Brauchen wir eine Wahlpflicht?
Darüber diskutiert Matthias Hanselmann
am 23.09.17 von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr mit Thorsten Faas und Nicol Ljubic. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 0800 2254 2254, per E-Mail unter gespraech@deutschlandfunkkultur.de – sowie auf Facebook und Twitter.
Brauchen wir eine Wahlpflicht?
Am Sonntag ist es wieder soweit: Rund 61,5 Millionen Bürger sind aufgerufen, einen neuen Bundestag zu wählen. Aber wie viele werden ihr Wahlrecht wahrnehmen? Immer weniger machen ihr Kreuzchen. Wie kann man der Wahlunlust entgegensteuern?
Morgen ist es wieder soweit: Rund 61,5 Millionen Bürger sind aufgerufen, einen neuen Bundestag zu wählen. Aber wie viele werden ihr Wahlrecht wahrnehmen? Immer weniger machen ihr Kreuzchen: 2013 gingen fast 18 Millionen nicht zur Wahl; die Beteiligung lag bei 71,5 Prozent; 2009 waren es magere 70,8 Prozent – ein Negativrekord. Was sind die Gründe für diese grassierende Wahlunlust? Wie kann man ihr entgegensteuern? Brauchen wir eine Wahlpflicht?
Thorsten Faas
"Die Wahlbeteiligung ist ein wichtiger Indikator für die Gesundheit der Demokratie", sagt Prof. Dr. Thorsten Faas, Politikwissenschaftler an der Johannes-Guttenberg-Universität Mainz. "In dem Maße, in dem sie rückläufig ist, wird das Gebot der Gleichheit verletzt. Dass es also nicht nur ein gleiches Wahlrecht gibt, sondern dass es möglichst alle Wahlberechtigten auch nutzen."
Wahlpflicht widerspreche der Wahlfreiheit
Seine Beobachtung: "Es gibt eine Trilogie: Menschen wählen nicht, weil sie nicht wollen, nicht können – oder, weil sie niemand gefragt hat." Es sei die Aufgabe der Parteien und der Politiker, den Menschen klarzumachen, dass es sich lohne, wählen zu gehen und sich für eine Partei zu entscheiden. Dafür müsse aber der Wahlkampf bei den Bürgern ankommen – daran hapere es.
Eine Wahlpflicht würde zwar mit Sicherheit die Wahlbeteiligung erhöhen, so der Wahlforscher; das zeigten Erfahrungen aus anderen Ländern. Sie widerspreche aber der im Grundgesetz verankerten Wahlfreiheit.
Eine Wahlpflicht würde zwar mit Sicherheit die Wahlbeteiligung erhöhen, so der Wahlforscher; das zeigten Erfahrungen aus anderen Ländern. Sie widerspreche aber der im Grundgesetz verankerten Wahlfreiheit.
Nicol Ljubic
"Eine Wahlpflicht nimmt die Parteien und die Politiker aus der Verantwortung, um die Stimmen zu werben", sagt Nicol Ljubic. Der 1971 in Zagreb geborene Schriftsteller und freie Autor ist Mitbegründer der Initiative "Demokratie +", die sich für mehr politische und demokratische Beteiligung einsetzt. "Demokratie lebt von Teilhabe, vom Mitmachen. Und es sollte das primäre Ziel der demokratischen Parteien sein, Menschen nicht nur Kreuzchen setzen zu lassen, sondern sie zur Mitgestaltung zu motivieren, indem sie ihnen Einfluss auf die Entscheidungsfindung ermöglichen. Und sie so vor dem Gefühl bewahren, nicht gehört zu werden."
"Am Wahlabend wird die Demokratie verraten"
Stattdessen werde Politik immer mehr ritualisiert – und entferne sich von den Bürgern. Bestes Beispiel die Wahlabende: "Am Wahlabend wird die Demokratie verraten. Zur besten Sendezeit, im Hauptprogramm, jedes Jahr wieder, bei jeder Wahl. Sie wird verraten von den Spitzenpolitikern der Parteien, die unser Land regieren." Statt sich einzugestehen, dass erneut fast 30 Prozent nicht zur Wahl gegangen sind, böten sie die ewigen Dankesfloskeln. "An jedem Wahlabend habe ich die Hoffnung, dass einer der Spitzenpolitiker endlich mal sagt, was gesagt werden müsste: 'Diese Wahl ist eine Niederlage für uns alle, weil wir ein Drittel der Wähler nicht erreicht haben. Sich in irgendeiner Form zu freuen, verbietet sich angesichts dieser verheerend niedrigen Wahlbeteiligung.' Das wäre mal überraschend und ganz im Sinne der Demokratie."