An Krisen wachsen
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Er ist der dienstälteste Abgeordnete: Seit 1972 sitzt Wolfgang Schäuble für die CDU im Bundestag. Er war Kohls Cheforganisator, Innenminister, Finanzminister, jetzt Bundestagspräsident. Er hat Krisen erlebt und weiß, dass man daran wachsen kann.
Für viele war er einfach schon immer im Bundestag: Wolfgang Schäuble. Der CDU-Politiker sitzt seit fast 50 Jahren im Parlament, er prägte die deutsche Politik als Innenminister und als Finanzminister. Er war es, der 1990 den Vertrag zur deutschen Einheit verhandelte.
Heute, ganz Elder Statesman, ist er als Bundestagspräsident Hausherr im Reichstagsgebäude. "Grenzerfahrungen – Wie wir an Krisen wachsen" – der Titel seines neuen Buchs könnte auch über seinem wechselhaften Leben stehen.
Der Einserschüler
Wolfgang Schäuble wird am 18.09. 1942 in Freiburg geboren. Er ist der mittlere von drei Brüdern, sie wachsen im badischen Hornberg auf. Schon früh kommt die Politik in sein Leben: Der Vater ist CDU-Kommunalpolitiker, die Mutter eine klassische schwäbische Hausfrau: "Herzensgut, sie hat der Familie und den Kindern ihr Leben gewidmet." Wenn sie kränkelt, kümmert sich Sohn Wolfgang um den Haushalt und kocht.
Außerdem ist er ein Musterschüler, besonders in Mathe: "Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in Klassenarbeiten etwas anderes geschrieben habe als Einser."
Zum Leidwesen seines Mathelehrers studiert er Jura und Wirtschaftswissenschaften, arbeitet später in der Steuerverwaltung des Landes Baden-Württemberg.
Der Weg in die Politik
Im Studium lernt er seine Frau Ingeborg kennen. Als sie 1969 heiraten, engagiert sich Wolfgang Schäuble bereits in der Jungen Union. Beide ahnen noch nicht, dass sie bald eine Wochenendehe führen werden.
"Meine Frau hatte gesagt, sie würde mich nicht heiraten, wenn ich Abgeordneter werden würde. Und da habe ich gesagt: Nein, nein, werde ich auch nicht."
Doch dann wird Wolfgang Schäuble als Kandidat für die Bundestagswahl 1972 vorgeschlagen; mit Anfang 30 ist er der Hoffnungsträger.
"Da habe ich gesagt: Ich muss das machen, aber das wird sowieso nix. Und dann bin ich überraschend doch Kandidat geworden und ein paar Monate später war ich Abgeordneter." Heute wisse er, auf wie viel seine Frau wegen seiner Karriere verzichten musste, so der Politiker.
Das Attentat
Der 12. Oktober 1990 ändert das Leben von Wolfgang Schäuble und seiner Familie: Ein geistig Verwirrter schießt am Ende einer Wahlveranstaltung auf den damaligen Innenminister. Zwei Kugeln, eine in die Wange, eine ins Rückenmark.
Mit 47 Jahren sitzt er, der Zeit seines Lebens sportlich aktiv war, im Rollstuhl. "Meine unmittelbare Reaktion, als ich aus dem Koma aufgewacht bin, war, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie das gehen soll. Und dann geht es eben doch weiter."
Geholfen habe ihm, dass er politisch weiter aktiv sein konnte – und seine Familie.
Freiheit braucht Grenzen
Es sind Einschnitte wie das Attentat, aber auch politische Krisen, nicht zuletzt die Herausforderung im Zuge der Corona-Pandemie, die ihn bewogen, ein neues Buch zu schreiben: "Grenzerfahrungen – Wie wir an Krisen wachsen". Darin denkt Wolfgang Schäuble über drängende gesellschaftliche Fragen nach: über den Klimawandel, die soziale Spaltung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, ein Sterben in Würde.
Und er tut dies im Dialog mit Vordenker*innen, alle jünger als er. Der Austausch, auch der Streit inspiriere ihn, aber eine Gesellschaft lasse sich nur von Alt und Jung gemeinsam gestalten.
Deutlich wird dabei auch eine seiner politischen Grundfesten: "Meine Überzeugung ist, dass wir für jede freiheitliche Regelung Grenzen brauchen. Weil wir sonst Freiheit – so sind wir Menschen – immer selbst zerstören."
Letztlich müsse man doch schauen, welche Welt man den Kindern und Enkeln hinterlasse. Deshalb hat Wolfgang Schäuble das Buch seinen vier Enkelkindern gewidmet, von denen er viel lerne.
(sus)