Kann das weg oder ist das Archivgut?
Knapp 70 Kilometer Schriftgut lagern im Bundesarchiv Koblenz – und jedes Jahr kommen zwei bis drei Kilometer dazu. Viel Unwichtiges wird aussortiert, sonst würden die Archivare im Material ertrinken: Sie sind Spezialisten fürs Wegwerfen.
"Wir sind hier gerade in ein Archiv gegangen. Was muss man beachten, wenn man hier reingeht als jemand, der sich gar nicht auskennt. Gibt es Regeln?"
"Ohne mich würden Sie ja gar nicht hier reinkommen. Das ist hier kein öffentlicher Bereich, sondern ein gut abgesichertes Magazin. Insofern kommen Sie hier nur in Begleitung von Archivaren rein."
Eintritt in eine fremde, verschlossene Welt, 7,60 Meter unter der Erde. Der Keller des Bundesarchivs, Standort Koblenz. Mein Begleiter ist Dr. Tobias Herrmann. Ein promovierter Historiker und ausgebildeter Archivar Anfang 40. Seit 2012 arbeitet er hier, zuständig unter anderem für Strategieplanung. Die Gegenwart von heute ist morgen Geschichte. An diesem Schnittpunkt der Zeit arbeitet Tobias Herrmann:
"Ja, wir sind jetzt in das Magazin des Bundeskanzleramts gegangen. Wir gehen davon aus, dass im Bundeskanzleramt die wichtigen Entscheidungen, die in der Bundesrepublik gefallen sind, nachvollziehbar sind. Und deswegen haben wir in diesem Bestand eine große Aufbewahrungsquote. Das heißt, vieles was im Bundeskanzleramt entsteht, wird ins Archiv aufgenommen."
Die wichtigsten staatlichen Dokumente
Das Magazin des Bundeskanzleramts ist eines von insgesamt 30 Magazinen am Standort Koblenz. Verteilt über drei Türme lagern hier die wichtigsten staatlichen Dokumente aus der Zeit der Bundesrepublik nach 1945 – und Schriftgut aus privaten Nachlässen. Hier lagern alle staatlichen Überlieferungen, die innerhalb der Bundesbehörden entstanden sind. Sitzungsprotokolle. Gesetzesvorlagen. Briefwechsel.
Vor uns ein langer Gang mit jeweils 25 grünen Rollregalen links und rechts. Es riecht nach altem Papier. Jedes Rollregal bietet sechs mal vier Meter Platz. Auf jedem Meter stapeln sich 10.000 Blätter Knapp 70 Kilometer Schriftgut lagern im Bundesarchivkeller in Koblenz – und jedes Jahr kommen zwei bis drei Kilometer dazu. Hinzu kommen acht weitere Standorte des Bundesarchivs – in Bayreuth, Freiburg, Ludwigsburg, Rastatt, St. Augustin, Hoppegarten und zwei Mal Berlin. 340 Kilometer Schrifttum der Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft:
"Bis jetzt und in den nächsten Jahren wird noch viel Papier kommen und es ist immer mehr geworden. Das zwingt uns dazu, die Kriterien immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Wir haben so viele Rückstände, dass wir gezwungen sind, schärfer wegzuwerfen als bisher. Wir bekommen ca. 225.000 Archivalien-Einheiten jährlich ins Haus. Und ungefähr diese Menge schaffen wir auch jährlich zu bearbeiten. Wir haben aber noch große Rückstände, die wir angehen müssten. Um die Schere nicht größer werden zu lassen, bleibt nur der Weg, mehr wegzuwerfen als bisher."
Die Gegenwart produziert zu viel
Was kann weg, was muss aufbewahrt werden? 7,60 Meter unter der Erde. Die Raumtemperatur liegt immer zwischen 18 und 22 Grad, die Luftfeuchtigkeit ist immer gleich. So kann garantiert werden, dass die Dokumente lange erhalten bleiben. Was ja die Kernaufgabe eines Archivs ist. Oder besser: war. Seit den 1970er-Jahren, seitdem öffentliche Verwaltungen rasant gewachsen sind, werden Berge von Dokumenten mehr produziert als früher. Die Hauptaufgabe der Archivare ist seither – das Wegwerfen. Archivare sind zu Wegwerfspezialisten geworden, weil unsere Gegenwart einfach zu viel produziert: Mehr als man der Zukunft zumuten kann. Das, was danach noch übrig bleibt, wird übernommen, archiviert. Und die Archivare müssen beim Auswählen ständig die Zukunft vorhersehen:
"Ist die Auswahl, die wir treffen, die richtige? Und ist auch die Menge die richtige? Bei den jetzt entstehenden Unterlagen in der Bundesrepublik müssen wir uns die Frage stellen: Was können künftig Fragestellungen sein?"
Damit sich die Koblenzer Archivare besser durch den wild gewachsenen Dschungel von Papier-Dokumenten, Filmaufnahmen, Fotos und Karten kämpfen können, muss ein ausgeklügeltes System her: die Aktenautopsie. In dem Moment, in dem Unterlagen das Bundesarchiv erreichen, werden sie Stück für Stück geprüft: archivwürdig – oder nicht? Bei den Mengen allerdings: eine Mammutaufgabe. Für mich: unvorstellbar. Und die Archivare - drohen die nicht irgendwann in den Materialfluten zu ertrinken?
"Ertrinken werden wir wahrscheinlich nicht hier oben. Wir haben ja dafür gesorgt, dass möglichst kein Wasser hier reinkommt weit oben über dem Rhein. In der Tat: Es kann einen ein bisschen fertig machen, die Masse an Akten und dieses Bewusstsein um die Rückstände. Vor allem, wenn man gegenüberhält, dass von den vielen Unterlagen, die wir aufbewahrt haben, nur ein kleiner Bruchteil bisher benutzt wurde. Dann ist das ein klares Indiz dafür, dass wir zu viel aufbewahrt haben. Und dass wir strenger kassieren müssen. Perspektivisch würde das ja den Effekt bringen, dass wir mit den Massen besser klarkommen. Ganz falsch ist das mit dem Ertrinken nicht. Es kommt wirklich sehr viel und je mehr kommt, desto weniger Zeit hat man für den Einzelfall."
Dienstwagen und Heizkosten interessieren nicht
7,60 Meter tief im Keller ist man noch immer hoch über dem Rhein. 1986 wurden die Kellergewölbe des Archivs knapp 100 Meter über dem Rhein ins Karthauser Bergmassiv gerammt. Die Archivare im Koblenzer Bundesarchiv brauchen festen Boden unter den Füßen, wenn sie den Überblick über das historisch Bedeutsame der Gegenwart für den Fortgang der Geschichte behalten wollen. Weggeworfen wird vor allem Doppeltes. Dinge, die jedes Jahr wiederkommen: Heizkosten- und Dienstwagenabrechnungen zum Beispiel:
"Die tragen zur Geschichtsschreibung nichts bei."
Was wäre, denke ich, wenn ein künftiger Historiker das Repräsentationsbedürfnis der Elite im Spiegel der Dienstwagennutzung untersuchen wollte? Dann wären die Dienstwagenabrechnungen vielleicht doch noch interessant…
"Wir fragen eher umgekehrt. Wo sind Politikfelder, die in der Diskussion waren? Und die Akten versuchen wir aufzubewahren. Wenn jetzt gerade viel über Flüchtlinge gesprochen wird, dann heben wir das auf."
Tobias Hermann dreht am Rad der Geschichte, an einem Rollregal:
"Es ist ein schönes Gefühl, in einer Behörde zu arbeiten, die auf Wachstum ausgelegt ist. Es besteht kaum Gefahr, dass wir weggekürzt werden."
Wir verlassen das Magazin des Bundeskanzleramts. Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel und ihre Administrationen – gestapelt auf Regalbrettern. Ein endlos langer Gang liegt vor uns. Gelber PVC-Boden, an der Decke schlängeln sich dicke Rohre entlang. In Kombination mit dem grellen Neonlicht erinnert mich vieles an ein Krankenhaus. Ein Kollege kommt uns entgegen.
Er schiebt einen Wagen vor sich her – beladen mit Archivgut, das aussortiert wird. Was passiert damit?
"Das nennen wir kassieren. Das heißt wegwerfen, vernichten. Ein physischer Vorgang: Wird durch externe Dienstleister erledigt. Es handelt sich um ganz schöne Mengen. Nicht nur Papier, Büroklammern, Metall, Heftklammern, Ordnerdeckel. Das muss ordnungsgemäß vernichtet werden."
Künftig ist alles digital archiviert
Das Wegwerfen, die physische Aktion nach der Aussortierung, wird ausgelagert. Das passt. Irgendwie widerspricht es ja auch dem Selbstverständnis eines Archivars. Trotzdem: In Zukunft dürfte sich das Berufsbild des Archivars verändern. Bis 2020 soll in Koblenz z.B. alles digital archiviert werden. Der Umgang mit dem Archivgut bleibt bis dahin aber erst mal derselbe. Einmal archiviert, haben alle Dokumente Anspruch auf sorgfältige Pflege. Tobias Herrmann biegt mit mir links ab, ins Treppenhaus. Es geht eine Etage nach unten. Dort angekommen treten wir ein in die sogenannte "Halle". Hier kümmern sich knapp zehn Fachlageristen um die Pflege von Archivalien, die in schlechtem Zustand sind.
Mit Hingabe widmen sie sich den Dokumenten. Akkurat streicht einer mit einem Nagelfeile-ähnlichen Instrument gewelltes Papier wieder glatt – oder schneidet mit einer Maschine defekte Teile nach Maß ab. "Entgräten" nennen sie das hier. Alles im Dienste der deutschen Geschichtsschreibung. Tobias Herrmann schaut seinen Kollegen zu:
"Unser Hauptziel: Die Dinge, die wir aufbewahren, zugänglich zu machen und nicht im Magazin verstauben zu lassen."
Der Besuch in der "Halle" hat mich nachhaltig beeindruckt, und ich muss zugeben: Wenn ich an Archive gedacht habe, dachte ich vor allem an: viel Langeweile. An introvertierte Tüftler, die Magazine entlang schlurfen und sich in alten Dokumenten verlieren. Aber nichts da. Die wirkliche Welt der Archivare im Bundesarchiv ist eine andere. Sie sitzen an der Schaltzentrale, in der über den künftigen Zugriff auf unsere heutige Gegenwart entschieden wird. Meinen Sinneswandel erzähle ich Tobias Herrmann, 7,60 Meter unter der Erde. Der lächelt – und gibt mir noch mit auf den Weg, warum er seinen Beruf so liebt:
"Ich kann mich erinnern an einen Kollegen, der sagte: Mit dieser Arbeit durchlebe ich meine Jugend noch mal. Er hat sich da mit den 60er/70er Jahren beschäftigt, die Zeit, als er jung war. Und mit der Beschäftigung mit den Dokumenten hat er in gewisser Weise das noch mal nacherlebt, was er vor 30 Jahren selbst erlebt hat. Und das hat mich geprägt, das ist mir in Erinnerung geblieben. Das kann vorkommen im Archiv, dass man auf Dinge zurückblicken kann durch die Unterlagen, die man selbst erlebt hat. Vorwärts leben, rückwärts denken, das trifft es schon ein bisschen."