Wie wird man Entscheider?
Welcher Flüchtling darf dauerhaft bleiben, welcher nicht? Darüber entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Doch angesichts des aktuellen Zustroms sucht die Behörde dringend Mitarbeiter, die den Spagat zwischen Empathie und emotionaler Distanz schaffen.
Nostorf-Horst, eine ehemalige Kaserne der NVA-Grenztruppen in Mecklenburg-Vorpommern. Heute dient sie als Landes-Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber. Hier arbeiten auch die sogenannten Entscheider.
"Es ist schwierig, genügend Personal für diese Tätigkeit zu finden. Es ist eine herausfordernde Arbeit, sie liegt nicht jedem Menschen, man muss dafür auch gewisse Qualitäten sozusagen in sich haben und man muss in der Lage sein, damit umzugehen."
Jochen Keller ist seit über 20 Jahren Entscheider. Inzwischen ist der 50-Jährige auch Trainer von Berufseinsteigern und das europaweit.
"Manche, die zu uns gekommen sind, haben uns nach einer Einarbeitungsphase wieder verlassen, weil sie festgestellt haben: Das geht nicht!"
Wer in Deutschland einen Asylantrag stellt, muss sein Verfolgungsschicksal darlegen. In einer Anhörung, dem Kern jedes Asylverfahrens. Im Regelfall dauert so eine Anhörung zwischen zwei und fünf Stunden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gibt hierfür einen Gesprächsleitfaden und einen Fragekatalog vor.
Zuhören und Fragen stellen
"Eine ganz wichtige Fähigkeit ist natürlich, zuzuhören und die richtigen Fragen zu stellen. Man muss auch in der Lage sein, aus den Antworten, die man bekommt, dann möglicherweise die nächsten Fragen abzuleiten, die man nicht schon vorher konzipieren konnte. Und ganz wichtig ist, in vieler Hinsicht, Gelassenheit und Ruhe, eine gewisse Sensibilität, um darauf gefasst zu sein, dass man mit außergewöhnlichen Situationen konfrontiert werden könnte, um dann auch dem jeweiligen Antragsteller gerecht zu werden und es gibt natürlich Personen, die von ihrem eigenen Verhalten her mich da vor größere Herausforderungen stellen als andere."
In der Anhörung sitzen sich Entscheider und Antragsteller gegenüber. Mit dabei ist nur noch ein Dolmetscher. Manche Asylbewerber wirken verängstigt, gezeichnet von Krieg und Terror in ihrer Heimat, ausgezehrt durch monatelange Flucht. Andere begreifen das Gespräch als ihre große Chance auf ein besseres Leben.
"Natürlich muss man auch in der Lage sein, einerseits Empathie zu haben, andererseits aber eine ausreichende emotionale Distanz wahren zu können, um nicht zusammen mit dem Antragsteller zu weinen, wenn der was Schlimmes erzählt. Das sind alles sicher Umstände, die lebensjüngeren Kolleginnen und Kollegen möglicherweise schwerer fallen, wenn sie noch keine andere Berufserfahrung haben. Man muss versuchen, die eigenen Emotionen nicht Einfluss nehmen zu lassen auf die Entscheidung, die man trifft, denn ansonsten entscheidet man ja letzten Endes willkürlich."
Jede Entscheiderin und jeder Entscheider ist für bestimmte Herkunftsländer zuständig. Zu diesen Ländern werden sie regelmäßig geschult, ferner haben sie Zugriff auf interne Datenbanken mit Informationen zur aktuellen politischen Entwicklung. Zweifeln sie an bestimmten Angaben der Antragsteller, können sie diese auch durch die deutsche Botschaft vor Ort überprüfen lassen.
Jeden Tag zwei bis drei Anhörungen
Zwei bis drei Anhörungen pro Tag führt ein Entscheider normalerweise durch, in der Woche im Idealfall zwischen acht und zehn. Das Grundrecht auf Asyl garantiert jedem Antragsteller in Deutschland die individuelle und sorgfältige Prüfung seines Verfolgungsschicksals. Die Gefahr, Flüchtlinge aus bestimmten Ländern in der aktuellen Drucksituation schnell über einen Kamm zu scheren, sieht Jochen Keller durchaus:
"Man muss sich vor jeder Anhörung immer wieder neu der Situation stellen, dass man sich so zusagen, inhaltlich auf Null setzt, dass man nicht, auch wenn man schon 100 Anhörungen des gleichen Herkunftslandes durchgeführt hat, mit der Einstellung rein geht: 'Ah ja, jetzt kommt wieder die und die Geschichte, kenne ich alles schon!' Sondern dass man den Antragsteller wirklich wie ein leeres Blatt Papier betrachtet und so lange bis dann der Sachvortrag vorgebracht wurde, sich noch keine Meinung bildet. Das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung."
Wie wird man eigentlich Entscheider? - Bis vor wenigen Monaten galt noch als Voraussetzung das erfolgreiche Studium an einer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und damit die sogenannte "Laufbahnbefähigung für den gehobenen Dienst in der Bundesverwaltung". Durch den extrem hohen Bedarf lässt man jetzt auch Bachelor-Absolventen anderer Hochschulstudiengänge zu.
Jeder, der Entscheider wird, benötigt eine spezifische Einarbeitung. Das gilt natürlich auch für die Quereinsteiger aus der Bundesagentur für Arbeit, die gerade zahlreich die Behörde wechseln.
Um diese dreimonatige Einarbeitung nach festgelegten Qualitätsstandards zu gestalten, hat das Bundesamt in seiner Zentrale in Nürnberg seit ersten August dieses Jahres ein Qualifizierungszentrum eingerichtet.
Training für die Entscheider
"Dort finden also Schulungen statt, Einarbeitung on the job, d.h. dort wird von dem ersten Arbeitsschritt an im Prinzip das Berufsbild vermittelt durch erfahrene Entscheider einerseits und durch Trainings andererseits, d.h. die Teilnahme an Anhörungen, die von bereits erfahrenen Kollegen durchgeführt werden, um dann Schritt für Schritt selbst in diesen Bereich rein zu gehen."
Zum Trainingsprogramm innerhalb der Einarbeitungszeit gehören drei Kernmodule, die EU weit verwendet werden. Das ist erstens die "Schutzgewährung": Hier werden die Rechtsgrundlagen vermittelt, nach denen jemand Schutz erhält. Im zweiten Modul geht es um die "Beweiswürdigung". Zum dritten Modul gehören Gesprächsführungs- bzw. Anhörungstechniken.
"Gerade bei dem Modul Anhörungstechnik ist es so, dass viele Situationen durchgespielt werden, die man in einer Anhörung haben kann, um einfach bildlich aufzuzeigen und die Teilnehmer spüren zu lassen, was es bedeutet, wenn man als Antragsteller da sitzt, und wird von einem Anhörenden schlecht behandelt, unhöflich oder unkonzentriert und solche Beispiele mehr."
Nach drei Monaten sollen die neuen Entscheider dann eigenständig eine Anhörung durchführen und anschließend allein darüber urteilen, wer in Deutschland bleiben darf und wer nicht. Die Berufsneulinge lernen auch, dass sie Entscheidungen treffen, die nur ein Gericht aufheben kann.
"Meine Entscheidung heißt zwar nicht 'Leben oder Tod?' Aber meine Entscheidung heißt 'Schutzgewährung oder nicht' und wenn ich zu dem Punkt komme: 'keine Schutzgewährung' dann komme ich in vielen Fällen zu dem Punkt: 'Ausreiseaufforderung' bzw. 'Abschiebungsandrohung' Und das dann, wenn ich die falsche Entscheidung treffe, schicksalshafte Auswirkungen haben kann, dessen muss ich mir bewusst sein."