Ein-Prozent-Hürde in den Niederlanden: Ist das auch etwas für Deutschland? [AUDIO] Die Diskussion um die Fünf-Prozent-Hürde ploppt immer wieder bei uns auf, vor allem kurz vor einer Bundestagswahl und vor allem dann, wenn Kleinstparteien knapp unter dieser Sperrklausel liegen. In den Niederlanden ist das ganz anders, dort gibt es nur eine Ein-Prozent-Hürde. Aber ist das wirklich besser oder führt das nur zu mehr Zersplitterung? Wir haben den niederländischen Kulturhistoriker René Cupérus gefragt.
Selten erfolgreich, aber nicht wirkungslos
15:48 Minuten
Am Anfang werden sie oft ignoriert, belächelt und unterschätzt: Kleinstparteien. Mit der Fünf-Prozent-Hürde wurde es für die politischen Kleingewichte noch schwieriger. Die Grünen und die AfD haben es dennoch in den Bundestag geschafft.
"Meine Damen und Herren, ich eröffne die siebte Sitzung des Deutschen Bundestages."
Bonn, Mitte September 1949. In einer ehemaligen Turnhalle debattieren die Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages. 410 Parlamentarier darunter gerade Mal 28 Frauen. Zuerst tritt Hans Ewers von der Deutschen Partei ans Rednerpult:
"Die Stunden, die wir Mitte September bis Ende September hier in Bonn erleben sind die Geburtsstunde eines neuen deutschen Staatswesens."
Mit dabei: jede Menge Kleinstparteien. Ewers Deutsche Partei bekam bei der ersten Bundestagswahl gerade mal 4,0 Prozent der Stimmen. Das reichte damals für den Einzug ins Parlament. Und sogar für eine Regierungsbeteiligung. Mit zwei Ministerposten.
"Bei der ersten Bundestagswahl hatte sich das Parteiensystem noch nicht gebildet oder stabilisiert, es war ja alles neu."
Sagt der Parteienforscher Carsten Koschmieder. Elf Parteien saßen im ersten bundesdeutschen Parlament. Davon lagen sechs unter fünf Prozent.
Bonn, Mitte September 1949. In einer ehemaligen Turnhalle debattieren die Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages. 410 Parlamentarier darunter gerade Mal 28 Frauen. Zuerst tritt Hans Ewers von der Deutschen Partei ans Rednerpult:
"Die Stunden, die wir Mitte September bis Ende September hier in Bonn erleben sind die Geburtsstunde eines neuen deutschen Staatswesens."
Mit dabei: jede Menge Kleinstparteien. Ewers Deutsche Partei bekam bei der ersten Bundestagswahl gerade mal 4,0 Prozent der Stimmen. Das reichte damals für den Einzug ins Parlament. Und sogar für eine Regierungsbeteiligung. Mit zwei Ministerposten.
"Bei der ersten Bundestagswahl hatte sich das Parteiensystem noch nicht gebildet oder stabilisiert, es war ja alles neu."
Sagt der Parteienforscher Carsten Koschmieder. Elf Parteien saßen im ersten bundesdeutschen Parlament. Davon lagen sechs unter fünf Prozent.
"Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Seelos."
"Die Bayernpartei begrüßt die Gelegenheit im hier vor dem Forum Deutschlands und der Welt eine Frage anzuschneiden, die durch die Ablehnung der Bonner Verfassung durch Bayern entstanden ist: Die bayrische Frage … "
Um sie im Bundestag zu stellen reichten damals 4,2 Prozent aus. Für die Bayernpartei.
"Wir Bayern sehen nur in einem baldigen Aufgehen in Europa (Protest) einen endgültigen Schutz vor den gefährlichen Tendenzen eines neuen preußisch-deutschen (Zwischenrufe) Machtstaates."
1953 kam die bundesweite Fünf-Prozent-Hürde
Der erste Bundestag war auch der letzte, in dem Kleinstparteien zu Wort kamen. Ab 1953 galt die bundesweite Fünf-Prozent-Hürde.
"Im Laufe der ersten Jahre hat dann die Union es geschafft, die meisten von den kleinen Parteien aufzusaugen, eben durch geschickte Koalitionspolitik, und die Union hat extra mehr von den kleinen Parteien reingenommen, als sie rechnerisch gebraucht hätte, um sie aufzusaugen, das war strategisch einfach geschickt gemacht."
Einverleibung durch politische Umarmung. So schrumpften die konservativen Kleinstparteien weiter. Im linken Lager stoppte ein Verbot die KPD, die bei der ersten Bundestagswahl noch 5,7 Prozent der Stimmen geholt hatte; die SPD baute ihren Einfluss weiter aus:
"Die KPD wurde verboten und die SPD hat es geschafft, dass sie sich geöffnet hat, dass sie gesagt hat, wir sind nicht nur eine reine Arbeiterinnenpartei, sondern wir versuchen, das linke Spektrum abzudecken, von links Mitte, bis links Außen."
"Im Laufe der ersten Jahre hat dann die Union es geschafft, die meisten von den kleinen Parteien aufzusaugen, eben durch geschickte Koalitionspolitik, und die Union hat extra mehr von den kleinen Parteien reingenommen, als sie rechnerisch gebraucht hätte, um sie aufzusaugen, das war strategisch einfach geschickt gemacht."
Einverleibung durch politische Umarmung. So schrumpften die konservativen Kleinstparteien weiter. Im linken Lager stoppte ein Verbot die KPD, die bei der ersten Bundestagswahl noch 5,7 Prozent der Stimmen geholt hatte; die SPD baute ihren Einfluss weiter aus:
"Die KPD wurde verboten und die SPD hat es geschafft, dass sie sich geöffnet hat, dass sie gesagt hat, wir sind nicht nur eine reine Arbeiterinnenpartei, sondern wir versuchen, das linke Spektrum abzudecken, von links Mitte, bis links Außen."
Die Mitte wuchs, die Ränder schrumpften. Mehr als zwei Jahrzehnte dominierte so ein Zweieinhalb-Parteiensystem. Aus CDU, SPD, FDP. Die Kleinstparteien spielten im parlamentarischen Betrieb keine Rolle mehr.
"Die meisten Kleinparteien lösen sich dann nicht auf, sondern verschwinden einfach in der Bedeutungslosigkeit, aber es gibt dann eben noch wenige Aktive, die dann weitermachen. Und die die Partei am Leben halten. Und dann schafft es die Partei, manchmal zu Wahlen anzutreten, wenn sie genug Unterschriften gesammelt hat, oder wenn sie in einer Hochphase ist, oder wenn ihr Thema gerade mal wieder da ist. Und sonst führt sie so ein Nischendasein."
"Die meisten Kleinparteien lösen sich dann nicht auf, sondern verschwinden einfach in der Bedeutungslosigkeit, aber es gibt dann eben noch wenige Aktive, die dann weitermachen. Und die die Partei am Leben halten. Und dann schafft es die Partei, manchmal zu Wahlen anzutreten, wenn sie genug Unterschriften gesammelt hat, oder wenn sie in einer Hochphase ist, oder wenn ihr Thema gerade mal wieder da ist. Und sonst führt sie so ein Nischendasein."
Außer wenn das Timing stimmt. Die gesellschaftliche Grundstimmung wechselt, Werte und Orientierung sich verändern. 68er-Proteste, Friedens-, Ökologiebewegung. In den 80ern begannen die Grünen als Kleinpartei. Sie holten bei der Bundestagswahl 1980 gerade Mal 1,5 Prozent der Zweitstimmen. Drei Jahre später waren es schon 5,6.
"Sie sind relativ schnell größer geworden, weil sie aus mehreren gesellschaftlichen Bewegungen, also Frauenbewegung, Umweltbewegung, Friedensbewegung, sehr, sehr viele Menschen aber eben auch Erfahrung, Organisation mitbrachten."
30 Jahre bis zum nächsten Erfolg einer Kleinstpartei
Vergeblich blieben dagegen über Jahre die Versuche von Rechtsaußen in den Bundestag einzuziehen. Ob NPD, DVU oder Republikaner– sie alle scheiterten. Erst 30 Jahre nach den Grünen startete die nächste Kleinstpartei durch: die AfD.
"Die AfD war am Anfang ja auch eine von mehreren Kleinstparteien, die sich vor allem um die Euro-Rettung gekümmert haben. Und da hatte die AfD eine sehr günstige Konstellation. Die FDP war in der Regierung und hat Positionen in der Regierung vertreten müssen, die selbst einem Teil der FDP-Mitglieder nicht gefallen hat."
Die AfD nutzte die Lücke, Parteigründer Bernd Lucke setzte während der Eurokrise auf das Image der Wirtschafts- und Professorenpartei. Und gewann damit Wählerstimmen aus dem liberal-konservativen Lager. 2013 verlor die FDP mehr als neun Prozent der Stimmen, die AfD holte aus dem Stand 4,7 Prozent. Am Ende scheiterten beide an der Fünf-Prozent-Hürde.
"Und dann kam diese sogenannte Flüchtlingskrise. Und ähnlich wie bei den Grünen gab es in diesem Koordinatensystem von Wertekonflikten einen freien Punkt: Nämlich die Union hatte sich in den Augen der Bevölkerung in die Mitte bewegt, im Wertekonflikt."
"Die AfD war am Anfang ja auch eine von mehreren Kleinstparteien, die sich vor allem um die Euro-Rettung gekümmert haben. Und da hatte die AfD eine sehr günstige Konstellation. Die FDP war in der Regierung und hat Positionen in der Regierung vertreten müssen, die selbst einem Teil der FDP-Mitglieder nicht gefallen hat."
Die AfD nutzte die Lücke, Parteigründer Bernd Lucke setzte während der Eurokrise auf das Image der Wirtschafts- und Professorenpartei. Und gewann damit Wählerstimmen aus dem liberal-konservativen Lager. 2013 verlor die FDP mehr als neun Prozent der Stimmen, die AfD holte aus dem Stand 4,7 Prozent. Am Ende scheiterten beide an der Fünf-Prozent-Hürde.
"Und dann kam diese sogenannte Flüchtlingskrise. Und ähnlich wie bei den Grünen gab es in diesem Koordinatensystem von Wertekonflikten einen freien Punkt: Nämlich die Union hatte sich in den Augen der Bevölkerung in die Mitte bewegt, im Wertekonflikt."
Eine unbesetzte Position, Rechtsaußen, im konservativen Lager. Der Freiraum für die AfD. Den sie mit rechtspopulistischen und zum Teil rechtsextremen Parolen bis heute besetzt. 2017 wurde sie so mit 12,6 Prozent zur drittstärksten Partei im Bundestag. Mit der AfD im Bundestag wuchs die Parteienzahl auf sieben. Die Regierungsarithmetik wurde komplizierter. Und ein Trend wurde immer deutlicher: Die großen Parteien schrumpfen, die Summe der Kleinen wird stärker. Eine normale Entwicklung, analysiert Carsten Koschmieder.
"So wie in allen westlichen Ländern gibt es eine stärkere Ausdifferenzierung der Gesellschaft, gesellschaftliche Großgruppen gibt es weniger, spielen weniger eine Rolle. Es gibt nicht mehr die Arbeiterklasse, die Leute gehen nicht mehr alle in die Kirche, die Gewerkschaften verlieren usw."
Vielfalt der Kleinstparteien ist ein Spiegelbild der Interessen
Und das spiegelt sich auch außerhalb des Parlaments. Ein Blick in die Wahllisten für die Bundestagswahl zeigt die Vielfalt der Interessenslagen. Neben den Parteien, die im Parlament sitzen, wurden noch 44 andere Vereinigungen zur Wahl zugelassen.
"Partei für Kinder, Jugend und Familie habe ich noch nie gehört."/ "Du?" / "Eine Hip-Hop-Partei."
Die Liste des Bundeswahlleiters beginnt mit der Vereinigung "Menschliche Welt – für das Wohl und Glücklichsein aller" und endet mit "Wir 2020".
"Selbst sehr, sehr kleine Kleinstparteien, sind nicht einfach nur überflüssig oder einfach lustig, sondern sie erfüllen im politischen System der Bundesrepublik auch wichtige Funktionen, sie bilden Menschen in Politik aus, also Leute, die dahingehen, die am Stand sich mit denen unterhalten, erfahren etwas über Politik, etwas über politische Probleme."
"Partei für Kinder, Jugend und Familie habe ich noch nie gehört."/ "Du?" / "Eine Hip-Hop-Partei."
Die Liste des Bundeswahlleiters beginnt mit der Vereinigung "Menschliche Welt – für das Wohl und Glücklichsein aller" und endet mit "Wir 2020".
"Selbst sehr, sehr kleine Kleinstparteien, sind nicht einfach nur überflüssig oder einfach lustig, sondern sie erfüllen im politischen System der Bundesrepublik auch wichtige Funktionen, sie bilden Menschen in Politik aus, also Leute, die dahingehen, die am Stand sich mit denen unterhalten, erfahren etwas über Politik, etwas über politische Probleme."
Politik von unten
Corona-Leugner werben ebenso um Stimmen, wie Tierschutzfreunde, Rechtsextreme wie Europafans. Ein Potpourri von Programmen. Und Personen. Auf der Suche nach Unterstützern. Politik von unten.
"Es ist auf jeden Fall gut, dass es noch andere Organisationen gibt, die politische Stimmung in ihrem kleinen Segment der Gesellschaft abbilden und die dann entweder nach oben tragen, indem sie erfolgreicher werden. Und dann diese Gruppe vertreten, die sich vorher nicht vertreten fühlte. Oder eben, indem sie signalisieren, ey, ihr große Partei, ihr müsst euch da mehr drum kümmern. Dann ist die Kleinstpartei irgendwann wieder weg oder unbedeutender, aber eben die Funktion ist erfüllt."
Oder sie macht einfach immer weiter. So wie die Bayernpartei. Die dienstälteste bundesdeutsche Kleinstpartei. Opposition aus Tradition: Sie saß immerhin im ersten Deutschen Bundestag. Und tritt auch 2021 wieder an.
"Es ist auf jeden Fall gut, dass es noch andere Organisationen gibt, die politische Stimmung in ihrem kleinen Segment der Gesellschaft abbilden und die dann entweder nach oben tragen, indem sie erfolgreicher werden. Und dann diese Gruppe vertreten, die sich vorher nicht vertreten fühlte. Oder eben, indem sie signalisieren, ey, ihr große Partei, ihr müsst euch da mehr drum kümmern. Dann ist die Kleinstpartei irgendwann wieder weg oder unbedeutender, aber eben die Funktion ist erfüllt."
Oder sie macht einfach immer weiter. So wie die Bayernpartei. Die dienstälteste bundesdeutsche Kleinstpartei. Opposition aus Tradition: Sie saß immerhin im ersten Deutschen Bundestag. Und tritt auch 2021 wieder an.