"Bundesrepublik hat Millionen Briefe konfisziert"
In der Bundesrepublik seien von 1950 bis 1968 bis zu 300 Millionen Postsendungen aus Osteuropa konfisziert und zum Teil vernichtet worden, sagte der Freiburger Historiker Prof. Dr. Josef Foschepoth. Die illegale Postzensur habe dem Schutz vor östlicher Propaganda gedient.
Ulrike Timm: Eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Der erste Leser eines Briefes, der an einen gerichtet ist, das ist man selbst. Seit 60 Jahren ist das im Grundgesetz verankert: Artikel 10, das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. So weit, so klar, aber eben doch nicht verbindlich. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik bis in die 1960er hinein erreichten nämlich Millionen Postsendungen ihre Empfänger nicht – vor allem solche aus der DDR und Osteuropa. Darauf ist der Freiburger Historiker Professor Dr. Josef Foschepoth gestoßen in einer ziemlich bestürzenden Recherche – und von Art, Ausmaß und Gründen dieser Zensur erzählt er uns jetzt. Schönen guten Tag!
Josef Foschepoth: Guten Tag!
Timm: Was war denn das für Post, die den Empfänger nicht erreichte?
Foschepoth: Nun, das war einfach ganz normale Post, in der Regel die, die in der DDR auf die Post gebracht worden ist, die aber oftmals natürlich gespickt war auch mit Propagandamaterialien. Und als man darauf gekommen ist, hat man dann eine doch immer weiter sich vertiefende, systematische Postzensur eingeführt. Wir müssen bei dieser Postzensur zweierlei unterscheiden: Auf der einen Seite waren die Alliierten, die eine solche Zensur ausüben durften aufgrund höheren Rechts – es galt ja noch das Besatzungsrecht in Deutschland bis 1955 –, und zum anderen natürlich haben sich auch die Deutschen daran beteiligt, sie waren teilweise Hilfskräfte, oder auch die Ämter der Alliierten waren ja bis zu 80, 90 Prozent durch deutsche Mitarbeiter besetzt. Beide hatten das gemeinsame Ziel, Sendungen zu überwachen, die aus Osteuropa und natürlich aus der, wie es damals hieß, sowjetisch besetzten Zone kamen.
Timm: Wie umfangreich war denn diese Zensur, in welchem Ausmaß wurde zensiert?
Foschepoth: Also das ist in der Tat ein wenig bestürzend. Die Zahlen, die ich nachweisen kann, also die exakt auch in den Quellen zu finden sind, besagen Folgendes: In der Zeit von 1955 bis 1968 wurden alleine von deutschen Stellen 100 Millionen Postsendungen, aus der DDR überwiegend und geringer auch aus anderen osteuropäischen Staaten, zensiert, angehalten, teilweise vernichtet und haben nie den Empfänger erreicht. Auf der anderen Seite gibt es dann noch die Zahlen, die ich durch Auswertung entsprechender Abrechnungen ermittelt habe, an die amerikanische Besatzungsmacht. Wenn Sie das alles mal hochrechnen und ganz ernsthaft dieses gemacht, ohne zu übertreiben, dann können Sie davon ausgehen, dass wir in der Zeit von 1950 bis 1968 in der Bundesrepublik Postsendungen konfisziert haben in der Größenordnung bis zu 300 Millionen Sendungen.
Timm: Und was geschah mit diesen Millionen Briefen, Schriftstücken, Päckchen, die ihren Empfängern vorenthalten wurden?
Foschepoth: Das war natürlich ein großer logistischer Aufwand. Das heißt also, das sah konkret so aus, dass in der Regel Beamte, Postbeamte kurz nach der Grenze, hinter der Zonengrenze die Züge bestiegen und dann schon vorsortierten. Dann wurden die in sogenannte zentrale Sammelstellen gebracht in Hamburg, Hannover, in Bebra und in Hof. Bis dahin hatte man alles schon vorsortiert, und dann wurde die Post, die einem verdächtig vorkam, an die entsprechenden Stellen weitergegeben. Das waren in der Regel Zollbeamte oder am Anfang erst sofort die Polizeibeamten, die es dann vor Ort vernichteten. Und später wurde das etwas geordneter gemacht und ging dann seinen Weg über den Staatsanwalt, der dann einen Beschlagnahmebeschluss des Richters herbeiführte. Und dann landete das meistens irgendwo in Vernichtungsräumen. Und ein Beispiel kann ich nennen aus Hannover: Dort war eine große Zentrale eingerichtet, eine sogenannte Postvernichtungszentrale, wo Strafgefangene dann im Gefängnis diese Post zu vernichten hatten.
Timm: Also letztlich war es Kalter Krieg mit dem Reißwolf. Gab es denn irgendwelche Kriterien, um zu unterscheiden, das ist staatsgefährdendes Material aus dem Osten und das ist der Brief von Tante Frieda aus Leipzig – hat man da differenziert?
Foschepoth: Nein, aber auch das ist ja im Postgesetz eigentlich nicht vorgesehen. Niemand hat das Recht auch zu prüfen, welche Postsendung und welchen Inhalt man in einer Postsendung verschickt. Normalerweise hätte auch nicht die Staatsanwaltschaft gegen solche, wie auch immer, tatsächlichen oder vermeintlichen Propagandasendungen vorgehen dürfen. Und dennoch hat man es getan.
Timm: Wer hat das eigentlich angeordnet und bestimmt, dass und in welcher Form Post aus der DDR insbesondere kontrolliert wurde?
Foschepoth: Gut, das war die Bundesregierung, das heißt, es wurde abgestimmt zwischen den verschiedenen Ministerien. Der Bundespostminister war sicherlich derjenige, der die größte Sorge noch hatte, weil er hat immer darum gekämpft, eine gesetzliche Grundlage zu bekommen. Beteiligt waren ferner das Bundesjustizministerium, vor allem das Innenministerium, die ja mit der Strafverfolgung beschäftigt war, und dann noch das Bundesfinanzministerium als zuständiges Ministerium für die Zollbeamten.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit dem Historiker Josef Foschepoth. Herr Foschepoth, das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzliche Beschränkungen, dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden. So steht es seit 60 Jahren im Grundgesetz, Sie sprachen es an. Eine Bestimmung, die Ausnahmen hätte begründen und regeln können, die gab es bis 1968 nicht. Hatte denn bei der Zensur, von der Sie uns berichten, niemand demokratische Bauchschmerzen, ein schlechtes Gewissen – das ist doch einfach klar grundgesetzwidrig?
Foschepoth: Ja, das ist gerade noch das Erstaunliche, dass man durchaus diese Schmerzen hatte und man versucht hat auch, diese Schmerzen ein wenig zu bearbeiten, indem man hergekommen ist und hat Verordnungen erlassen, hat bestimmte Paragrafen geändert und hat um das Grundgesetz herum gewissermaßen gesetzliche Regelungen geschaffen oder auch Rechtsgutachten im Bundesjustizministerium verfasst, die alle das Ziel hatten, sagen wir mal, den Schaden ein bisschen zu begrenzen, vor allem dann, wenn der Beamte vor Ort – oder möglicherweise auch Beamte im Ministerium – eines Tages mal belangt werden würden.
Timm: Aber alle demokratischen Bemühungen schlug die große Angst vor dem wilden Osten?
Foschepoth: Ja, und zwar deshalb, die Chance wäre ja da gewesen, man hätte ja ein solches Gesetz verabschieden können. Und da liegt der eigentliche Skandal, dass man durchaus schon 1955, das heißt also mit Verabschiedung des Deutschlandvertrages, der ja die Bundesrepublik in die Souveränität entließ, ein solches Gesetz hätte machen können. Nur, man wollte dieses eigentlich nicht bzw. befürchtete, dass der Bundestag und dass die Öffentlichkeit in große Unruhe kämen, wenn also jetzt zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine solche Postzensur gesetzlich geregelt würde, denn die hätte dann auch zur Voraussetzung gehabt, dass man gewissermaßen den Alliierten einen entsprechenden Eingriff in das Post- und Fernmeldegeheimnis per Gesetz erlaubt hätte. Darauf hatten die nämlich bestanden.
Timm: Gehen wir mal einen Moment weg von der juristischen Ebene noch mal auf die lebenspraktische Ebene: Das muss doch aufgefallen sein, wenn Post nicht ankommt – gab es denn keine Proteste, dass jemand gesagt hat, ich hab meinen Brief nicht bekommen, ich hab mein Buch nicht gekriegt, wo ist das?
Foschepoth: Sehr richtig, es gibt eine ganze Reihe von Protesten auch natürlich in den Akten, aber es ist einfach immer individuell gewesen, es ist nicht so eine breite gesellschaftliche Bewegung gewesen. Das lag auch daran, dass man in den 50er-Jahren wohl den Staatsschutz höher einschätzte als die Grundrechte. Wir waren ja noch in ziemlicher Nähe auch zum Nationalsozialismus, das war ja gar nicht so lange vorbei, und ein starker Staat war der absolut höhere Wert als die Sicherung der Grundrechte. Und diese Einstellung hatte sich durchaus aufgrund dieser Konfrontation mit dem Osten auch in der Bevölkerung verbreitet, sodass man nur bei einigen wenigen Menschen zunächst einmal Kritik und teilweise auch massiven Widerstand feststellen konnte – auch bei Richtern übrigens, die nicht mehr bereit waren, sich hier als Vollzugsorgane der Polizei zur Verfügung zu stellen. Das hat es alles gegeben, hat aber letztendlich nicht zu einer grundlegenden Änderung geführt, bis, sagen wir, 1963, wo es dann den ersten großen Skandal gab – Skandale sind ja immer wichtig in einer Demokratie, die bringen etwas ans Licht –, der sogenannte Abhörskandal, wo bekannt wurde, dass der Verfassungsschutz nicht nur gewissermaßen über viele ehemalige Mitarbeiter der SS und SA verfügte, sondern auch seit Jahren sich an einer Postzensur beteiligt hatte, zu der er laut Grundgesetz nicht berechtigt war.
Timm: Herr Foschepoth, die Bundesrepublik wusste ja um die Zensur in der DDR und auch um die Methoden, und sie hat immer alles dafür getan, um sich davon möglichst wohltuend abzuheben. Hat sich denn niemand gefragt, warum Westdeutschland in diesem Punkt – Post aus Osteuropa – offenbar ganz ähnlich handelte?
Foschepoth: Ich hab mir diese Frage natürlich auch gestellt, und sie trifft natürlich einen Kern des Problems bei einer vergleichenden Betrachtungsweise. Wenn wir das, was in der Bundesrepublik vorgegangen ist, beurteilen wollen, auch historisch korrekt, dann dürfen wir natürlich in diesem Falle nicht die DDR als Maßstab nehmen und sagen, die haben das ja auch gemacht, also warum, im Kalten Krieg durften wir das dann auch, sondern wir waren natürlich ein Rechtsstaat und haben es trotzdem gemacht. Und es war allerdings so häufig – das finden Sie dann auch in den Akten – die saloppe Formulierung: Wir müssen es machen wie die DDR, nur besser. Und natürlich wurde in der DDR Post zensiert, und zwar auch in großem Maße. Und hier in der Bundesrepublik, das war ja bislang nicht bekannt, ist es ja wirklich auch flächendeckend im Umkehrschluss gemacht worden mit der DDR-Post oder auch mit der Post aus Berlin in die Bundesrepublik rein. Also insofern, wir haben unsere Maßstäbe für die Bewertung der Vorgänge in der Bundesrepublik ja auf unsere gesetzlichen Grundlage zu beziehen, Grundgesetz und sonstige gesetzliche Regelungen, und können uns nicht in diesem Falle mit der DDR vergleichen. So der Eindruck, wie er jetzt gerade anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag immer wieder vermittelt wird, als sei das die geglückte und glückliche Republik und Demokratie gewesen – war sie von Anfang an eben nicht. Die Belastungen waren deutlich größer und es hat wirklich einige schmerzhafte Prozesse gegeben, und dazu gehört eben auch die Verletzung von Grundrechten.
Timm: Das Briefgeheimnis war sehr löchrig, zumindest wenn die Post aus Osteuropa kam, in den Jahren bis 1968. Eine Recherche von Professor Dr. Josef Foschepoth, Historiker an der Uni in Freiburg, die derzeit für viel Aufsehen sorgt. Herzlichen Dank fürs Gespräch!
Foschepoth: Gerne.
Josef Foschepoth: Guten Tag!
Timm: Was war denn das für Post, die den Empfänger nicht erreichte?
Foschepoth: Nun, das war einfach ganz normale Post, in der Regel die, die in der DDR auf die Post gebracht worden ist, die aber oftmals natürlich gespickt war auch mit Propagandamaterialien. Und als man darauf gekommen ist, hat man dann eine doch immer weiter sich vertiefende, systematische Postzensur eingeführt. Wir müssen bei dieser Postzensur zweierlei unterscheiden: Auf der einen Seite waren die Alliierten, die eine solche Zensur ausüben durften aufgrund höheren Rechts – es galt ja noch das Besatzungsrecht in Deutschland bis 1955 –, und zum anderen natürlich haben sich auch die Deutschen daran beteiligt, sie waren teilweise Hilfskräfte, oder auch die Ämter der Alliierten waren ja bis zu 80, 90 Prozent durch deutsche Mitarbeiter besetzt. Beide hatten das gemeinsame Ziel, Sendungen zu überwachen, die aus Osteuropa und natürlich aus der, wie es damals hieß, sowjetisch besetzten Zone kamen.
Timm: Wie umfangreich war denn diese Zensur, in welchem Ausmaß wurde zensiert?
Foschepoth: Also das ist in der Tat ein wenig bestürzend. Die Zahlen, die ich nachweisen kann, also die exakt auch in den Quellen zu finden sind, besagen Folgendes: In der Zeit von 1955 bis 1968 wurden alleine von deutschen Stellen 100 Millionen Postsendungen, aus der DDR überwiegend und geringer auch aus anderen osteuropäischen Staaten, zensiert, angehalten, teilweise vernichtet und haben nie den Empfänger erreicht. Auf der anderen Seite gibt es dann noch die Zahlen, die ich durch Auswertung entsprechender Abrechnungen ermittelt habe, an die amerikanische Besatzungsmacht. Wenn Sie das alles mal hochrechnen und ganz ernsthaft dieses gemacht, ohne zu übertreiben, dann können Sie davon ausgehen, dass wir in der Zeit von 1950 bis 1968 in der Bundesrepublik Postsendungen konfisziert haben in der Größenordnung bis zu 300 Millionen Sendungen.
Timm: Und was geschah mit diesen Millionen Briefen, Schriftstücken, Päckchen, die ihren Empfängern vorenthalten wurden?
Foschepoth: Das war natürlich ein großer logistischer Aufwand. Das heißt also, das sah konkret so aus, dass in der Regel Beamte, Postbeamte kurz nach der Grenze, hinter der Zonengrenze die Züge bestiegen und dann schon vorsortierten. Dann wurden die in sogenannte zentrale Sammelstellen gebracht in Hamburg, Hannover, in Bebra und in Hof. Bis dahin hatte man alles schon vorsortiert, und dann wurde die Post, die einem verdächtig vorkam, an die entsprechenden Stellen weitergegeben. Das waren in der Regel Zollbeamte oder am Anfang erst sofort die Polizeibeamten, die es dann vor Ort vernichteten. Und später wurde das etwas geordneter gemacht und ging dann seinen Weg über den Staatsanwalt, der dann einen Beschlagnahmebeschluss des Richters herbeiführte. Und dann landete das meistens irgendwo in Vernichtungsräumen. Und ein Beispiel kann ich nennen aus Hannover: Dort war eine große Zentrale eingerichtet, eine sogenannte Postvernichtungszentrale, wo Strafgefangene dann im Gefängnis diese Post zu vernichten hatten.
Timm: Also letztlich war es Kalter Krieg mit dem Reißwolf. Gab es denn irgendwelche Kriterien, um zu unterscheiden, das ist staatsgefährdendes Material aus dem Osten und das ist der Brief von Tante Frieda aus Leipzig – hat man da differenziert?
Foschepoth: Nein, aber auch das ist ja im Postgesetz eigentlich nicht vorgesehen. Niemand hat das Recht auch zu prüfen, welche Postsendung und welchen Inhalt man in einer Postsendung verschickt. Normalerweise hätte auch nicht die Staatsanwaltschaft gegen solche, wie auch immer, tatsächlichen oder vermeintlichen Propagandasendungen vorgehen dürfen. Und dennoch hat man es getan.
Timm: Wer hat das eigentlich angeordnet und bestimmt, dass und in welcher Form Post aus der DDR insbesondere kontrolliert wurde?
Foschepoth: Gut, das war die Bundesregierung, das heißt, es wurde abgestimmt zwischen den verschiedenen Ministerien. Der Bundespostminister war sicherlich derjenige, der die größte Sorge noch hatte, weil er hat immer darum gekämpft, eine gesetzliche Grundlage zu bekommen. Beteiligt waren ferner das Bundesjustizministerium, vor allem das Innenministerium, die ja mit der Strafverfolgung beschäftigt war, und dann noch das Bundesfinanzministerium als zuständiges Ministerium für die Zollbeamten.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit dem Historiker Josef Foschepoth. Herr Foschepoth, das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzliche Beschränkungen, dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden. So steht es seit 60 Jahren im Grundgesetz, Sie sprachen es an. Eine Bestimmung, die Ausnahmen hätte begründen und regeln können, die gab es bis 1968 nicht. Hatte denn bei der Zensur, von der Sie uns berichten, niemand demokratische Bauchschmerzen, ein schlechtes Gewissen – das ist doch einfach klar grundgesetzwidrig?
Foschepoth: Ja, das ist gerade noch das Erstaunliche, dass man durchaus diese Schmerzen hatte und man versucht hat auch, diese Schmerzen ein wenig zu bearbeiten, indem man hergekommen ist und hat Verordnungen erlassen, hat bestimmte Paragrafen geändert und hat um das Grundgesetz herum gewissermaßen gesetzliche Regelungen geschaffen oder auch Rechtsgutachten im Bundesjustizministerium verfasst, die alle das Ziel hatten, sagen wir mal, den Schaden ein bisschen zu begrenzen, vor allem dann, wenn der Beamte vor Ort – oder möglicherweise auch Beamte im Ministerium – eines Tages mal belangt werden würden.
Timm: Aber alle demokratischen Bemühungen schlug die große Angst vor dem wilden Osten?
Foschepoth: Ja, und zwar deshalb, die Chance wäre ja da gewesen, man hätte ja ein solches Gesetz verabschieden können. Und da liegt der eigentliche Skandal, dass man durchaus schon 1955, das heißt also mit Verabschiedung des Deutschlandvertrages, der ja die Bundesrepublik in die Souveränität entließ, ein solches Gesetz hätte machen können. Nur, man wollte dieses eigentlich nicht bzw. befürchtete, dass der Bundestag und dass die Öffentlichkeit in große Unruhe kämen, wenn also jetzt zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine solche Postzensur gesetzlich geregelt würde, denn die hätte dann auch zur Voraussetzung gehabt, dass man gewissermaßen den Alliierten einen entsprechenden Eingriff in das Post- und Fernmeldegeheimnis per Gesetz erlaubt hätte. Darauf hatten die nämlich bestanden.
Timm: Gehen wir mal einen Moment weg von der juristischen Ebene noch mal auf die lebenspraktische Ebene: Das muss doch aufgefallen sein, wenn Post nicht ankommt – gab es denn keine Proteste, dass jemand gesagt hat, ich hab meinen Brief nicht bekommen, ich hab mein Buch nicht gekriegt, wo ist das?
Foschepoth: Sehr richtig, es gibt eine ganze Reihe von Protesten auch natürlich in den Akten, aber es ist einfach immer individuell gewesen, es ist nicht so eine breite gesellschaftliche Bewegung gewesen. Das lag auch daran, dass man in den 50er-Jahren wohl den Staatsschutz höher einschätzte als die Grundrechte. Wir waren ja noch in ziemlicher Nähe auch zum Nationalsozialismus, das war ja gar nicht so lange vorbei, und ein starker Staat war der absolut höhere Wert als die Sicherung der Grundrechte. Und diese Einstellung hatte sich durchaus aufgrund dieser Konfrontation mit dem Osten auch in der Bevölkerung verbreitet, sodass man nur bei einigen wenigen Menschen zunächst einmal Kritik und teilweise auch massiven Widerstand feststellen konnte – auch bei Richtern übrigens, die nicht mehr bereit waren, sich hier als Vollzugsorgane der Polizei zur Verfügung zu stellen. Das hat es alles gegeben, hat aber letztendlich nicht zu einer grundlegenden Änderung geführt, bis, sagen wir, 1963, wo es dann den ersten großen Skandal gab – Skandale sind ja immer wichtig in einer Demokratie, die bringen etwas ans Licht –, der sogenannte Abhörskandal, wo bekannt wurde, dass der Verfassungsschutz nicht nur gewissermaßen über viele ehemalige Mitarbeiter der SS und SA verfügte, sondern auch seit Jahren sich an einer Postzensur beteiligt hatte, zu der er laut Grundgesetz nicht berechtigt war.
Timm: Herr Foschepoth, die Bundesrepublik wusste ja um die Zensur in der DDR und auch um die Methoden, und sie hat immer alles dafür getan, um sich davon möglichst wohltuend abzuheben. Hat sich denn niemand gefragt, warum Westdeutschland in diesem Punkt – Post aus Osteuropa – offenbar ganz ähnlich handelte?
Foschepoth: Ich hab mir diese Frage natürlich auch gestellt, und sie trifft natürlich einen Kern des Problems bei einer vergleichenden Betrachtungsweise. Wenn wir das, was in der Bundesrepublik vorgegangen ist, beurteilen wollen, auch historisch korrekt, dann dürfen wir natürlich in diesem Falle nicht die DDR als Maßstab nehmen und sagen, die haben das ja auch gemacht, also warum, im Kalten Krieg durften wir das dann auch, sondern wir waren natürlich ein Rechtsstaat und haben es trotzdem gemacht. Und es war allerdings so häufig – das finden Sie dann auch in den Akten – die saloppe Formulierung: Wir müssen es machen wie die DDR, nur besser. Und natürlich wurde in der DDR Post zensiert, und zwar auch in großem Maße. Und hier in der Bundesrepublik, das war ja bislang nicht bekannt, ist es ja wirklich auch flächendeckend im Umkehrschluss gemacht worden mit der DDR-Post oder auch mit der Post aus Berlin in die Bundesrepublik rein. Also insofern, wir haben unsere Maßstäbe für die Bewertung der Vorgänge in der Bundesrepublik ja auf unsere gesetzlichen Grundlage zu beziehen, Grundgesetz und sonstige gesetzliche Regelungen, und können uns nicht in diesem Falle mit der DDR vergleichen. So der Eindruck, wie er jetzt gerade anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag immer wieder vermittelt wird, als sei das die geglückte und glückliche Republik und Demokratie gewesen – war sie von Anfang an eben nicht. Die Belastungen waren deutlich größer und es hat wirklich einige schmerzhafte Prozesse gegeben, und dazu gehört eben auch die Verletzung von Grundrechten.
Timm: Das Briefgeheimnis war sehr löchrig, zumindest wenn die Post aus Osteuropa kam, in den Jahren bis 1968. Eine Recherche von Professor Dr. Josef Foschepoth, Historiker an der Uni in Freiburg, die derzeit für viel Aufsehen sorgt. Herzlichen Dank fürs Gespräch!
Foschepoth: Gerne.