Reformen müssen ihren Namen verdienen
Rente mit 63 und der Mindestlohn: Es scheint, als ob die SPD tatsächlich Reformen anstößt. Doch der Junior-Regierungspartner erreicht nur Stückwerk – und darf sich nicht über die geringe Begeisterung der Wähler wundern, meint Stephan Hebel.
Ein schönes Wort ist wieder öfter zu hören: Reform. Der Begriff, lang ist es her, stand einst für den Versuch, die Lebensverhältnisse der Mehrheit zu verbessern, besonders der benachteiligten Schichten.
Seit der Zeitenwende von 1989 eroberte der Marktliberalismus die Sprache: Nun galt es plötzlich als Reform, wenn die Benachteiligten noch etwas mehr benachteiligt wurden, während die Reichen sich weiter bereicherten. Auf Dauer, hieß es, helfe das allen. Das war zwar nicht die Wahrheit, denn die Ungleichheit wuchs weiter. Aber der Ideologie tat die Wirklichkeit keinen Abbruch.
Nun also gibt es einen Mindestlohn für Geringverdiener und Verbesserungen für die zuletzt gebeutelten Rentner. Es sieht auf den ersten Blick so aus, als wollte die federführende SPD den Reformbegriff von den Neoliberalen zurückerobern.
Die SPD stagniert bei 25 Prozent
Aktive Sozialpolitik, das ist allen Umfragen zufolge populär, und dennoch: Es hagelt Kritik, und zwar von allen Seiten. Mindestlohn, Rente mit 63, mehr Leistungen für Mütter und bei der Erwerbsminderungsrente: Den einen ist das wie immer zu teuer, den anderen ist es zu wenig. Und der befragte Bürger zeigt sich keineswegs dankbar: Die SPD sitzt fest in der Ecke der 25-Prozent-Partei.
Kann man es also niemandem mehr recht machen, nicht mal mit gut gemeinter sozialer Reformpolitik?
Doch, man könnte, wenn das praktische Handeln dem Etikett "Reform" entspräche. Aber das tut es nicht. Die SPD erreicht, allem Getöse zum Trotz, nicht viel mehr als das, was Angela Merkel und ihre Union mit jedem anderen Partner auch hätten umsetzen können.
Die Mütterrente stammt ohnehin von CDU und CSU, die erschreckend geringen Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente hätte man selbst der FDP wohl abringen können, der Mindestlohn ist auch von der SPD durch Ausnahmen und Übergangsfristen abgewertet. Nur die begrenzte Anzahl derjenigen, die nach 45 Jahren Maloche mit 63 aufhören dürfen, wird sich speziell bei der SPD bedanken.
Die Sozialdemokratie präsentiert sich in Wahrheit als eine Art Betriebsrat des Unternehmens Regierung, und dafür sind 25 Prozent auf jeden Fall genug. Die Mehrheit entscheidet sich lieber für die Marke Merkel. Es ist die Kanzlerin, die davon profitiert, dass ihre im Kern noch immer neoliberale Politik mit ein paar sozialen Projekten geschmückt wird.
Reformen müssen einer Reformpartei nicht schaden
Diejenigen aber, die sich von der SPD einmal echte Alternativen versprachen, sind mit Recht enttäuscht. Es entgeht ihnen nicht, dass es sich nur um punktuelle Reparaturen handelt.
Denn viele werden sich erinnern: Es waren die Sozialdemokraten selbst, die immer wieder einen Umbau der Sozialsysteme zur gerecht und nachhaltig finanzierten Bürgerversicherung versprachen. Es waren die Sozialdemokraten, die eine gerechtere Steuerpolitik forderten, um wirkliche Reformen finanzieren zu können. Und es waren die Sozialdemokraten, die auf dem Weg in die große Koalition fast all diese Ideen über den Haufen warfen.
Das Argument, die SPD habe für all die Reformversprechen schließlich auch ein schlechtes Ergebnis eingefahren, trügt: Der Grund hierfür liegt, so darf vermutet werden, gar nicht im Reformprogramm, sondern darin, dass es nicht mit einer rot-rot-grünen Mehrheitsperspektive versehen war. Und die kollektive Erinnerung an all dies ist intakt genug, um als Stückwerk zu erkennen, was uns Andrea Nahles und Sigmar Gabriel jetzt als Reformpolitik verkaufen.
Nein, Reformen müssen einer Reformpartei nicht schaden. Sie müssen nur den Namen verdienen.
Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion. Seit 2011 ist er als politischer Autor tätig. Zum Bundestagswahlkampf 2013 schrieb er das Buch: "Mutter Blamage. Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht" (Westend Verlag).