Bundestagsvizepräsident zu Stuttgart 21: Bürger müssen sich stärker organisieren
Nur wenn sich die Menschen stäker politisch organisieren, sei eine stärkere Beteiligung der Bürger an Entscheidungsprozessen auch zwischen den Wahlen möglich, sagt Wolfgang Thierse mit Blick auf das umstrittene Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21".
Hanns Ostermann: Es ist schon ein mühsames Geschäft, die parlamentarische Demokratie. Die Parteien merken das immer wieder, wenn Probleme gelöst werden müssen und zugleich um die Gunst der Wählerin, des Wählers gekämpft wird. Besonders schwierig wird es bei Großprojekten wie "Stuttgart 21", dann reichen die vorgesehenen Instrumente ganz offensichtlich nicht mehr aus. Die Bürger mischen sich ein, und die Politik muss nach neuen Wegen suchen.
Zum dritten Mal saßen gestern Befürworter und Gegner zu den Schlichtungsverhandlungen zusammen, und Heiner Geißler vermittelte öffentlich. Könnte man die Bewegung gegen "Stuttgart 21" als eine Art Vitaminstoß für die Demokratie bezeichnen? Das habe ich den Vizepräsidenten des Bundestages Wolfgang Thierse von der SPD gefragt.
Wolfgang Thierse: Jedenfalls ist diese Bewegung eine öffentliche Widerlegung des allgemeinen Vorurteils, dass wir ein Volk von lauter Politik- und Demokratieverdrossenen seien.
Ostermann: Wo genau zeigen sich in Stuttgart Defizite möglicherweise auch der parlamentarischen Demokratie?
Thierse: Also zunächst mal ist offensichtlich geworden, dass das ganze Verfahren, das ja nun schon seit vielen Jahren läuft, offensichtlich nicht so transparent war, dass die Bürger rechtzeitig erkannt hätten, in welchem Umfang es sie selber betrifft. Sie haben erst ziemlich spät – ich hoffe, nicht zu spät – bemerkt, welch einschneidende Veränderungen mit diesen Entscheidungen verbunden sind, und wir müssen daraus lernen, dass selbst die eingeübten Verfahren der parlamentarischen Demokratie, also das Grundprinzip Legitimation durch geordnete Verfahren, so angelegt sein müssen, dass immer Transparenz herrscht und dass die Bürger die Möglichkeit sehen, wann und wie sie eingreifen können.
Ostermann: Transparenz und damit auch Kommunikation – die parlamentarischen Verfahren sehen Anhörungen mit Fachleuten und Interessenverbänden vor. Da müssten doch möglicherweise auch die Bürger stärker beteiligt werden, oder geht das gar nicht?
Thierse: Es ginge, wenn die Bürger natürlich sich organisieren würden, denn eine unorganisierte Masse, eine diffuse Masse – wer soll sie vertreten? Deswegen haben wir ja das Prinzip der repräsentativen Demokratie, dass durch geregelte Wahlverfahren die Bürger vertreten werden. Also müssen all das, was Bürgerinitiativen sind, die Formen der Zivilgesellschaft, sie müssen sich wohl stärker formieren, damit sie auch richtig in parlamentarische, in geregelte, in rechtmäßige Verfahren eingreifen können.
Ostermann: Umgekehrt: Was bedeutet das für die Politik, Herr Thierse? Das Beispiel mag hinken, ich erwähne es trotzdem: Wenn sich in der Schule zwei Schüler prügeln, dann werden sie immer häufiger zur Mediation geschickt. Sollte dieses Instrument nicht auch stärker verankert werden, auch im Gespräch mit den Organisationen, die Sie eben gerade angesprochen haben?
Thierse: Mal sehen, wie das in Stuttgart ausgeht, wie dieses Verfahren unter Führung von Heiner Geißler ausgeht. Keiner weiß es ja, ob eine wirkliche Lösung zu finden ist, wie ein Kompromiss überhaupt aussehen könnte. Das ist die erste Unsicherheit, und die zweite Unsicherheit ist: Wer sind die Mediatoren? Wer sind die neutralen Dritten, die über allen Konfliktparteiungen schweben? Auch das ist ziemlich unklar, nicht immer wird man einen älteren, weisen Herren finden, der bereit ist, Zeit und Nerven aufzuwenden und sich hinreichend bei allen Seiten möglicherweise unbeliebt zu machen. Also die Sehnsucht nach der über allen schwebenden, klugen, weisen Autorität, die ist uralt, aber diese Sehnsucht kann wohl kaum befriedigt werden. Es hilft nichts: Konflikte müssen ausgetragen werden.
Ostermann: Vergleicht man Stuttgart mit einem Labor – welche Anstöße ganz generell für die Demokratie erhoffen Sie sich?
Thierse: Also erstens: neue Anstrengungen zu mehr Transparenz in den geregelten Verfahren der parlamentarischen Demokratie und auch des Rechtsstaats. Zweitens: Wir müssen darüber reden, wie wir auf der einen Seite die verfasste Demokratie, die sich ja wirklich bewährt hat und die man nicht infrage stellen sollte, wie man dies einerseits verbindet mit mehr Möglichkeiten direkter Bürgerbeteiligung auch zwischen den Wahlen, also den Formen demokratischer Unmittelbarkeit, die natürlich immer auch etwas Irrlicht und Subjektives hat.
Also ich glaube, es ist vernünftig, auch auf Bundesebene solche Instrumente einzuführen, mindestens das der Volksinitiative und vielleicht auch – hoffentlich kriegen wir dafür eine Mehrheit – Volksbegehren und Volksentscheid – nicht, weil ich mir davon wahre Wunder erwarte, man kann ja in die Länder gucken, wo es diese Instrumente gibt, das ist nicht immer von Erfolg gekrönt, aber ich glaub, dass damit das politische Interesse und Engagement stärker geweckt wird, als wenn die Wähler immer nur alle vier oder fünf Jahre zur Wahl gehen können.
Ostermann: Wo sehen Sie da, bei dem, was Sie vorgeschlagen haben, Bündnispartner? In den anderen Parteien, bei den Gewerkschaften?
Thierse: Also bei den Gewerkschaften gewiss, und SPD, die Grünen, die Linkspartei sind dafür. Bei der FDP gibt es auch eine Geneigtheit, bisher sind all diese Vorschläge eher gescheitert an CDU und CSU. Und ich füge noch einmal hinzu: Es geht nicht um ein Wundermittel, aber wenn man, wofür ich bin, die Bundestagswahlperiode auf fünf Jahre verlängert, dann sollte man den Bürgern zwischen diesen Wahlterminen mehr Möglichkeiten geben, den Bundestag mit ihren Themen und ihren Gesetzentwürfen zu befassen, zum Beispiel, indem man die Volksinitiative einführt und erleichtert, durchaus im Sinne einer Massenpetition.
Wir sehen doch auch, dass über das Internet sozusagen dieses Instrument, sich einzumischen, sich zu melden beim Bundestag oder bei den anderen parlamentarischen Gremien, sehr stark angenommen wird. Da ist lebendige Demokratie im Gange.
Ostermann: Nach der dritten Schlichtungsrunde in Stuttgart der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse von der SPD. Herr Thierse, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Thierse: Machen Sie es gut, tschüss!
Zum dritten Mal saßen gestern Befürworter und Gegner zu den Schlichtungsverhandlungen zusammen, und Heiner Geißler vermittelte öffentlich. Könnte man die Bewegung gegen "Stuttgart 21" als eine Art Vitaminstoß für die Demokratie bezeichnen? Das habe ich den Vizepräsidenten des Bundestages Wolfgang Thierse von der SPD gefragt.
Wolfgang Thierse: Jedenfalls ist diese Bewegung eine öffentliche Widerlegung des allgemeinen Vorurteils, dass wir ein Volk von lauter Politik- und Demokratieverdrossenen seien.
Ostermann: Wo genau zeigen sich in Stuttgart Defizite möglicherweise auch der parlamentarischen Demokratie?
Thierse: Also zunächst mal ist offensichtlich geworden, dass das ganze Verfahren, das ja nun schon seit vielen Jahren läuft, offensichtlich nicht so transparent war, dass die Bürger rechtzeitig erkannt hätten, in welchem Umfang es sie selber betrifft. Sie haben erst ziemlich spät – ich hoffe, nicht zu spät – bemerkt, welch einschneidende Veränderungen mit diesen Entscheidungen verbunden sind, und wir müssen daraus lernen, dass selbst die eingeübten Verfahren der parlamentarischen Demokratie, also das Grundprinzip Legitimation durch geordnete Verfahren, so angelegt sein müssen, dass immer Transparenz herrscht und dass die Bürger die Möglichkeit sehen, wann und wie sie eingreifen können.
Ostermann: Transparenz und damit auch Kommunikation – die parlamentarischen Verfahren sehen Anhörungen mit Fachleuten und Interessenverbänden vor. Da müssten doch möglicherweise auch die Bürger stärker beteiligt werden, oder geht das gar nicht?
Thierse: Es ginge, wenn die Bürger natürlich sich organisieren würden, denn eine unorganisierte Masse, eine diffuse Masse – wer soll sie vertreten? Deswegen haben wir ja das Prinzip der repräsentativen Demokratie, dass durch geregelte Wahlverfahren die Bürger vertreten werden. Also müssen all das, was Bürgerinitiativen sind, die Formen der Zivilgesellschaft, sie müssen sich wohl stärker formieren, damit sie auch richtig in parlamentarische, in geregelte, in rechtmäßige Verfahren eingreifen können.
Ostermann: Umgekehrt: Was bedeutet das für die Politik, Herr Thierse? Das Beispiel mag hinken, ich erwähne es trotzdem: Wenn sich in der Schule zwei Schüler prügeln, dann werden sie immer häufiger zur Mediation geschickt. Sollte dieses Instrument nicht auch stärker verankert werden, auch im Gespräch mit den Organisationen, die Sie eben gerade angesprochen haben?
Thierse: Mal sehen, wie das in Stuttgart ausgeht, wie dieses Verfahren unter Führung von Heiner Geißler ausgeht. Keiner weiß es ja, ob eine wirkliche Lösung zu finden ist, wie ein Kompromiss überhaupt aussehen könnte. Das ist die erste Unsicherheit, und die zweite Unsicherheit ist: Wer sind die Mediatoren? Wer sind die neutralen Dritten, die über allen Konfliktparteiungen schweben? Auch das ist ziemlich unklar, nicht immer wird man einen älteren, weisen Herren finden, der bereit ist, Zeit und Nerven aufzuwenden und sich hinreichend bei allen Seiten möglicherweise unbeliebt zu machen. Also die Sehnsucht nach der über allen schwebenden, klugen, weisen Autorität, die ist uralt, aber diese Sehnsucht kann wohl kaum befriedigt werden. Es hilft nichts: Konflikte müssen ausgetragen werden.
Ostermann: Vergleicht man Stuttgart mit einem Labor – welche Anstöße ganz generell für die Demokratie erhoffen Sie sich?
Thierse: Also erstens: neue Anstrengungen zu mehr Transparenz in den geregelten Verfahren der parlamentarischen Demokratie und auch des Rechtsstaats. Zweitens: Wir müssen darüber reden, wie wir auf der einen Seite die verfasste Demokratie, die sich ja wirklich bewährt hat und die man nicht infrage stellen sollte, wie man dies einerseits verbindet mit mehr Möglichkeiten direkter Bürgerbeteiligung auch zwischen den Wahlen, also den Formen demokratischer Unmittelbarkeit, die natürlich immer auch etwas Irrlicht und Subjektives hat.
Also ich glaube, es ist vernünftig, auch auf Bundesebene solche Instrumente einzuführen, mindestens das der Volksinitiative und vielleicht auch – hoffentlich kriegen wir dafür eine Mehrheit – Volksbegehren und Volksentscheid – nicht, weil ich mir davon wahre Wunder erwarte, man kann ja in die Länder gucken, wo es diese Instrumente gibt, das ist nicht immer von Erfolg gekrönt, aber ich glaub, dass damit das politische Interesse und Engagement stärker geweckt wird, als wenn die Wähler immer nur alle vier oder fünf Jahre zur Wahl gehen können.
Ostermann: Wo sehen Sie da, bei dem, was Sie vorgeschlagen haben, Bündnispartner? In den anderen Parteien, bei den Gewerkschaften?
Thierse: Also bei den Gewerkschaften gewiss, und SPD, die Grünen, die Linkspartei sind dafür. Bei der FDP gibt es auch eine Geneigtheit, bisher sind all diese Vorschläge eher gescheitert an CDU und CSU. Und ich füge noch einmal hinzu: Es geht nicht um ein Wundermittel, aber wenn man, wofür ich bin, die Bundestagswahlperiode auf fünf Jahre verlängert, dann sollte man den Bürgern zwischen diesen Wahlterminen mehr Möglichkeiten geben, den Bundestag mit ihren Themen und ihren Gesetzentwürfen zu befassen, zum Beispiel, indem man die Volksinitiative einführt und erleichtert, durchaus im Sinne einer Massenpetition.
Wir sehen doch auch, dass über das Internet sozusagen dieses Instrument, sich einzumischen, sich zu melden beim Bundestag oder bei den anderen parlamentarischen Gremien, sehr stark angenommen wird. Da ist lebendige Demokratie im Gange.
Ostermann: Nach der dritten Schlichtungsrunde in Stuttgart der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse von der SPD. Herr Thierse, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Thierse: Machen Sie es gut, tschüss!