Der HSV ist noch lange nicht gerettet
Ein Tor des Stürmers Pierre-Michel Lasogga im Relegationsspiel gegen Greuther Fürth hat dem HSV am Sonntagabend den Klassenerhalt in der Bundesliga gesichert. Doch damit kehrt bei dem Fußball-Club noch lange keine Ruhe ein. Die Finanzlage ist kritisch und die Führungsriege ist heillos zerstritten.
Die Illusion ist perfekt: Wie immer strömen die HSV-Fans in die Imtech-Arena, das alte Volksparkstadion, wie immer stehen sie dicht an dicht in der Nordkurve, machen Stimmung. In den weißen Trikots ihrer Lieblingsspieler, mit schwarz-weiß-blauen Fan-Schals. Nur das frischgrüne Spielfeld ist leer. Ihre Helden spielen auswärts, gegen Greuther Fürth. 600 Kilometer entfernt und doch ganz nah: eine Großbildleinwand ist aufgebaut, überträgt die Spielzüge von Kapitän Rafael van der Vaart und seiner Mannschaft.
"Niemals 2. Liga!" skandieren die 18.000 Fans vor dem leeren Rasen. So laut und inbrünstig, als wollten sie ihre Angst vor dem Abstieg in genau diese Liga vertreiben. Denn selten war der Abstieg so nah, selten hat der HSV in den letzten 30 Jahren schlechter gespielt. - Jürgen Petermann steht im kleinen Fanartikelshop gleich hinter den Rängen, verkauft Mützen und Schals, Trikots und Tassen. Sorgenfalten unter dem Schirm seines blauen Käppis, gibt er - sehr bescheiden - seinen Tipp ab:
"Ich hoffe zumindest auf ein 1:1. Damit sie nicht absteigen. Das hoffe ich …"
Ein 1:1 wäre das Minimalziel. Weil Auswärtstore doppelt zählen, wäre Hamburg auch bei diesem Unentschieden gerettet. Aber so ganz sicher ist sich Petermann nicht, dass sein HSV gegen den Zweitligisten dieses Ziel erreicht:
"So wie die die ganze Saison spielen, ist das ja kein Wunder, dass man nicht unbedingt der Meinung ist, dass die das reißen. Weil im Hinspiel war auch nichts, das war ja wirklich wenig, was die da gezeigt haben."
Der HSV spielt einigermaßen angstfreien, offensiven Fußball
Petermann streicht sich über seinen breiten Schnauzer, behält mit einem Auge die Großbildleinwand im Blick. Der HSV macht Druck, hat erste Chancen, spielt einigermaßen angstfreien, offensiven Fußball. Sechsmal war der Verein Deutscher Meister, zuletzt allerdings 1983. Petermann liefert seine Analyse des Niedergangs:
"Das fängt ganz, ganz oben an! Der ganze Verein – von oben bis unten – da ist irgendwas nicht in Ordnung. Und vielleicht ist das mal ganz von Vorteil, mal abzusteigen. Muss man sehen. Wenn, dann muss man mal einen radikalen Schnitt machen nach der Saison und denn muss man wirklich mal Köpfe … - also: Der HSV braucht einen, der Ahnung vom Fußball hat, einen, der Ahnung von den Finanzen hat. Wie das bei vielen anderen Vereinen auch so ist. Und denn wird das auch klappen.
Petermann ist wieder ganz beim Spiel, genau wie seine Kundschaft auf den Rängen. Die 14. Minute läuft. Kapitän van der Vaart läuft an der Eckfahne an, tritt den Ball hoch in den Fünfmeter-Raum, der bullige HSV-Stürmer Pierre-Michel Lasogga köpft ihn ins linke obere Eck.
Der HSV führt. Der Abstieg ist abgewendet – wenn die Fürther nicht noch zwei Tore schießen. – Einigermaßen entspannt gehen die Fans in die Halbzeitpause, stehen Schlange für Bratwurst und Bier.
Große Hoffnungen setzen viele Fans in die Umbaupläne für den Verein: Schon am kommenden Sonntag sollen die 70.000 Vereinsmitglieder über das so genannte "HSVplus"-Programm entscheiden. Das Geschäft mit den Profispielern soll ausgelagert werden, der Aufsichtsrat verkleinert werden, neue "strategische Partner" sollen für solide Finanzen sorgen.
Die Finanzspritzen eines Milliardärs sicherten das Überleben
100 Millionen Euro hat der HSV schon heute an Verbindlichkeiten. Nur die Finanzspritzen des Hamburger Milliardärs und HSV-Fans Klaus-Michael Kühne konnten dem Verein in den letzten Jahren das Überleben und die Bundesliga-Lizenz sichern. Der Abstieg wäre eine finanzielle Katastrophe. Die Führungsriege ist heillos zerstritten, die einen sind für, die anderen gegen den Umbau der Vereinsstrukturen. Neun Trainer hat der HSV in den letzten fünf Jahren verschlissen, Sportchef Oliver Kreuzer und Vorstandschef Carl Jarchow müssen um ihre Posten fürchten. Die zweite Halbzeit beginnt. – Unten auf den Rängen machen sich die Fans wieder Mut.
Große Torchancen gibt es nicht. Bis zur 59. Minute: Ein kurzer Pass erreicht Stephan Fürstner vor dem Hamburger Tor. Die Fürther gleichen aus, es steht 1:1.
Die Anspannung ist zurück im Fanblock der Hamburger. Die einen drehen sich weg von der Großbildleinwand, andere starren umso gebannter auf die Bilder aus dem fernen Fürther Stadion. Jürgen Petermann hält es in seinem Fanartikelshop nicht mehr aus, überlässt das Geschäft seiner Kollegin, geht nach vorn, um die Leinwand besser im Blick zu haben:
"Ja, die Angst überwiegt momentan. Weil, das, was die zuletzt wieder spielen, das ist doch … Naja. Noch ist nichts sicher. Die Angst ist bei den Spielern wieder da, da kommen keine Pässe richtig an. Naja. Aber bisher reicht's."
Mit der rechten Hand knetet Petermann seinen Nacken. Beobachtet, wie die Fürther nun eine Torchance nach der anderen haben, wie der HSV-Elf die Puste ausgeht. Drei Minuten wird nachgespielt, es bleibt beim 1:1. Und der Schlusspfiff des Schiedsrichters wird gefeiert, als hätte der HSV die Meisterschaft gewonnen, den DFB-Pokal geholt.
Die Fans tanzen auf den Rängen, liegen sich den Armen. Einer steht wie betäubt da, rührt sich nicht, Tränen in den Augen. Und Jürgen Petermann grinst breit, ballt die Faust:
"Ja, hab ich doch gesagt! 1:1. Erleichtert! Ist ganz wichtig für die Fans, die alles gegeben haben! Sonst wäre für die die Welt untergegangen, glaube ich. Für viele. Und deswegen: alles gut!"
Glück gehabt hat er, der HSV, gibt Petermann zu. Und winkt ab. - Hauptsache 1. Liga.