Geheimdienstwissen als politische Ressource
Weshalb scheint der Bundesnachrichtendienst zumindest teilweise der Kontrolle der Regierung und der zuständigen Gremien entglitten zu sein? Ein Blick in die Geschichte des BND und auf seinen Vorgänger: die Organisation Gehlen.
Dieter Kassel: Wenn man sich fragt, weshalb der Bundesnachrichtendienst so eng mit amerikanischen Diensten zusammenarbeitet, wie er es offenbar tut, weshalb er der Kontrolle der deutschen Regierung und der zuständigen Gremien zumindest teilweise entglitten zu sein scheint, dann lohnt es sich, einen Blick in die Geschichte des BND zu werfen und auch einen Blick in die Geschichte seines Vorgängers, der Organisation Gehlen. Und genau das wollen wir jetzt tun mit dem Historiker Klaus-Dietmar Henke, der auf dem 50. Historikertag, der gerade in Göttingen stattfindet, einen Vortrag gehalten hat zum Thema BND als Werkzeug der Kanzlerdemokratie. Schönen guten Morgen, Professor Henke!
Klaus-Dietmar Henke: Guten Morgen!
Kassel: Die Organisation Gehlen wurde im Sommer 1946 von US-amerikanischen Besatzungsbehörden in der amerikanischen Zone, der damaligen, eingerichtet. War sie denn überhaupt von Anfang an ein deutscher Geheimdienst?
Henke: Nein, die Organisation Gehlen war eine amerikanische Spionage-Organisation mit deutschem Personal. Das waren meist höhere Wehrmachtsoffiziere um Gehlen, der ja selbst an der Planung des Krieges gegen die Sowjetunion beteiligt war und der dann bis kurz vor Kriegsende für die Militäraufklärung an der Ostfront verantwortlich gewesen ist. Und diese Leute, diese kleine Gruppe waren kluge Opportunisten.
Sie haben kurz vor Kriegsende ihre Akten genommen, vergraben und haben sich dann sofort bei den Amerikanern gemeldet. Und die waren natürlich begeistert, haben sie eingestellt und konnten dann schon 1946 mit der Militäraufklärung beginnen, und zwar gegen die Rote Armee in der Sowjetischen Besatzungszone. Und das war damals ein nützliches Geschäft.
Die Organisation Gehlen betrieb innenpolitische Aufklärung
Kassel: Der – wenn ich bei Ihrer Wortwahl bleiben darf – so gesehen oberste intelligente Opportunist Reinhard Gehlen hat Zeit seines Lebens darauf beharrt, sein Auslandsgeheimdienst habe nie innenpolitische Aufklärung betrieben. Sie, Herr Henke, konnten ja Akten des BND und der Organisation Gehlen einsehen. Lässt sich diese Behauptung belegen, kann man an der festhalten?
Henke: Nein, das ist ganz falsch. Gehlen hat das Zeit seines Lebens geleugnet, aber Gehlen hatte Zeit seines Lebens auch immer ein sehr gespanntes Verhältnis zur Wahrheit. Man darf öffentliche Äußerungen von Reinhard Gehlen nicht unbesehen glauben und seine berühmten Memoiren sind ein reines Märchenbuch geworden. Es gab immer wieder Gerüchte in den 50er-Jahren, in den 60er-Jahren, aber man konnte es bis zum Ausscheiden Gehlens nie hieb- und stichfest beweisen. 1974, im Guillaume-Ausschuss, kam er dann in eine Bredouille, aber richtig aufgeklärt werden konnte das niemals.
Das geht erst heute durch die Akteneinsicht. Und da stellen wir fest, dass der mächtige Chef des Kanzleramts – Hans Globke war das damals – Gehlen bereits '51 gebeten hat, sich besonders um die innenpolitische Lage zu kümmern. Und was heißt das? Innenpolitische Aufklärung, das betraf Personen, Parteien, Zeitungen, die allzu kritisch gegenüber dem Kurs des Kanzlers waren, Sozialdemokraten, Teile der FDP und so weiter ...
Und das waren damals Informationen, die für die Adenauer-CDU und für das Kanzleramt natürlich nützlich waren. Und wenn man sagt, was bedeutet das, das ist ja die Frage für die frühe Bundesrepublik-Geschichte, das ist noch nicht so ganz klar. Aber ich persönlich glaube, dass diese Informationen doch die politische Trittsicherheit, die phänomenale Trittsicherheit Adenauers doch ein bisschen erhöht haben können.
Alles ging auch an die Amerikaner
Kassel: Aber sind denn diese inneren Informationen, die die Organisation Gehlen damals gewonnen hat, nur an die Regierung weitergegeben worden, oder auch an amerikanische Behörden?
Henke: Das ist noch nicht ganz klar, was zu den Amerikanern abgeflossen ist. Aber man kann ziemlich sicher sein, dass das alles auch an die Amerikaner ging, weil man sich ja klarmachen muss, dass alle deutschen Dienste in den ersten zehn bis 15 Jahren massiv durchsetzt waren von der CIA, und das war auch richtig so. Weil die Amerikaner ja mit einem Land zusammenarbeiten mussten, das bis vor Kurzem höchst aggressiv und gefährlich war. Das wäre geradezu leichtsinnig gewesen, diese Dienste nicht unter Kontrolle zu halten. Also, man kann damit rechnen, dass viel davon auch zu den Amerikanern gegangen ist, ja.
Kassel: Wie viel hing damals auch an der Person Reinhard Gehlen? Fühlte er sich vielleicht den Amerikanern verpflichtet?
Henke: Ja, sicherlich. Gehlen war ein Dreh- und Angelpunkt und Gehlen war ja ein schwieriger Chef und die Amerikaner wollten ihn ja dann auch zeitweise unbedingt loswerden, weil er sich nicht um seinen Dienst kümmerte, immer in Bonn war und so weiter. Aber das Fazit der Amerikaner war dann, wir haben jetzt diese Organisation, das wird einmal der BND werden, nämlich 1956, und dann kennen wir diese Leute. Wenn wir den jetzt rauswerfen, dann fangen die neu an und dann müssen wir uns erst dort wieder einarbeiten, also behalten wir ihn lieber. Das war das Fazit in Washington.
Personelle Kontinuität von der Wehrmacht zum Vorgänger des BND
Kassel: Wir haben die klugen Opportunisten erwähnt, die in der Organisation Gehlen dann gearbeitet haben, Sie haben auch Globke erwähnt im Kanzleramt. Gab es denn eine personelle Kontinuität von der Wehrmacht über die Organisation Gehlen bis zum BND? Gab und gibt es da Linien, vielleicht sogar geistig-ideologische?
Henke: Ja, also, man kann schon sagen, dass die personelle Wehrmachtskontinuität zur Organisation Gehlen ungebrochen gewesen ist. Hinzukamen allerdings Leute der früheren Abwehr, also der NS-Auslandsspionage, und mehrere Dutzend, über hundert – das zählen wir gerade genau aus und schauen, wer das ist –, über hundert Männer aus SS und Gestapo. Und darunter wirkliche Schwerverbrecher.
Aber was auch ein Ergebnis unserer Forschungen sein wird, ist, dass diese schwer belasteten NS-Leute nur ganz selten in Spitzenpositionen gelangen konnten. Und von einer, ja, wie Sie fragen, ideologischen Kontinuität, also der NS-Einstellung - ich glaube, davon kann man in dieser Weise nicht sprechen. Wir haben den Eindruck, das Klima im frühen BND war eher militärisch, es war autoritär, es war stockkonservativ und, nolens volens, aber doch immer mehr auch offen für die Werte des Westens, die eben von den USA repräsentiert worden sind.
Die Spitze des BND heute ist ganz anders sozialisiert
Kassel: Womit wir, wie ich finde, bei der Gegenwart angekommen sind. Wenn heute, Herr Henke, der BND – das wird ihm ja vorgeworfen, es gibt Indizien – auch wieder Auslands- und Inlandsaufklärung durcheinanderbringt und wenn er den Amerikanern sich vielleicht auch weiterhin verpflichtet fühlt, kann man das mit seiner Geschichte erklären?
Henke: Die Geschichte kann viel erklären, vor allem, dass die Geschichte komplex ist. Aber die Geschichte kann kaum Rat geben für die Gegenwart. Und es war eine vollkommen andere Zeit damals, die Organisation Gehlen, früher BND, als jetzt. Ich glaube nicht, dass wir diese Kontinuität sehen können. Natürlich ist die Zusammenarbeit eng. Aber diese speziellen Methoden der innenpolitischen Ausspähung, das ist etwas, was typisch Gehlen ist und was typisch Frühzeit Bundesrepublik ist.
Sie müssen ja auch sehen, dass damals die Methoden im Vergleich zu heute steinzeitlich waren, und die Leute, die heute an der Spitze des BND sind, das sind ganz andere. Die haben eine andere Sozialisation, eine andere Einstellung. Aber es gibt in allen Geheimdiensten natürlich Mechanismen, immer mehr wissen zu wollen, immer mehr wissen zu müssen. Und das führt zu einer Ausweitung der Neugier. Es ist aber unmöglich, alles zu wissen. Und diesen Trend zu stoppen, das ist sehr schwer und das ist für die Politik auch heute fast unmöglich, wie wir auch am amerikanischen Beispiel sehen können.
Kassel: Der Historiker Klaus-Dietmar Henke über die Geschichte des BND und seines Vorgängers, der Organisation Gehlen, und, wie wir gerade gehört haben, den unstillbaren Drang, immer mehr zu wissen, den wir ja auch haben als Journalisten, Herr Henke! Deshalb danke ich Ihnen sehr für das Gespräch!
Henke: Gerne!
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