Ikone der russischen Menschenrechts-Szene
Für ihr Menschenrechts-Engagement in der Sowjetunion musste Ludmila Alexejewa ins Exil. Seit 1993 lebt und arbeitet sie wieder in Moskau. Dass nun der Bundespräsident sie empfängt, bedeutet der 88-Jährigen viel. Denn Menschenrechtler haben wieder einen schweren Stand in Russland.
Ljudmila Alexejewa wirkt zerbrechlich. Die zierliche kleine Frau versinkt fast in dem Sofa in ihrer Moskauer Altbauwohnung. Mit 88 Jahren mischt sie sich immer noch aktiv in die Politik ein, mitunter subversiv. Als Russland vor vier Jahren das Versammlungsrecht einschränkte und Demonstrationen der Opposition nahezu unmöglich machte, lud sie kurzerhand 200 Oppositionelle zu ihrem 85. Geburtstag in ein Café ein. Fertig war die Versammlung. Trotz aller Kritik an den Entwicklungen in Russland, an den restriktiven Gesetzen, dem Druck auf die Zivilgesellschaft, den politischen Prozessen gegen Andersdenkende, bleibt Ljudmila Alexejewa doch immer optimistisch.
"Vielleicht, weil ich auch schon den ungebremsten Terror gegen die Gesellschaft unter Stalin erlebt habe. Ich war 25, als Stalin starb. Ich erinnere mich gut an die Zeit davor. Wenn mir damals oder auch noch später in der Sowjetunion jemand gesagt hätte, dass mich eine deutsche Radioreporterin interviewt, und dass ich deshalb nicht nur nicht verhaftet werde, sondern dass mir gar nichts droht... Hören Sie, wer sein ganzes Leben im Wohlstand in einem anderen Land verbracht hat, weiß das vielleicht nicht zu schätzen, aber mir zeigt es, dass unser Land einen riesigen Weg in die richtige Richtung zurückgelegt hat."
Alexejewa wuchs in Moskau auf, studierte Geschichte. Als die Sowjetunion 1975 gemeinsam mit vielen anderen Staaten die KSZE-Schlussakte von Helsinki unterzeichnete und sich darin verpflichtete, Menschenrechte zu achten, beschloss ein kleiner Kreis sowjetischer Dissidenten, zu kontrollieren, ob das Sowjetregime diese Verpflichtungen denn auch einhalten werde. Alexejewa war mit ihrer unerschöpflichen Energie der Motor dieser Moskauer Helsinki-Gruppe. Sie schmuggelten Dokumente über mehr als ein Dutzend Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch den Eisernen Vorhang in den Westen.
Menschenrechtler gelten auch heute in Russland als Volksfeinde
Dann flog die Gruppe auf. Alexejewa entging der Verhaftung, indem sie in die USA emigrierte. Dort führte sie die Menschenrechtsarbeit, so gut es ging, fort. Als sie 1993 nach Moskau zurückkehrte und bald darauf zur Vorsitzenden der neu gegründeten Moskauer Helsinki Gruppe gewählt wurde, erlebte Alexejewa in Russland die Hochzeit des demokratischen Wandels, baute ein Netzwerk Gleichgesinnter in ganz Russland auf. Sie erinnert sich, was ihr ein Menschenrechtler aus der russischen Provinz vor 20 Jahren erzählte. Er sagte:
"Eine alte Frau hat sich beschwert, dass sie zu wenige Rente bekommen hat. Ich gehe aufs Sozialamt, um mich darum zu kümmern. Und der Beamte fragt mich: Wer sind Sie? Der Bruder? Der Vater? Der Sohn? – Nein, ich bin ein Außenstehender, ich bin ein Menschenrechtler. – Wer? Ein Menschenrechtler? Hauen Sie bloß ab!"
Mittlerweile aber wisse man auch in den entferntesten Regionen Russlands, was ein Menschenrechtler ist, so Alexejewa.
"Einige respektieren uns, andere ärgern sich über uns. Aber alle kennen uns."
In Berlin von Bundespräsident Joachim Gauck empfangen zu werden, bedeutet Alexejewa viel – besonders in einer Zeit, in der Menschenrechtler in Moskau als Volksfeinde gebrandmarkt werden. Bei einem Festakt zum 40. Geburtstag der Moskauer Helsinki Gruppe in der deutschen Botschaft in Moskau sagte sie vor Kurzem sichtlich bewegt:
"Als wir in der Sowjetunion angefangen haben, waren wir eine Hand voll Menschenrechtler. Wie hat man uns zugesetzt. Und wo ist die Sowjetunion jetzt? Wir sind jetzt viele. In Europa versteht man uns. Wir werden zu Europa gehören, als Land, als Volk, als Staat. Ich glaube daran."