfinde ja den gesetzlichen Auftrag, zunächst mal mich um die Integration dieser Menschen zu kümmern. Und solange das nicht gelingt, zahlen wir Leistungen. Und er wird in Zukunft, das ist richtig, zwei Leistungsbescheide kriegen, nämlich einen Leistungsbescheid zu seinen Grundsicherungsleistungen, also das, was er fürs tägliche Leben kriegt, und einen zweiten Leistungsbescheid, der ihm die Kosten der Unterkunft erstattet. Das wird die Kommune machen. Die Regelleistungen für den Lebensunterhalt werden wir ihm geben.
Das ist Ausfluss des Demokratieprinzips, das das Bundesverfassungsgericht angeführt hat und hat gesagt: Der Bürger kann mit dem Begriff Arbeitsgemeinschaft nichts anfangen. Er weiß nicht, wer ist das und wie ist die demokratisch legitimiert. Und deshalb hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: Der Bürger muss wissen, wer ihm etwas gewährt oder ablehnt, damit er im Zweifelsfall auch sein Wahlverhalten daran orientieren kann und sagen kann, ich wähle die Bundesregierung ab oder ich bestätige sie oder den Landrat und bestätige ihn oder bestätige ihn nicht. Also, das ist unserem Demokratieprinzip geschuldet. Das mag man bedauern, aber das ist so.
Die Integrationsleistung wird aber nach wie vor aus einer Hand kommen. Und ich glaub, das ist das Wichtigere. Den Bescheid oder die zwei Bescheide sehe ich nicht so tragisch an, weil ich glaube, das Entscheidende ist ja, wie schnell kommt der Bescheid und was steht drin und nicht, kriegt man ein Stück Papier oder kriegt man zwei?
Deutschlandradio Kultur: Aber das Modell JobCenter oder Arbeitsgemeinschaft ist dann tot?
Heinrich Alt: Das Modell Arbeitsgemeinschaft ist tot, nicht das Modell JobCenter. Und unsere Idee ist ja, nachdem wir jetzt fünf Jahre wirklich aus zwei unterschiedlichen Verwaltungskulturen in den Arbeitsgemeinschaften eine gute Verwaltungskultur gemacht haben, dass wir diese Zusammenarbeit weiter pflegen, auch wenn uns das organisatorische Dach der Arbeitsgemeinschaft fehlt. Aber wir können ja, und das zeigen wir auch, mit beispielsweise unseren kommunalen Partnern zusammenarbeiten, ohne dass es einen rechtlichen Zwang zur Zusammenarbeit gibt.
Deutschlandradio Kultur: Aber es muss doch manchmal an gewissen Streitpunkten jemanden geben, der letztendlich entscheidet, beispielsweise die Frage: Ist diese Person, die da kommt, erwerbsfähig oder ist sie es nicht? Da können Sie lange hin und her diskutieren, versuchen das einvernehmlich zu lösen. Oder Sie brauchen eine Lösung, die schnell für den Betroffenen auch da ist. Wer entscheidet dann?
Heinrich Alt: In 99 Prozent der Fälle ist man einer Meinung. Aber wenn es zu Streitfällen kommt, gibt es eine Idee, dass man sagt, das kann der Medizinische Dienst der Krankenkassen dann entscheiden, wenn beide Träger unterschiedlicher Meinung sind.
Deutschlandradio Kultur: Finden Sie das gut?
Heinrich Alt: Das wäre eine denkbare Lösung. Und die zweite Idee wäre, dass die Rentenversicherung dies entscheidet. Denn es geht ja auch um die Frage: Wenn er nicht mehr erwerbsfähig ist, kommt eventuell eine Erwerbsminderungsrente infrage? Oder geht er in das Sozialhilfesystem, das es ja immer noch gibt als Sozialgesetzbuch XII. Das wäre auch noch eine Variante. Und unabhängig davon gibt es immer auch noch den Rechtsweg, was ich natürlich für die schlechteste Lösung halten würde, dass wir uns vor Gericht treffen, Kommune und Bundesagentur, und dort klären, ob ein Mensch erwerbsfähig ist oder nicht. Aber ich glaube, dass es hier Lösungsmöglichkeiten gibt, die für beide Träger akzeptabel sind.
Deutschlandradio Kultur: Interessanterweise gibt's jetzt Nachrichten, die sagen: Viele Kommunen, die in den Arbeitsgemeinschaften drin sind, würden sich am liebsten trennen. 169 von denen sagen, wir möchten das gerne in eigener Regie machen, auch die Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Wir brauchen euch gar nicht, die Bundesagentur. Wenn die mit den Füßen abstimmen, müssten Sie das eigentlich akzeptieren.
Heinrich Alt: Ich hätte damit das kleinere Problem. Es wäre die Wahrnehmung einer Aufgabe durch die Kommune mit dem Bund als Finanzier, ohne dass der Bund die Chance hätte, auf seine Finanzen noch einzuwirken. Das scheitert auch an einem Bundesfinanzminister, der sagt, ich möchte, dass über die Mittel, die der Bund zur Verfügung stellt – und der Bund finanziert 85 Prozent dieser Veranstaltung insgesamt - , ich möchte auch jemanden haben, der für meine Mittel verantwortlich ist und den ich im Zweifelsfall, worst case, als Vorstand entlassen kann, wenn er nicht sorgfältig mit meinem Geld umgegangen ist.
Deutschlandradio Kultur: Interessanterweise wird im Moment viel auf politischer Ebene über diese JobCenter geredet, über die Neuorganisation, weil der Gesetzgeber handeln muss. Weniger geredet wird über neue Arbeitsmarktreformen, neue Instrumente. Sind die, die Sie haben, so gut oder gibt's da Nachholbedarf?
Heinrich Alt: Ich hab nicht die Idee, dass wir noch neue Instrumente, unbekannte Instrumente erfinden, wie beispielsweise eine Technik, wo wir sagen, das ist etwas ganz Neues und bringt Langzeitarbeitslose automatisch in gute Beschäftigung. Unserer Idee zu sagen, wir brauchen weniger Instrumente, wir brauchen aber stärker ausgestaltbare Instrumente, lokal besser händelbare Instrumente, dieser Idee trägt die neue Regierung Rechnung. Und sie hat das auch in den Koalitionsvertrag reingeschrieben. Der Weg ist auch schon beschritten worden von der Großen Koalition, die uns fortgeholfen hat. Und wenn sich das fortsetzt, ist das gut.
Deutschlandradio Kultur: Wünschen Sie sich zu Weihnachten eine Agenda 2020?
Heinrich Alt: Nein, ich glaube, zu Weihnachten muss das nicht sein oder sonst irgendwo. Ich wünsche mir aber schon, dass wir nach wie vor diese Grundsicherung sinnvoll weiterentwickeln im Interesse der Menschen. Ich wünsche mir aber auch, dass wir vielleicht nicht mehr so viele Debatten damit verbringen: Wie sieht eine optimale Organisation aus, sondern wie kann man den Menschen optimal helfen?
Deutschlandradio Kultur: Herr Alt, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Heinrich Alt: Nein, sie fördert nicht Langzeitarbeitslosigkeit, sondern sie ist darauf angelegt, Langzeitarbeitslosigkeit zu beseitigen.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt gibt's aber Vorschläge – interessanterweise auch von Muhammad Yunus, dem Friedensnobelpreisträger, der sich stark gemacht hat für Mikrokredite. Der sagt den Deutschen: "Ihr könntet das eigentlich auch versuchen, Langzeitarbeitslosen Mikrokredite geben. Dann sitzen die nicht mehr vor dem Fernseher und warten auf die Zahlung". Das wär doch mal was.
Heinrich Alt: Das machen wir ja. Wir zahlen ja einen Gründungszuschuss für Menschen, die sich selbständig machen wollen. Das sind erstaunlich viele, die sich aus der Arbeitslosigkeit selbständig machen, ein großes Risiko bereit sind einzugehen, häufig risikoreicher sind als die, die beschäftigt sind. Aber nicht jeder Langzeitarbeitslose hat die Idee, sich als Selbständiger in die Arbeitsgesellschaft zurückzubewegen.
Deutschlandradio Kultur: Wie erfolgreich ist das? Wie viele müssen das wieder abbrechen?
Heinrich Alt: Das Modell ist erfolgreich. Wir haben eine relativ geringe Abbruchquote. Und wir haben ein schönes Ergebnis unter anderem, dass nach einem Jahr der Gründung schon die Hälfte dieser Selbständigen jemanden eingestellt hat.
Deutschlandradio Kultur: Sie werden aber trotzdem im kommenden Jahr erheblich mehr Aufgaben haben. Wenn es stimmt, was die OECD sagt, dann wird die Zahl der Arbeitslosen deutlich nach oben gehen. Sie müssen sich also kräftig anstrengen, um die Leute in Arbeit reinzubekommen, falls es überhaupt noch Arbeit gibt. Was haben Sie vor?
Heinrich Alt: Zunächst mal teile ich die Analyse. Nächstes Jahr wird ein schwieriges Jahr. Wir rechnen gemeinsam mit der Bundesregierung damit, dass wir nächstes Jahr im Jahresdurchschnitt etwa 600.000 Arbeitslose mehr haben.
Was wollen wir machen? Wir wollen natürlich auf der einen Seite, dass die Arbeitnehmerschaft und die Arbeitslosen nach der Krise besser aufgestellt sind als vor der Krise. Das heißt, wir wollen, dass alle Qualifizierungsmöglichkeiten, die es gibt, im nächsten Jahr auch wahrgenommen werden. Das fängt an beim Hauptschulabschlusskurs und endet bei der Nachqualifizierung für ältere Arbeitnehmer und Deutschkurse und alles, was wir tun können. Die Gelegenheit dazu haben wir. Wir haben auch dafür ein ordentliches Budget für nächstes Jahr. Und wir werden natürlich im nächsten Jahr dort, wo Arbeitsplätze entstehen – und das ist ja das Phänomen der jetzigen Krise, wir haben erhebliche Arbeitsplatzverluste im produzierenden Gewerbe, wir haben aber auch der anderen Seite auch Arbeitsplatzzuwächse in Dienstleistungen, in Gesundheit, in Erziehung usw., 200.000 immerhin plus im Jahresvergleich -, dass wir uns dort verstärkt darum kümmern, dass die Stellen bei uns gemeldet werden und dass wir auch qualifizierte Vorschläge machen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist nicht so dramatisch, wie befürchtet wurde. Das stimmt ja auch. Aber eine Gruppe ist besonders betroffen davon, und zwar junge Leute unter 25. Was sagen Sie denen? Sagen Sie denen, "schult um", obwohl die gerade erst was gelernt haben? Oder sagen Sie denen, "wartet ab, bis die Krise vorbei ist, dann wird's schon wieder werden"?
Heinrich Alt: Die größte Herausforderung, die wir bei Jugendlichen haben, ist das Thema: Haben sie einen Schulabschluss unseres allgemeinbildenden Schulwesens, zumindest den niedrigsten Abschluss als Hauptschulabschluss? Und sind sie geeignet für eine berufliche Ausbildung? Das sind die beiden großen Baustellen, an denen wir arbeiten, Jugendliche, wenn es irgend geht, noch dazu zu bewegen, wenn sie keinen Hauptschulabschluss haben, einen Hauptschulabschluss zu machen, und zum Zweiten für sie einen Ausbildungsplatz zu finden, an dem man sie ausbilden kann, oder sie auf eine Ausbildung vorzubereiten.
Deutschlandradio Kultur: Wenn es um die Qualifizierung von Jugendlichen geht, von Berufsanfängern, ist denn da die Bundesagentur der richtige Ansprechpartner? Ist es nicht eher die Aufgabe von Schulen, von Berufsschulen, dass man die Leute dort vorbereitet? Denn dort sind ja auch die Lehrer, die lange diese Jugendlichen betreut haben.
Heinrich Alt: Das ist richtig so. Wir versuchen auch verstärkt mit Schulen zusammenzuarbeiten. Wir versuchen auch, für Hauptschüler in der zweiten, dritten Klasse vor Abschluss verstärkte Berufsorientierung zu machen, beispielsweise große Ferien zu nutzen, Betriebe kennenzulernen, Berufswahlcamps einzurichten usw., damit Jugendliche auch für sich selber auch wieder den Mut fassen und sich zutrauen, hinterher einen Ausbildungsplatz zu kriegen. Wir möchten nicht, dass Hauptschüler in der siebten oder achten Klasse sagen, "ich krieg sowieso keinen Ausbildungsplatz, ich kann in meinen schulischen Leistungen nachlassen".
Und wir brauchen die Bildungsinfrastruktur, die Sie geschildert haben, zwingend, wenn wir diese Aufgabe erfolgreich erledigen wollen, und müssen auch mit dieser Bildungsinfrastruktur zusammenarbeiten, auch mit den Kultusministerien der Länder, die sich ja erfreulicherweise darauf verständigt haben, die Zahl der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss erheblich zu reduzieren, und sich darauf verständigt haben in diesem Jahr, dass man in Deutschland immerhin zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgeben will für Bildungsausgaben.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben sich einiges vorgenommen für das kommende Jahr, haben Sie gesagt, aber Sie rechnen auch mit einem Defizit von rund 18 Milliarden Euro. Wo sparen Sie das denn dann ein?
Heinrich Alt: Wir sparen das nicht ein, sondern die Bundesregierung war so freundlich und so verständig zu sagen, diese Krise ist so tief, wir können nicht erwarten, dass die Bundesagentur für Arbeit, nachdem wir den Beitragssatz von 6,5 auf 2,8 Prozent reduziert haben, dass die Tiefe dieser Krise ausschließlich finanziert werden kann von denen, die Beitrag zahlen zur Bundesagentur für Arbeit, und ist bereit, das Defizit im nächsten Jahr weitgehend zu übernehmen.
Deutschlandradio Kultur: Die Situation am Arbeitsmarkt, wir hatten es schon gesagt, hat sich nicht so schlecht entwickelt, wie befürchtet. Woran liegt das? An der Kurzarbeiterregelung?
Heinrich Alt: Es liegt auch an der Kurzarbeiterregelung. Es liegt zunächst daran, dass ein Großteil der Betriebe, die von der Krise betroffen sind, ihre Strategie ein stückweit geändert hat gegenüber Krisen der Jahre davor. Man löst die Krise weitgehend nicht mehr über den externen Arbeitsmarkt, sondern intern. Und interne Lösungen heißt, man nutzt natürlich auch Flexibilitätsspielräume, die sich in den letzten Jahren ergeben haben durch Tarifverträge, die wesentlich größere Spielräume lassen bei der Arbeitszeitgestaltung, durch Jahresarbeitszeitkonten, Lebensarbeitszeitkonten usw. Man hat also die wöchentliche Arbeitszeit erheblich reduziert.
Wir haben demographiebedingt eine relativ günstige Situation, dass in diesem Jahr 130.000 Menschen weniger auf dem Arbeitsmarkt sind, als im Jahr davor. Und das alles zusammen – auch dass wir Umwandlungen haben, Vollzeitarbeitsplätze im produzierenden Gewerbe gehen verloren, Teilzeitarbeitsplätze in Dienstleistung entstehen – hat unterm Strich dazu geführt, dass die Krise in Deutschland mit einem Plus von 220.000 Arbeitslosen im Jahresvergleich derzeit steht. Das ist bedauerlich, dass es das gibt, aber bei dieser Tiefe der Krise und auch im internationalen Vergleich ist das ein hervorragendes Ergebnis.
Deutschlandradio Kultur: Aber schon vor allen Dingen auch dank dieser Kurzarbeitergeldregelung.
Heinrich Alt: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Über eine Million Menschen profitieren im Moment davon. Das kann man aber nicht ewig machen. Irgendwann müssen die Unternehmen auch mal Bilanz ziehen und sagen, es geht nicht weiter. Wann ist der Zeitpunkt, wann kommt er?
Heinrich Alt: Zunächst einmal: Kurzarbeit machen Betriebe ja nur dann, wenn sie die Hoffnung haben, dass sich irgendwann die Auftragslage so verbessert, dass man von der Kurzarbeit wieder in die Vollzeitbeschäftigung gehen kann. Denn Kurzarbeit kostet Betriebe derzeit auch Geld. Und es steckt die Hoffnung dahinter, wir werden bessere Zeiten kriegen und werden wieder diese Menschen Vollzeit beschäftigen können.
Aber es wird sicher zu Beginn des nächsten Jahres für jeden Betrieb, der Kurzarbeit macht, noch mal zu beurteilen sein: Wie ist die Auftragslage und müssen wir personalwirtschaftlich reagieren? Und wir rechnen natürlich damit, dass aus dieser Kurzarbeit auch Entlassungen kommen werden. Denn die 600.000 Arbeitslosen mehr des nächsten Jahres werden aus den Branchen kommen, in denen wir jetzt diese krisenhafte Entwicklung haben.
Deutschlandradio Kultur: Und dann zahlen Sie im Grunde doppelt – jetzt für die Kurzarbeit und dann für die Arbeitslosigkeit.
Heinrich Alt: Ja, aber, ich glaube, trotzdem war es 90 oder wie viel Prozent der Kurzarbeiter auch immer, die nicht in die Arbeitslosigkeit gingen, war es das wert, dieses Instrument zu testen oder einzusetzen – auch in diesem Umfang. Denn keiner hat eine gesicherte Prognose zu sagen, dort wird Beschäftigung abgebaut, dort wird es keine Aufträge mehr geben, und dort wird es Aufträge geben.
Und wir haben ja interessanterweise diesen tiefen Auftragseinbruch bei unseren stärksten Wirtschaftsbranchen. Also, die Wirtschaftsbranchen, die im Export am stärksten waren, sind von der Krise am stärksten betroffen. Und da besteht natürlich die Hoffnung, dass bei dem Anspringen der Weltkonjunktur auch Aufträge ins Haus kommen und dass wir wieder diese Exportfunktion wahrnehmen, die wir bisher auch hatten.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir mal bei der Autoindustrie, als der Exportindustrie, die wir in Deutschland haben. Es gibt Leute, die sagen, wir haben da einfach Überkapazitäten. Die müssen abgebaut werden. Wir können nicht alle zukünftig die C-Klasse fahren. Ist die Gefahr nicht gegeben, dass man mit dieser Kurzarbeitergeldregelung möglicherweise diesen Strukturwandel, der notwendig ist, genau verhindert?
Heinrich Alt: Wenn man Kurzarbeit so fährt, wie das bisher passiert ist, dass es einen steilen Peek gibt innerhalb eines Jahres, der sich dann auch wieder relativ rasch abbaut, sehe ich zunächst mal keine Verhinderung eines notwendigen Strukturwandels. Zum anderen, Automobilindustrie: Wir wissen, es gibt derzeit weltweit Überkapazitäten. Wir wissen aber nicht, wer davon betroffen sein wird. Natürlich werden Kapazitäten abgebaut. Aber ich würde der deutschen Automobilindustrie den dringenden Ratschlag geben zu sagen, wir tun alles, damit wir der Stärkste im Wettbewerb sind und wir die zukünftigen Autos bauen und dass die Kapazitäten vielleicht weltweit woanders abgebaut werden müssen. Denn im Wettbewerb wird man bestehen oder man wird nicht bestehen.
Deutschlandradio Kultur: Es könnte aber auch sein, dass sich Unternehmen ganz gut mit dieser Kurzarbeiterregelung einrichten. Also, die Metallindustrie zum Beispiel, die Tarifpartner haben jetzt die Forderung aufgestellt, sie wollen ein brancheneigenes Kurzarbeitermodell und der Staat soll sich finanziell daran beteiligen. Da sind wir doch auf dem Weg zu einer Dauersubvention.
Heinrich Alt: Ja, ich glaube, das ist auch erkannt. Da wird man sicher drüber sprechen. Man kann auf der einen Seite ja auch mal Wünsche und Erwartungen wecken und auf der anderen Seite wird es Verhandlungspartner geben, die sagen: Das geht und das geht nicht. Ich glaube, das wird fair ausgehandelt zwischen der Politik und diesen Branchen.
Die jetzige Regelung halte ich für vernünftig, dass man sagt: Die Bundesagentur für Arbeit übernimmt einen großen Teil der Kosten des Kurzarbeitergeldes, aber es bleibt durchaus noch etwas bei den Betrieben hängen und im Übrigen auch bei den Arbeitnehmern. Die Arbeitnehmer verzichten ja auch auf einen Teil ihres Einkommens und haben auch ein Interesse daran, wieder auf Vollzeit zu gehen.
Deutschlandradio Kultur: Was wir in den letzten Monaten gelernt haben, war, dass man die Kurzarbeiterregelung auch nutzen muss für Weiterqualifizierung, damit man sich – wie Sie gesagt haben – für künftige Aufgaben sozusagen profiliert. Jetzt sagt Herr Huber von der IG Metall beispielsweise: Die nutzen das gar nicht. Nur zwei Prozent derjenigen nutzt überhaupt die Maßnahmen. Was machen Sie da falsch?
Heinrich Alt: Ich glaube, es macht niemand etwas falsch. Vielleicht waren die Erwartungen zu hoch. Wir haben zunächst mal 50.000 Menschen qualifiziert in diesem Jahr in der Kurzarbeit. Das ist gar nicht so schlecht. 50.000 sind 50.000 klügere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr nach der Krise als vor der Krise. Und zum anderen, man muss natürlich sehen: Keiner hatte Schubladenprogramme für eine solch tiefe Krise und die Qualifizierung mit Hilfe von Kurzarbeit. Da es die nicht gab, musste alles, was gelungen ist, aus dem Stand heraus entwickelt werden.
Und das ist für viele Betriebe ein organisatorisches und logistisches Problem. Sie können ja nicht, wenn Sie im Rahmen einer Kurzarbeit die Nachtschicht ausfallen lassen, sagen, wir machen jetzt in der Nachtschicht Qualifizierung. Das wird kein Arbeitnehmer mitmachen. Das wird kein Betriebsrat mitmachen. Oder es machen auf einen Schlag in einem Betrieb 5.000 Menschen Kurzarbeit. Wie wollen Sie dort Bildungsträger so schnell an diesen Betrieb heranbringen, dass man 250 oder 300 Lehrkräfte zur Verfügung hat, um 5.000 Menschen zu schulen. Wo haben Sie die Inhalte, die dort vermittelt werden müssen? Wo haben Sie homogene Gruppen, die Sie beschulen müssen? Sie können ja nicht sagen, vom Ingenieur bis zum Hilfsarbeiter sitzen alle auf der Schulbank und wir bringen ihnen irgendetwas bei.
Ich glaube, dass die Personalchefs der Unternehmen in diesem Jahr gelernt haben, dass es sinnvoll ist, für die nächste Krise etwas in die Schublade zu legen, und dass man vorbereitet ist auf so eine Herausforderung.
Deutschlandradio Kultur: Wie sieht denn die Rollenaufteilung da aus? Die Unternehmen sagen, wir haben Qualifizierungsbedarf, und sagen dann, gebt uns Geld? Oder kommt die BA und sagt, wir haben die besten Ideen, ihr müsst das machen?
Heinrich Alt: Nein, die Ideen sollten sicher vom Betrieb ausgehen, was man qualifiziert und wo der zukünftige Qualifizierungsbedarf liegt. Wir können immer nur sagen, wir helfen euch, die Infrastruktur zu organisieren. Wir geben euch Hinweise auf Bildungsträger, die das leisten können. Wir können euch auch sagen, was andere in der Branche tun. Wir können euch bei der Organisation helfen. Wir stellen euch einen Ansprechpartner zur Verfügung, auch wenn ihr mehrere Fabriken in Deutschland habt. Das ist unsere Funktion, die Betriebe klug zu beraten. Entscheiden muss immer der Betrieb, müssen die Unternehmen, muss der Betriebsrat.
Deutschlandradio Kultur: Herr Alt, Qualifizierung ist auch ein wichtiges Thema im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit. Da hat jetzt das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung herausgefunden, dass die Qualifizierungsmaßnahmen in diesem Bereich oft nicht greifen. Ganz speziell die schulischen Angebote, wie Bewebungstrainings oder Ähnliches, würden die Chancen der Arbeitslosen auf einen neuen Job kaum steigern. Dafür geben Sie Millionen aus. Ist das rausgeschmissnes Geld?
Heinrich Alt: Es ist kein rausgeschmissnes Geld, weil zunächst mal jedes Angebot auch eine ideologische Komponente hat. Jeder Mensch, dem wir ein Angebot machen, seine Position am Arbeitsmarkt zu verbessern, fühlt sich von dieser Gesellschaft gebraucht. Ich glaube, das ist ein wichtiges Signal an diese Menschen: Nicht zu sagen, ihr kriegt Geld, ihr werdet versorgt, ihr müsst nicht verhungern, aber euch braucht keiner mehr.
Deshalb lege ich schon mal Wert darauf, wenn wir jemandem ein Angebot machen, dass wir ihm damit auch sagen: Wir können uns vorstellen, dass Sie noch am Arbeitsmarkt wieder eine Beschäftigung finden. – Und ich glaube auch, wir verbessern seine Situation am Arbeitsmarkt allein schon dadurch. Wenn er ein Vorstellungsgespräch hat, wenn er einen interessierten Arbeitgeber findet und kann sagen, ich habe versucht, aktiv mit meiner Situation umzugehen, ist das immer besser, als wenn er sagt, ich hab zu Hause auf dem Sofa gesessen und hab drauf gewartet, dass ein Stellenangebot kommt.
Also, es gibt – will ich damit nur sagen – eine Reihe von Faktoren, die auch nützlich sind bei diesen Maßnahmen, unabhängig davon, ob unmittelbar hinterher eine Einmündung in den Arbeitsmarkt erfolgt, was natürlich nach wie vor unser Ziel ist und das schönste Ergebnis – unbestritten.
Deutschlandradio Kultur: Aber so richtig erfolgreich scheinen Sie ja nicht zu sein. 29 Prozent der Arbeitslosen sind langzeitarbeitslos. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind sie relativ weit hinten. Also, Sie haben diesen Sockel, den Sie einfach nicht vermitteln können. Ist das nicht auch eine Wahrheit?
Heinrich Alt: Das ist eine Wahrheit und wir kämpfen auch gegen diese Wahrheit. Und wir sind dort auch erfolgreich. Trotz der Krise haben wir im Augenblick 85.000 Langzeitarbeitslose weniger als vor einem Jahr, bedauerlicherweise immer noch 900.000. Und bei den internationalen Vergleichen bitte ich, eins zu bedenken: Viele Länder, mit denen wir uns vergleichen, haben Langzeitarbeitslose, die bei uns als erwerbsfähig gelten und die wir in die Arbeitslosenstatistik nehmen, haben die in anderen Systemen versorgt. Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den Ländern, die sich ein weit ehrgeizigeres Ziel gesteckt haben als viele andere, nämlich jeden Menschen, der noch drei Stunden am Tag arbeiten kann, noch nicht mal zusammenhängend diese drei Stunden, dass wir a) diesen Menschen als arbeitslos ansehen und b) uns drum bemühen, ihn wieder in Arbeit einzugliedern.
Deutschlandradio Kultur: Muss man vielleicht auch akzeptieren, dass es eine gewisse Anzahl von Menschen gibt, die trotz aller Qualifizierung schlicht nicht mehr integrierbar sind in den Arbeitsmarkt?
Heinrich Alt: Die gibt es. Trotzdem lebe ich von Beispielen, dass Menschen sehr lange arbeitslos waren und es dann doch wieder gelingt, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das hat manchmal auch etwas mit persönlichen Lebensumständen, mit Motivation, mit Zufällen, mit Talenten, die man entdeckt auch in späteren Jahren, zu tun. Deswegen gibt es für mich vom Prinzip her keine hoffnungslosen Fälle.
Deutschlandradio Kultur: Was halten Sie denn dann von dem Vorschlag der schwarz-gelben Koalition, dass man mit dem Instrument Bürgerarbeit arbeiten sollte? Sprich: Man nimmt Langzeitarbeitslose in sozialversicherungspflichtige Jobs, aber im gemeinnützigen Bereich.
Heinrich Alt: Also, vielleicht in aller Bescheidenheit darf ich darauf hinweisen, dass die Idee der Bürgerarbeit ja eine Idee war, die von der Bundesagentur kam, und dass wir die auch in Ost und West getestet haben. Diese Idee zeigt Wirkung. Sie hat allerdings einen kleinen Haken. Wenn ich das flächendeckend mache möchte in der ganzen Bundesrepublik Deutschland, brauche ich erheblich mehr Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik als uns derzeit zur Verfügung stehen. Ich kann nicht den Menschen Angebote anbieten, kann sagen, ich kann sie aber nicht finanzieren.
Deswegen, wir haben derzeit beispielsweise 300.000 Menschen in Arbeitsgelegenheiten. Arbeitsgelegenheiten sind Beschäftigungsmöglichkeiten am 2. Arbeitsmarkt, wo Menschen Arbeiten erledigen, die aus unserer Sicht zusätzlich sind und im öffentlichen Interesse. Wenn man das ausweiten möchte, dann kann man uns damit beauftragen. Und man muss uns dann auch die entsprechenden Mittel dafür zur Verfügung stellen.
Deutschlandradio Kultur: Wir werden in ein paar Tagen ein "Jubiläum" feiern: Hartz IV ist dann fünf Jahre in Kraft, also die Reformen sind fünf Jahre in Kraft. Wie fällt eigentlich Ihre persönliche Bilanz aus so rückblickend? Haben Sie die richtigen Instrumente an die Hand bekommen? Ist das das gewesen, was wir brauchten?
Heinrich Alt: Also, wenn man eine Reform in dieser Dimension macht, dann macht man auch als Gesetzgeber und als Behörde, die damit beauftragt ist, und wir waren ja mit den Kommunen gemeinsam oder sind mit den Kommunen gemeinsam damit beauftragt ... kann man nicht alles, was auf einen zukommt, antizipieren und im Vorhinein richtig machen.
Ich glaube trotzdem, dass der Versuch, die Grundsicherung in der Bundesrepublik Deutschland neu zu ordnen, aus zwei Systemen ein System zu machen, die Menschen alle in die Gesetzlichen Sozialkassen zu tun, ihnen allen ein Integrationsangebot zu unterbreiten, dass dieser Versuch richtig war. Ich sehe allerdings, dass es dort noch Nachbesserungsarbeiten gibt. Da ist der Gesetzgeber auch dabei. Er hat ja ständig eine Feinsteuerung durch 40 Novellen, die wir seither in der Grundsicherung hatten.
Deutschlandradio Kultur: Was wollen Sie konkret?
Heinrich Alt: Das Erste, was ja zurzeit auch politisch in der Diskussion ist, das ist für mich der wichtigste Punkt. Wir brauchen eine stabile Organisation. Und die Grundsicherung stand von Beginn an ein Stück weit unter dem Makel des Vorläufigen, des Experimentellen, weil es zwei Systeme gab. Es gab einmal die Optionskommunen und es gab die Arbeitsgemeinschaften. Es gab eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Es gab ein Urteil. Es gab nach dem Urteil jetzt zwei Jahre Debatten, wie geht es denn weiter?
Und das ist natürlich für die gut 60.000 Mitarbeiter, die in dieser Aufgabe arbeiten, die sicherlich eine der herausforderndsten sozialpolitischen Aufgaben ist, die wir zu vergeben haben in Deutschland, diese Mitarbeiter erwarten, dass sie eine klare Perspektive haben, dass sie eine stabile Organisation haben. Das haben wir in den fünf Jahren nicht geschafft.
Deutschlandradio Kultur: Wie muss die denn aussehen? Die Diskussion ist ja voll im Gange und die Zeit drängt.
Heinrich Alt: Die Diskussion ist voll im Gange. Deswegen, wir brauchen eine Entscheidung jetzt, damit wir eine verfassungsgemäße Lösung haben zum 1. Januar 2011. Wir haben, wenn wir umstellen müssen, noch exakt ein Jahr Zeit umzustellen. Die Umstellung auf das, was die jetzige Bundesregierung möchte, eine getrennte Aufgabenwahrnehmung in guter Kooperation ohne eine Verfassungsänderung, wenn wir das so umstellen wollen, dass das quasi geräuschlos und ohne, dass der Kunde viel davon merkt, über die Bühne gehen soll, dann brauchen wir jetzt eine klare Marschrichtung, wie es weitergehen soll.
Deutschlandradio Kultur: Dann haben wir wieder den Zustand wie vor der Reform. Das heißt, was wir wollten, war alle Betreuung aus einer Hand. Und künftig haben wir die dann nur noch unter einem Dach. Oder wie?
Heinrich Alt: Na ja, diese Betreuung aus einer Hand wird auf jeden Fall bleiben, was die Integrationsseite angeht. Was die Leistungsseite angeht, das ist für mich die nachrangige Seite. Für mich geht's ja zunächst mal – ich empfinde ja den gesetzlichen Auftrag, zunächst mal mich um die Integration dieser Menschen zu kümmern. Und solange das nicht gelingt, zahlen wir Leistungen. Und er wird in Zukunft, das ist richtig, zwei Leistungsbescheide kriegen, nämlich einen Leistungsbescheid zu seinen Grundsicherungsleistungen, also das, was er fürs tägliche Leben kriegt, und einen zweiten Leistungsbescheid, der ihm die Kosten der Unterkunft erstattet. Das wird die Kommune machen. Die Regelleistungen für den Lebensunterhalt werden wir ihm geben.
Das ist Ausfluss des Demokratieprinzips, das das Bundesverfassungsgericht angeführt hat und hat gesagt: Der Bürger kann mit dem Begriff Arbeitsgemeinschaft nichts anfangen. Er weiß nicht, wer ist das und wie ist die demokratisch legitimiert. Und deshalb hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: Der Bürger muss wissen, wer ihm etwas gewährt oder ablehnt, damit er im Zweifelsfall auch sein Wahlverhalten daran orientieren kann und sagen kann, ich wähle die Bundesregierung ab oder ich bestätige sie oder den Landrat und bestätige ihn oder bestätige ihn nicht. Also, das ist unserem Demokratieprinzip geschuldet. Das mag man bedauern, aber das ist so.
Die Integrationsleistung wird aber nach wie vor aus einer Hand kommen. Und ich glaub, das ist das Wichtigere. Den Bescheid oder die zwei Bescheide sehe ich nicht so tragisch an, weil ich glaube, das Entscheidende ist ja, wie schnell kommt der Bescheid und was steht drin und nicht, kriegt man ein Stück Papier oder kriegt man zwei?
Deutschlandradio Kultur: Aber das Modell JobCenter oder Arbeitsgemeinschaft ist dann tot?
Heinrich Alt: Das Modell Arbeitsgemeinschaft ist tot, nicht das Modell JobCenter. Und unsere Idee ist ja, nachdem wir jetzt fünf Jahre wirklich aus zwei unterschiedlichen Verwaltungskulturen in den Arbeitsgemeinschaften eine gute Verwaltungskultur gemacht haben, dass wir diese Zusammenarbeit weiter pflegen, auch wenn uns das organisatorische Dach der Arbeitsgemeinschaft fehlt. Aber wir können ja, und das zeigen wir auch, mit beispielsweise unseren kommunalen Partnern zusammenarbeiten, ohne dass es einen rechtlichen Zwang zur Zusammenarbeit gibt.
Deutschlandradio Kultur: Aber es muss doch manchmal an gewissen Streitpunkten jemanden geben, der letztendlich entscheidet, beispielsweise die Frage: Ist diese Person, die da kommt, erwerbsfähig oder ist sie es nicht? Da können Sie lange hin und her diskutieren, versuchen das einvernehmlich zu lösen. Oder Sie brauchen eine Lösung, die schnell für den Betroffenen auch da ist. Wer entscheidet dann?
Heinrich Alt: In 99 Prozent der Fälle ist man einer Meinung. Aber wenn es zu Streitfällen kommt, gibt es eine Idee, dass man sagt, das kann der Medizinische Dienst der Krankenkassen dann entscheiden, wenn beide Träger unterschiedlicher Meinung sind.
Deutschlandradio Kultur: Finden Sie das gut?
Heinrich Alt: Das wäre eine denkbare Lösung. Und die zweite Idee wäre, dass die Rentenversicherung dies entscheidet. Denn es geht ja auch um die Frage: Wenn er nicht mehr erwerbsfähig ist, kommt eventuell eine Erwerbsminderungsrente infrage? Oder geht er in das Sozialhilfesystem, das es ja immer noch gibt als Sozialgesetzbuch XII. Das wäre auch noch eine Variante. Und unabhängig davon gibt es immer auch noch den Rechtsweg, was ich natürlich für die schlechteste Lösung halten würde, dass wir uns vor Gericht treffen, Kommune und Bundesagentur, und dort klären, ob ein Mensch erwerbsfähig ist oder nicht. Aber ich glaube, dass es hier Lösungsmöglichkeiten gibt, die für beide Träger akzeptabel sind.
Deutschlandradio Kultur: Interessanterweise gibt's jetzt Nachrichten, die sagen: Viele Kommunen, die in den Arbeitsgemeinschaften drin sind, würden sich am liebsten trennen. 169 von denen sagen, wir möchten das gerne in eigener Regie machen, auch die Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Wir brauchen euch gar nicht, die Bundesagentur. Wenn die mit den Füßen abstimmen, müssten Sie das eigentlich akzeptieren.
Heinrich Alt: Ich hätte damit das kleinere Problem. Es wäre die Wahrnehmung einer Aufgabe durch die Kommune mit dem Bund als Finanzier, ohne dass der Bund die Chance hätte, auf seine Finanzen noch einzuwirken. Das scheitert auch an einem Bundesfinanzminister, der sagt, ich möchte, dass über die Mittel, die der Bund zur Verfügung stellt – und der Bund finanziert 85 Prozent dieser Veranstaltung insgesamt - , ich möchte auch jemanden haben, der für meine Mittel verantwortlich ist und den ich im Zweifelsfall, worst case, als Vorstand entlassen kann, wenn er nicht sorgfältig mit meinem Geld umgegangen ist.
Deutschlandradio Kultur: Interessanterweise wird im Moment viel auf politischer Ebene über diese JobCenter geredet, über die Neuorganisation, weil der Gesetzgeber handeln muss. Weniger geredet wird über neue Arbeitsmarktreformen, neue Instrumente. Sind die, die Sie haben, so gut oder gibt's da Nachholbedarf?
Heinrich Alt: Ich hab nicht die Idee, dass wir noch neue Instrumente, unbekannte Instrumente erfinden, wie beispielsweise eine Technik, wo wir sagen, das ist etwas ganz Neues und bringt Langzeitarbeitslose automatisch in gute Beschäftigung. Unserer Idee zu sagen, wir brauchen weniger Instrumente, wir brauchen aber stärker ausgestaltbare Instrumente, lokal besser händelbare Instrumente, dieser Idee trägt die neue Regierung Rechnung. Und sie hat das auch in den Koalitionsvertrag reingeschrieben. Der Weg ist auch schon beschritten worden von der Großen Koalition, die uns fortgeholfen hat. Und wenn sich das fortsetzt, ist das gut.
Deutschlandradio Kultur: Wünschen Sie sich zu Weihnachten eine Agenda 2020?
Heinrich Alt: Nein, ich glaube, zu Weihnachten muss das nicht sein oder sonst irgendwo. Ich wünsche mir aber schon, dass wir nach wie vor diese Grundsicherung sinnvoll weiterentwickeln im Interesse der Menschen. Ich wünsche mir aber auch, dass wir vielleicht nicht mehr so viele Debatten damit verbringen: Wie sieht eine optimale Organisation aus, sondern wie kann man den Menschen optimal helfen?
Deutschlandradio Kultur: Herr Alt, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.